Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → AUSLAND

NAHOST/607: Tunnelwirtschaft im Gaza-Streifen (Der Schlepper)


Der Schlepper Nr. 49 - Winter 2009
Quartalsmagazin für Migration und Flüchtlingssolidarität in Schleswig-Holstein

Benzin, Autos, Esel, Kühlschränke, Fisch und Medikamente ...
Tunnelwirtschaft im Gaza-Streifen

Von Norman Paech


Der mit der neuen Legislaturperiode aus dem Parlament ausgeschiedene Bundestagsabgeordnete der Fraktion Die Linke, Prof. Norman Paech, bereiste Anfang Oktober 2009 ein letztes Mal als Mitglied des Auswärtigen Ausschusses Israel und Palästina. Ihm gelang auch ein Besuch des Anfang des Jahres durch militärische Intervention schwer zerstörten Gaza-Streifens.


Eines der zentralen Probleme des Gaza-Streifens ist der Finanzboykott, der auch von privaten Spendenorganisationen nicht aufgewogen werden kann, da mit ihren Spenden keine langfristige Finanzplanung möglich ist.


Tödlicher Mangel an humanitären Gütern

Bis zu 80 wichtige Medikamente sowie ca. 120 medizinische Instrumente fehlen vollkommen. Selbst im Ausland gekaufte Ersatzteile und Ausrüstungen, von Rollstühlen bis zu Röntgengeräten, können nicht importiert werden, da sie nach israelischen Kriterien nicht zu den humanitären Gütern gehören, die über die Grenze dürfen. Auf Grund der unzureichenden Behandlungsmöglichkeiten der Krankenhäuser müssen täglich zwischen 60 bis 80 Patienten in die Nachbarländer Israel, Jordanien und Ägypten sowie in die Westbank geschickt werden. Die Schließung der Grenzen hat dazu geführt, dass 360 Patienten starben, weil sie den Gazastreifen nicht verlassen konnten. Der Krieg hat nicht nur 1400 Tote, sondern auch an die 6000 zum Teil schwer Verwundete und andauernd Behinderte hinterlassen. Den psychischen Folgen des Krieges und den starken Traumatisierungen steht man schon allein wegen des fehlenden ärztlichen Personals machtlos gegenüber. 60 bis 70 Prozent der Kinder leiden trotz der Versorgungsleistungen der UNWRA an Unterernährung und Anämie.


Abwasser- und Energieprobleme

Eine zusätzliche Gefährdung der Gesundheit rührt von dem völlig überalterten und durch den Krieg weithin zerstörten Abwassersystem, welches auf Grund des israelischen Boykotts von Baumaterialien nicht saniert werden kann. Die Abwässer fließen ungeklärt ins Meer oder werden in großen Abwasserlagunen aufgefangen, aus denen sie oft überfließen und die Umgebung verpesten. Die Pumpstationen versagen, die Gullys laufen über und das stinkende Wasser ergießt sich in die Straßen. Deutschland hatte mit einigen anderen europäischen Staaten eine Kläranlage für 70 Mio. Euro in Gaza bauen wollen. Das Projekt wurde 2007 nach der Machtübernahme der Hamas eingestellt. Nun stehen nur noch 10 Mio. Euro für Einzelprojekte zur Verfügung, die jedoch wegen Materialmangels nicht begonnen werden können.

Ein weiteres zentrales Problem ist die vollkommen unzureichende Versorgung mit Energie. Israel hat seit November 2008 die Lieferung von Benzin und Diesel gestoppt. Das einzige Kraftwerk Gazas, welches etwa 55 Prozent des Stroms produziert, wird von der EU mit Diesel beliefert. Insgesamt ist jedoch die Stromversorgung so knapp, dass die Spannung permanent schwankt und der Strom im ganzen Gazastreifen regelmäßig zwischen 18 und 20 Uhr zusammenbricht. Die Generatoren sind nicht immer in der Lage, den fehlenden Strom zu liefern, denn sie benötigen viel Diesel. So fließen durch die (von Hand gegrabenen) Tunnel nach Ägypten derzeit täglich 100.000 Liter Benzin und 100.000 Liter Diesel, den es auf dem offiziellen Markt nicht gibt.


