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NAHOST/505: Ost-Jerusalem - Scheikh Jarrah schließt sich gegen Massenvertreibung zusammen (EI)



The Electronic Intifada - Diaries

Einwohner von Scheikh Jarrah schließen sich gegen die Massenvertreibungen aus ihren Häusern zusammen

Jeff Pickert schreibt aus dem besetzten Ost-Jerusalem - Live aus Palästina, 7. April 2009

Ein Mitglied der Familie al-Ghawe steht neben einem Poster in seinem bedrohten Haus im Viertel Scheikh Jarrah.

Ein Mitglied der Familie al-Ghawe steht neben einem Poster in
seinem bedrohten Haus im Viertel Scheikh Jarrah.

"Wir sind wie die Wurzeln eines Baumes. Die Israelis können Kerben in uns schlagen, aber wir werden niemals sterben. Wir werden nicht aus Jerusalem verpflanzt. Ich werde dieses Haus nicht verlassen", erklärt Maher Hanun vor den versammelten Mitgliedern der palästinensischen Gemeinde, die mit ihren israelischen und internationalen Unterstützern den Raum füllen. Hanun ist einer von 51 Bewohnern des Viertels Scheikh Jarrah im besetzten Ost-Jerusalem, die in zwei von akuter Räumung durch die israelischen Behörden bedrohten Wohngebäuden leben.

Die Stimmung ist angespannt, denn über 25 Menschen drängen sich in dem kleinen Raum in Hanuns Haus, um den Widerstand gegen die Vertreibung aus ihrem Domizil zu planen. Palästinensische Ortsansässige, im Komitee Scheikh Jarrah zusammengeschlossen, haben Aktivisten der internationalen Solidarität eingeladen, zu kommen und ihren Kampf zu unterstützen. Israelis und Internationale aus über zehn Ländern sitzen auf Stühlen und auf dem Fußboden, während Hanun ihnen die Geschichte erzählt. Nach seiner Ansprache bilden sie Gruppen, um sich auf die bedrohten Wohnhäuser zu verteilen. Sowohl die Familien als auch die Aktivisten, die sich zur Unterstützung zusammengefunden haben, sind entschlossen, so lange wie möglich in den Häusern zu bleiben, wenn die Polizei kommt, um die Räumung vorzunehmen.

Die Menschen, die in den Wohngebäuden der Familien al-Ghawe und Hanun leben, sollen in dieser Woche gewaltsam daraus vertrieben werden, die ihnen durch das israelische Gericht zugestellten Papiere sind vom 15. bis zum 22. März gültig. Die Gerichte haben diese Räumungen mit der Feststellung gerechtfertigt, es gebe Streit um das Recht an dem Land, auf dem die Häuser gebaut sind. Die Häuser sind aber im Jahr 1956 als gemeinsames Bauprojekt der UNO-Agentur für Palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) und der jordanischen Regierung entstanden, 11 Jahre, bevor Israel Ost-Jerusalem besetzte. Die Häuser wurden den beiden Familien übereignet, die 1948 während der von Palästinensern sogenannten Nakba oder Katastrophe zu Flüchtlingen wurden, als man die Palästinenser, die auf dem Gebiet des späteren Israel lebten, vertrieb und enteignete.

Und nun schwebt die Bedrohung durch eine neue Nakba über den Köpfen dieser Familien. Israelische Siedler, die nach Scheikh Jarrah gezogen sind, erheben mit gefälschten Papieren Anspruch auf das Land. Die Familien Hanun und al-Ghawe haben ihre gültigen Dokumente vorgelegt, und der israelische Richter hat noch nicht darüber beschieden. Trotzdem wird die Räumung vorangetrieben, auch wenn noch keine offizielle Entscheidung darüber gefällt wurde, wen die israelischen Gerichte als die wahren Besitzer anerkennen.

Beide Familien, Hanun und al-Ghawe, sind im Jahr 2002 schon einmal gewaltsam aus ihren Häusern vertrieben worden und lebten daraufhin vier Monate lang in Sichtweite ihrer Häuser in Zelten. Dieses traumatische Erlebnis ist ihnen und auch ihren Kindern in lebendiger Erinnerung geblieben. Sie wappnen sich gegen die erneute Vertreibung, aber der Kummer und die Sorge sind in beiden Haushalten deutlich zu merken. Familienmitglieder haben viele schlaflose Nächte auf die Polizei wartend verbracht, ohne zu wissen, in welcher Nacht genau sie kommen würden. Frauen im Haus der Familie al-Ghawe erzählen oft und sehr eindrücklich, wie die Polizei ihre kleinen Kinder bei der letzten Vertreibung aus einem Fenster im zweiten Stock geworfen hat.

Ein Transparent mit der Aufschrift 'Stopt die ethnische Säuberung' hängt an einem der Häuser, die zur Räumung bestimmt sind.

Ein Transparent mit der Aufschrift "Stopt die ethnische
Säuberung" hängt an einem der Häuser, die zur Räumung
bestimmt sind.

