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NAHOST/440: Gaza - "Sie kennen jetzt überhaupt keine Schranken mehr" (EI)


The Electronic Intifada - 3. Januar 2009

Tagebücher: Live aus Palästina
"Sie kennen jetzt überhaupt keine Schranken mehr"

Von Eva Bartlett, 3. Januar 2009


In dem dichten Schleier aus Staub und Qualm des jüngsten F-16-Angriffs sorgt eine Familie selbst für ihre Evakuierung. Der Fahrdienstkoordinator des Palästinensischen Roten Halbmondes in Jabaliya erhält Anruf auf Anruf von Anwohnern in Todesangst, die aus ihren Häusern fliehen. Es ist ein neues Jahr, eine neue Nakhba und ein altes Szenario: Israel bombardiert wieder einmal Gaza, und die Welt steht tatenlos daneben, sitzt auf einem Zaun, der sich ganz erheblich von dem elektrischen Grenzzaun unterscheidet, der Gaza in einen Käfig verwandelt, oder von der Trennmauer, die die Westbank teilt und zum Ghetto macht. Die Welt sitzt auf dem Zaun, während sie Israels Massaker an einer Zivilbevölkerung rechtfertigt, die bereits an der Blockade stirbt.

Wir sind heute nacht mit vier Rettungswagen unterwegs, gestern waren es zwei. Die Wagen winden sich geschickt die verdunkelten Straßen einer erzeugten Geisterstadt entlang - gleich allen Straßen in Gaza - und weichen den neuen Geröllhaufen aus.

Es ist absolut nicht möglich, nicht zu glauben, es ist ein Massaker. "Sie kennen jetzt überhaupt keine Schranken mehr," berichten die Sanitäter. "Sie drehen durch."

Wir kommen an den Gerippen von Häusern, Moscheen und Schulen vorbei und sehen Ströme von Anwohnern, die in Todesangst um ihr Leben fliehen. Und viele mehr begannen heute morgen die Flucht nach einer weiteren Nacht der Bombenangriffe auf und um ihre Häuser. Ich habe den zurückbleibenden Schutt gesehen. An diesem Morgen, als die Israelis Flugblätter abwarfen, die ihr Vorhaben bekanntgaben, die nördlichen Regionen als kollektive Bestrafung zu bombardieren, glaubten die Anwohner ihnen. Die Lichter der Stationen des Roten Halbmonds in Jabaliya sind ausgegangen, der Strom ist gerade ausgefallen. In der Dunkelheit und in der Kälte sind die Explosionen draußen noch schärfer zu hören.

Beißender Qualm der Bombardierung vergiftet die Luft. Das Gefühl, unausweichlich umzingelt zu sein von Kampfflugzeugen, Panzern, Bulldozern und Kriegsschiffen wird noch stärker, als uns die Nachrichten über die jüngsten Angriffe um Gaza erreichen: Ein Waisenhaus in Gaza-Stadt in der Nähe der Palästinensischen Moschee - begleitet von dem Gerücht, daß der Heilige Ort der nächste sein wird, was mindestens zehn zerstörte Moscheen bedeutet. Die Zahl der Toten und Verwundeten durch den heutigen Angriff auf die Ibrahim al-Makadma-Moschee beträgt elf beziehungsweise fünfzig und steigt weiter.

Die Hilferufe aus der Nordwestregion und von 500 Kilometer östlich dieser Notfallstation können nicht beantwortet werden. Die Ärzte müssen sich über das Internationale Rote Kreuz mit Israel abstimmen. Eine bittere Ironie: Der Besatzer verweigert die Erlaubnis zu gehen, der Besatzer marschiert ein, der Einmarschierte tötet und verwundet und - man kann es nicht glauben - hat die Macht, die Erlaubnis dafür zu erteilen, jene zu bergen, die der Einmarschierte verletzt oder getötet hat.

Mein Artikel endet mit nicht endendem Unglauben - angesichts des Dröhnens der Explosionen und der Apache-Propeller, des Stakkatos nächtlichen Geschützfeuers und der Detonationen an unbekannten Zielen mit unbekanntem Ausgang.


Eva Bartlett ist eine kanadische Menschenrechtsanwältin und freie Journalistin. Sie hat 2007 acht Monate lang in Gemeinden der Westbank, vier Monate lang in Kairo und am Grenzübergang Rafah gelebt. Zur Zeit befindet sie sich im Gazastreifen, nachdem sie im November mit dem dritten Schiff der Free Gaza-Bewegung angekommen ist. Sie arbeitet für die Internationale Solidaritätsbewegung in Gaza und begleitet Rettungswagen als Augenzeugin und dokumentiert die aktuellen israelischen Luftangriffe und die Bodenoffensive im Gazastreifen.


Übersetzung aus dem Englischen: Redaktion Schattenblick
Orginalartikel unter:
electronicintifada.net/v2/article10106.shtml


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Quelle:
The Electronic Intifada, 3. Januar 2009
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Januar 2009