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NAHOST/617: Zur Entwicklung der Frauenbewegungen in der Türkei (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 110, 4/09

Der Atem, der die Welt verändert
Zur Entwicklung der Frauenbewegungen in der Türkei

Von Pinar Selek


Die türkische Frauenbewegung und deren Stellung im nationalen und internationalen Spannungsfeld, ihre Schwierigkeiten und die dieser Bewegung innewohnende Leistungsfähigkeit waren Thema eines Vortrages(1) von Pinar Selek. Lesen Sie im Folgenden Auszüge daraus.


Frauen sind zwar in vielerlei Hinsicht stärker geworden, doch überall, sei es im Westen, im Osten, im Süden oder im Norden, erneuert sich das Patriarchat durch neue und alte Methoden. Es verkettet sich mit unterschiedlichen Regierungsmechanismen und schafft unter wechselnden wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen neue Identitäten, für die wiederum angemessene Mechanismen erarbeitet werden. In diesem Geflecht, in dem sich die Vergangenheit in den heutigen Gewohnheiten fortpflanzt, produziert die Globalisierung, gestärkt durch neoliberale, konservative und militaristische Politikstrategien, erneut das Patriarchat. Armut, Unsicherheit, Ausbeutung und Arbeitslosigkeit "verweiblichen" von Tag zu Tag.


Die Anfänge ...

Die Wurzeln der Frauenbewegung in der Türkei sind zwar sehr alt, wurden aber erst in den letzten 25 Jahren zu einer richtigen Bewegung. Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts existierten bereits Frauenorganisationen und Frauenmagazine mit feministischen Gedanken. Diese Gruppierungen, in denen vor allem auch armenische Frauen aktiv waren, wurden hauptsächlich durch europäische Bewegungen beeinflusst. Als 1923 die türkische Republik gegründet wurde, ging die erste Parteiinitiative von Frauen aus. Sie forderten nicht nur das Wahlrecht ein, sondern verlangten auch ihre demokratischen Rechte in einer organisierten Weise. Frauen gründeten unter dem Namen "Terakkiperver Kadinlar Firkasi" (wörtl.: Frauenfortschrittspartei) die erste politische Frauenorganisation, um im Zuge der Gründung der Republik ihr Schicksal nicht in die Hände von Männern zu legen. Diese neue Regierung hat die Frauenfortschrittspartei nicht zugelassen und somit wurde sie verboten. Gleich darauf wurde die republikanische Volkspartei (Cumhuriyet Halk Partisi) gegründet, die die Türkei bis in die 1950er Jahre regieren sollte. Die Frauen wiederum wurden aufgerufen, sich an sozialen Hilfsorganisationen zu beteiligen, damit die Republik stärker werde. Nachdem 1938 Frauen sowohl das Wahlrecht erhielten als auch selbst ins Parlament gewählt werden konnten, wurden sie in die Frauenorganisationen der Einheitspartei gerufen und als Abgeordnete bestellt. Gebildete Frauen ohne Kopfbedeckung und in kurzen Röcken wurden zum Wahrzeichen. Es wurde von ihnen erwartet, dass sie neben ihren häuslichen Verpflichtungen auch am öffentlichen Leben aktiv teilnehmen.

Der Kapitalismus hat seine eigenen Lebensregeln auf den alten Traditionen errichtet. Das Ansehen der Frauen stieg, sie beteiligten sich an den monatlichen Haushaltseinkommen oder lebten alleine und zogen ihre Kinder alleine auf. Nach vielen Jahren wurde die Kernfamilie kleiner, die Situation der erziehenden Väter und Mütter erlebte sichtliche Veränderungen, das Leben außerhalb der Familie gewann an Bedeutung. Die sozial aktiv gewordene Frau hat dem Mann eine gewisse "Rolle" gestohlen und sich nach außen hin geöffnet. Innerhalb der traditionellen Werte wurde im Laufe der Jahre der Militarismus immer stärker und die Gewalt gegenüber Frauen, das Thema der Vielehen, Ehrenmorde, der Zwang der Jungfräulichkeit vor der Ehe behielten ihre Aktualität. Die neu entstehenden Frauenorganisationen haben zwar diese Zwänge thematisiert, aber Begriffe wie Befreiung, Freiheit, Patriarchat tauchten in diesem Kampf nicht auf. Die sich in den 1960ern festigende linke Bewegung in der Türkei stärkte auch den Freiheitskampf der Frauen. Millionen von Menschen gingen auf die Straßen und begannen einen wirkungsvollen Kampf, der das System in die Krise stürzte. Genau in diesen Jahren wurde der Wunsch nach der Befreiung der Frauen innerhalb der Linksbewegung laut. Bis in die 1980er Jahre hinein gab es keine feministische Organisation. Die Bewegungen der Arbeiterinnen, Studierenden und in den Dörfern waren neben den linken Parteien ziemlich stark. Themen wie Freiheit der Frauen oder auch Gleichstellung der Geschlechter wurden innerhalb dieser Gruppen zur Sprache gebracht.