Abgesehen von den Familien al-Ghawe und Hanun sind 25 weitere Haushalte in Scheikh Jarrah von der Räumung bedroht, auch wenn die israelischen Gerichte noch keine offiziellen Aufträge erteilt haben. Im November 2008 wurde die Familie al-Kurd trotz breiter öffentlicher Unterstützung und politischen Drucks amerikanischer und europäischer Diplomaten auf die Israelis, die Räumungsbefehle zu stoppen, mitten in der Nacht aus ihrem Haus getrieben.[1] Die Familie al-Kurd hat mitten in Scheikh Jarrah ein Protestzelt aufgeschlagen, von dem aus sie das Recht fordert, in ihr Haus zurückzukehren. Die israelische Polizei hat das Zelt fünfmal mit der Begründung zerstört, es handele sich um eine "illegale Struktur", obwohl es auf pälästinensischem Privatboden steht.

Jetzt auf's neue von Vertreibung bedroht, organisieren sich die Mitglieder der Gemeinde Scheikh Jarrah. "Stopt die ethnische Säuberung" ist ihre Hauptbotschaft an die israelischen Behörden und an die breitere, internationale Gemeinschaft. Diese Worte sind auf Postern zu lesen, die in den Fenstern von Läden in der Nachbarschaft hängen, auf riesigen Transparenten über den Hauseingängen der Familien al-Ghawe und Hanun sowie auf den T-Shirts, die Aktivisten im Viertel verteilt haben.

Die vergangene Woche erlebte einen Ansturm reger Aktivitäten in der Nachbarschaft. Das Komitee Scheikh Jarrah hat, unterstützt von der Koalition für Jerusalem, der Internationalen Solidaritätsbewegung und anderen Menschenrechtsorganisationen, eine Unzahl von Strategien zur Bekämpfung der Räumungsbefehle entfaltet. Die ganze Woche über sind Amtsträger aus dem Ausland, Journalisten und konsularische Vertreter zahlreicher europäischer Länder gekommen, und sogar Live aus Palästina, 7. April 2009 Knesset-Abgeordnete haben die Häuser und das Protestzelt besucht, um ihre Unterstützung für die Bewohner von Scheikh Jarrah zu demonstrieren. Das Komitee hat Pressekonferenzen abgehalten, Demonstrationen vor Gerichtsgebäuden organisiert, in denen Anhörungen stattfanden, und Erklärungen verfaßt, die die Räumungsanordnungen verurteilen.

Die Gemeinde hat darüber hinaus versucht, als Beitrag zum Festival "Jersualem, Hauptstadt der Arabischen Kultur", am 23. März eine Veranstaltung am Protestzelt zu organisieren. Obwohl die israelischen Behörden das Festival im besetzten Ost-Jerusalem verboten, setzen sich die Organisatoren weiter über das Verbot hinweg und feiern das reiche palästinensische Erbe Jerusalems. Anwohner von Scheikh Jarrah haben sich auch zusammengefunden, um gegen die drohenden Räumungen zu protestieren, die zu der verstärkten Repression palästinensischer Gemeinschaften in Ost-Jerusalem dazukommen. Die Polizei hinderte Bewohner von Scheikh Jarrah gewaltsam daran, in Verbindung mit dem Festival in Gemeinschaft vor dem Zelt zu beten. Teilnehmer wurden heftig verprügelt und acht Menschen verhaftet. In der folgenden Woche verhaftete die Polizei einen weiteren Anwohner, weil er sich weigerte, eine palästinensische Flagge abzunehmen, die im Zelt hing.

Mitglieder des Komitees Scheikh Jarrah betrachten ihren Kampf gegen die Vertreibung als Teil eines größeren Kampfes gegen die Enteignung von Palästinensern in Ost-Jerusalem. Auch den nahegelegenen Ortsteilen Silwan, Beit Hanina und dem Flüchtlingslager Schufat stehen großangelegte Hauszerstörungen und Zwangsräumungen bevor. Allein im Viertel al-Bustaan in Silwan sind 88 Häuser zum Abriß vorgesehen. Die Bewohner von al-Bustaan haben ein ähnliches Protestzelt errichtet wie in Scheikh Jarrah [2], und dieses Widerstandsmodell scheint sich zu auszubreiten.

Zur Zeit warten Familien und Aktivisten jede Nacht darauf, daß die Polizei kommt. Sie wechseln sich in Schichten ab, um sicherzustellen, daß in jedem Haus jemand auf den Beinen ist, wenn die israelischen Behörden kommen. Einige Familienmitglieder haben in Erwartung der Razzien alle Möbel entfernt, schlafen aber weiter auf Matratzen auf dem Fußboden. Die Botschaft ist deutlich: Sie werden im Angesicht dieses Unrechts nicht still und leise gehen.

Alle Bilder von Jeff Pickert.

Jeff Pickert ist Amerikaner und arbeitet seit vier Monaten in der Westbank und im besetzten Ost-Jerusalem.


Übersetzung aus dem Englischen:
Redaktion Schattenblick

Englischer Originaltext:
http://electronicintifada.net/v2/article10454.shtml

© Jeff Pickert

[1] http://electronicintifada.net/v2/article9978.shtml
[2] http://electronicintifada.net/v2/article10381.shtml


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Quelle:
The Electronic Intifada, 7. April 2009
MECCS/EI Project
1507 E. 53rd Street, #500
Chicago, IL 60615, USA
Fax: 001-(646) 403-3965
E-Mail: info@electronicIntifada.net
Internet: http://electronicintifada.net

übersetzt vom und veröffentlicht im Schattenblick zum 25. April 2009