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NAHOST/1033: Irak - "Kein schlimmerer Ort als Tuz", Turkmenen in ständiger Lebensgefahr (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 23. April 2014

Irak: 'Kein schlimmerer Ort als Tuz' - Turkmenen in ständiger Lebensgefahr

von Karlos Zurutuza


Bild: © Karlos Zurutuza/IPS

Ein Polizeiposten am Eingang von Tuz Khormato
Bild: © Karlos Zurutuza/IPS

Tuz Khormato, Irak, 23. April (IPS) - "Ich traue mich nicht, die Mörder beim Namen zu nennen. Sie haben es auf uns, die Turkmenen, abgesehen", meint Ahmed Abdulla Muhtaroglu aus einem vorwiegend von Turkmenen bewohnten Viertel von Tuz Khormato etwa 170 Kilometer nördlich der irakischen Hauptstadt Bagdad. Auf dem Tisch neben ihm befindet sich ein Bild seines Bruders, der im letzten Jahr einem Bombenanschlag zum Opfer fiel.

Die irakischen Turkmenen sind Nachfahren von Angehörigen des Turkvolks, die in Scharen ins alte Mesopotamien, dem heutigen Irak, eingewandert sind. Die Zahl der turkmenischen Iraker, denen sowohl schiitische als auch sunnitische Muslime zuzuordnen sind, geben internationale Organisationen mit 500.000 bis 600.000 an. Die Mitglieder der Ethnie selbst sprechen von 2,5 Millionen.

"Es gibt für Turkmenen keinen schlimmeren Ort auf der Welt als Tuz", meint Muhtaroglu, der örtliche Vorsitzende der Turkmenischen Front, der größten Turkmenenpartei. "Wir sind die Zielscheibe einer großangelegten Vertreibungskampagne. Etwa 500 turkmenische Familien haben allein im letzten Jahr die Stadt verlassen."

Der bisher letzte Anschlag auf die 60.000 Einwohner zählende Stadt erfolgte am 8. April und kostete vier Menschenleben. Im Januar 2013 waren während einer Trauerfeier 42 Turkmenen einem Selbstmordattentat zum Opfer gefallen.


Geopolitischer Eingriff mit Folgen

Der ehemalige irakische Machthaber Saddam Hussein (1979-2003) hatte Tuz Khormato 1976 von dem hauptsächlich von Kurden bewohnten Kirkuk, 230 Kilometer nördlich von Bagdad, abgetrennt und der Provinz Salahadin zugeschlagen. Ziel war, die demographische Zusammensetzung des ölreichen Kirkuk zugunsten von Arabern zu verschieben.

Heute gehören sowohl Kirkuk als auch Tuz zu den sogenannten 'umstrittenen Gebieten', auf die Araber und Kurden, die Regierung in Bagdad und die kurdische Regierung in Erbil Ansprüche erheben. Der Status dieser Territorien sollte 2007 durch einen Volksentscheid geklärt werden, der jedoch bis heute auf sich warten lässt.

Hanna Muhamed hat sich als Kandidatin für die Parlamentswahlen am 30. April aufstellen lassen. Wie sie gegenüber IPS erklärt, wäre eine unabhängige Region die beste Lösung für die Turkmenen. "Wir wurden dazu gezwungen, uns unser eigenes Gefängnis zu bauen, um überleben zu können", meinte die 40-Jährige während einer Wahlkampfveranstaltung außerhalb der Stadt, die durch etliche bewaffnete Kontrollpunkte gesichert wird.

Der Polizist Samir, der seinen Nachnamen aus Sicherheitsgründen nicht nennen will, berichtet, dass die provisorische Mauer, die Tuz umgibt, vor mehr als zwei Jahren errichtet wurde, um die Menschen vor Übergriffen zu schützen. Doch die Präventivmaßnahme reiche nicht aus, um die tödlichen Übergriffe zu verhindern.

Einige Meter entfernt zeigt Mohamed Hamid auf die Stelle, an der seine zehnjährige Tochter Hanna im vergangenen Jahr ums Leben kam. Die Bombe war für das gegenüberliegende Gebäude bestimmt gewesen, in dem eine turkmenische Familie lebt. Zwei Mitglieder der Familie wurden bei dem Anschlag verletzt.

Die Straßen sind nicht asphaltiert. Das macht es für Ahmed, einem weiteren Bewohner der Stadt, leicht, einen Graben für ein Abflussrohr auszuheben, das die innerhalb der Stadtmauer anfallenden Abwässer nach außen ableiten soll. So will er sicherstellen, dass seine Neffen nicht krank werden, wenn sie draußen spielen. Der Vater der Kinder war vor einem halben Jahr getötet worden.

Im Umfeld der Imam-Ahmed-Moschee ist die schiitische Ikonographie allgegenwärtig. Zu sehen sind Bilder von Imam Ali, den die Turkmenen als legitimen Nachfahren des Propheten Mohamed betrachten und verehren, und die Konterfeis von Moqtada al-Sadr, einem der wichtigsten politischen und religiösen Führer der Post-Saddam-Hussein-Ära. Doch auch die Fotos der Attentatsopfer sind zu sehen. "Terroristen haben weder Religion noch Rasse", kommentiert der Polizist Massoud. Ein Satz, den man in dieser Stadt häufig hört.

Aus einem Bericht des 'Institute for International Law and Human Rights' aus dem letzten Jahr geht hervor, dass irakische Turkmenen von Kurden und der Zentralregierung gleichermaßen unter Druck gesetzt werden, weil sie in den umstrittenen Territorien leben. Der Organisation mit Sitz in Bagdad, Washington und Brüssel zufolge werden die Turkmenen aus religiösen Gründen sowohl von schiitischen als auch von sunnitischen Milizen attackiert. Besonders leichte Opfer der Gewalt sind demnach Frauen.


Zwischen den Fronten

"Wir leben eingezwängt zwischen Arabern und Kurden. Mit der einen Seite ein Abkommen zu schließen, würde Ärger mit der anderen Seite bedeuten", schildert Arsad Salihi, einer von sieben turkmenischen Abgeordneten, das Dilemma seiner Gemeinschaft. Er schließt eine mögliche Integration in die autonome Kurdenregion nicht aus. Doch müssten die Kurden mit den fortgesetzten und willkürlichen Schikanen seiner Ethnie aufhören.

Khalid Schwani, ein kurdischer Abgeordneter, der in Bagdad für die Patriotische Union Kurdistans im Parlament sitzt, weist diese Vorwürfe zurück. Er beschuldigt die Regierung in Bagdad, eine Lösung des Konflikts um die umstrittenen Gebiete zu hintertreiben. Seine Partei werde "direkte Abkommen" sowohl mit den Arabern als auch mit den Turkmenen zustande bringen, versichert er. "Tuz wird an Kirkuk zurückfallen und im Gegenzug dazu wird Salahadin die Kontrolle über Hawija erhalten." Hawija ist eine von Arabern dominierte Stadt südwestlich von Kirkuk.

Was immer auch die Zukunft bringen mag, der Maurer Ihmat Altun will nicht hierbleiben, um sie zu erleben. "Ich ziehe mit meiner Familie nach Istanbul", sagt er. "Ich werde nicht abwarten, bis man uns in diesem Schlachthaus umbringt." (Ende/IPS/kb/2014)


Link:

http://www.ipsnews.net/2014/04/imprisoning-stay-safe/

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IPS-Tagesdienst vom 23. April 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. April 2014