2000 Tunnel gegen den Versorgungsboykott

Die einzige geregelte Versorgung der Bevölkerung wird durch etwa 2000 Tunnel an der südlichen Grenze nach Ägypten organisiert. Denn, wie uns der Bürgermeister von Gaza- Stadt, Rafik S. Mikki, erklärt, kommen täglich lediglich 50 bis 60 Lastwagen mit sog. humanitären Gütern über die Grenzen, obwohl 800 wie vor 2006 für die normale Versorgung der Bevölkerung notwendig wären. In den ersten fünf Monaten 2007 vor der Machtübernahme der Hamas passierten durchschnittlich noch 400 Lastwagen täglich die Grenze.

Die Tunnel gehen bis zu 27 m tief unter die Erde und sind zwischen 100 und 1000 Meter lang. Auf ägyptischer Seite enden sie zumeist in Häusern an der Grenze. Durch sie wird alles transportiert, was zum Leben nötig ist: Nahrungsmittel aller Art, sogar tiefgefrorener Fisch, da die Israelis die Fischerei vor der Küste Gazas verboten haben, Medikamente, Esel oder Kühlschränke, selbst Autos werden zerlegt und durch die Tunnel gebracht. Pipelines liefern Benzin und Diesel. Waren im Februar noch kaum Autos auf den Straßen zu sehen, herrscht jetzt ein reger Autoverkehr. Denn der Preis von sechs Shekel für einen Liter Benzin aus Israel ist auf 1,5 Shekel für ägyptisches Tunnelbenzin gesunken.


Raketen und Kollaborateure

Israelische Flugzeuge und Raketen greifen regelmäßig gezielt Tunneleingänge bei Rafah an, durch die auch Waffen und wichtige Ersatzteile geschmuggelt werden. Erst wenige Tage vor unserem Besuch waren zwei Palästinenser durch Raketenbeschuss getötet und elf weitere verletzt worden. Israelische Zeitungen bezeichneten die Angriffe als Vergeltungsschläge für Raketen, die von Gaza aus auf israelisches Gebiet geschossen worden waren. Die Zielfindung wird durch Kollaborateure erleichtert, die an den Tunneleingängen SIM-Karten von Handys liegen lassen, die aus der Luft leicht geortet werden können.

Das Tunnelsystem ist jedoch inzwischen derart weit verzweigt und wird permanent erweitert, so dass es nur mit einer kompletten Eroberung des sog. Philadelphi-Streifens oder einer Flächenbombardierung mit außerordentlich schwerwiegenden Folgen für die hier noch wohnende Bevölkerung zerstört oder lahm gelegt werden könnte. Es ist aber auch ein gefährliches Unternehmen für die Tunnelgräber. Zwei Männer wurden in der Woche unseres Besuchs durch Einsturz und Stromschlag getötet. Andererseits sind die Tunnel das einzige Lebensventil, welches die Blockade der Grenzübergänge noch nicht zu einem Zusammenbruch allen Lebens hat eskalieren lassen.


Der Völkerrechtler Prof. Dr. Norman Paech aus Hamburg war in der 16. Legislaturperiode für die Fraktion Die Linke Mitglied des Deutschen Bundestages und im Auswärtigen Ausschuss.


*


Quelle:
Der Schlepper Nr. 49 - Winter 2009, S. 51-52
Quartalsmagazin für Migration und Flüchtlingssolidarität in
Schleswig-Holstein
Herausgeber: Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e.V.
Oldenburger Str. 25, 24143 Kiel
Tel.: 0431/73 50 00, Fax: 0431/73 60 77
E-Mail: office@frsh.de
Internet: www.frsh.de
Der Schlepper online im Internet: www.frsh.de/schlepp.htm

Der Schlepper erscheint vierteljährlich als Rundbrief
des Flüchtlingsrates Schleswig-Holstein e.V.
Für Vereinsmitglieder ist Der Schlepper kostenlos.
Nichtmitglieder können ihn für 18,00 Euro jährlich
abonnieren.


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Februar 2010