Und die feministische Bewegung ...

1980 ereignete sich der Militärputsch. Die Militärdiktatur zielte auf die Niederschlagung des gesellschaftlichen Willens ab. Alles war damals verboten: reden, lesen, diskutieren, sich organisieren. In dieser Situation begannen die Frauen, deren Männer in Haft saßen, sich unabhängig zu organisieren. Einerseits kämpften diese Frauen um die Demokratisierung der Türkei, andererseits fanden sie zueinander und begannen über ihre Alltagsprobleme als Frauen zu diskutieren. Aus diesem sich Organisieren heraus entstand in der Türkei die feministische Bewegung. Fünf Jahre nach dem Putsch organisierten die Feministinnen erste Straßenkundgebungen, die sich gegen Folterungen, sexuelle Gewalt, körperliche Gewalt gegen Frauen und Tabus im Allgemeinen richteten. Manche wurden festgenommen, viele wurden attackiert, doch ging der Kampf der Feministinnen weiter. In diesem Zeitraum machte eine besondere Aktion der Frauen Schlagzeilen: kollektive Scheidungsverfahren. Diese Bewegung, zu dessen Leitprinzipien das unabhängige Leben und Organisieren zählten, kam in kürzester Zeit in die Medien. Gerade diese Frauen kämpften mit einem bis dato unbekannten Elan.

Die kurdische Bewegung, welche sich nach 1980 entwickelte, unterbrach einerseits die Wirkung des Putsches, konnte sich andererseits aber nicht daraus befreien. Als der militärische Staatsmechanismus einer bewaffneten Opposition gegenüber stand, begann der Krieg und hielt bis heute an. In dieser Zeit hat sich trotz des Krieges die Demokratie verhältnismäßig gut weiterentwickelt und es kehrte wieder Bewegung in die Politik ein. Die feministische Bewegung hat als eine soziale Bewegung im Zuge der Demokratisierung in der Türkei eine bedeutende Rolle gespielt. Die Frauenbewegung wird, im Gegensatz zur kurdischen Bewegung, welche von einer bestimmten politischen Front gelenkt wird, auf einer zivilen, demokratischen Basis, unabhängig und dezentralisiert fortgeführt. Es gibt unterschiedliche Auffassungen innerhalb der Frauenbewegung, aber durch intensive Diskussionen geht sie in vielen Punkten einheitlich vor.

Die Frauenbewegung hat durch ihre eigenen Anstrengungen direkten Einfluss auf die Umsetzung der Gesetze in der Türkei gewinnen können. Frauen organisierten zum Beispiel während des Prozesses der Einführung der Bürgerlichen Gesetzgebung eine gemeinsame Kampagne im ganzen Land, in der sie Gesetzesentwürfe zu Themen wie innerfamiliärer Rassismus, Rechte der nicht arbeitenden Frauen und Erbschaftsangelegenheiten herausgaben. Diese Vorschläge wurden dann auch größtenteils angenommen. Durch diese Erfolgserlebnisse ist die feministische Bewegung stärker geworden und hat somit gezeigt, dass sie auch auf politischer Ebene als Akteurin fungieren kann. Diese Frauenbewegung, welche ihre internationalen Verbindungen aus unterschiedlichen Perspektiven heraus geschaffen hat und sich von äußeren Bewegungen nährt, hat durch selbst geschaffene Institutionen, Solidaritätsplattformen und politische Mechanismen eine beachtliche innere Dynamik entwickelt.


Schwierigkeiten und Nachteile

Seit 25 Jahren erleben wir in der Türkei Leid und Zerstörung durch den Krieg. Es ist schwer, unter Beschuss und militärischen Schreien zu diskutieren und einen demokratischen Weg zu bahnen. Es sieht zwar so aus, als würde der Krieg nur in einem Gebiet geführt werden, aber seine Wirkung ist im ganzen Land zu spüren. Wir können ihn nicht aufhalten. Die Friedensbewegungen sind nicht ausreichend. In der von Krieg, Globalisierung, von Armut, Konservatismus und Nationalismus gepeinigten Türkei regiert eine liberal-konservative Partei. Die Dimension, die das Patriarchat, der Militarismus und der Kapitalismus erreicht haben, fordert die feministische Bewegung heraus. Wir möchten mit Frauen außerhalb unserer Landesgrenzen einen gemeinsamen Atem schaffen, denn wir glauben daran, dass genau dieser Atem uns die notwendige Hoffnung geben wird, um die Welt zu verändern.


Anmerkung:
(1) Auf Einladung des VIDC - Wiener Institut für internationalen Dialog und Zusammenarbeit hielt Pinar Selek im Oktober 2009 die Eröffnungsrede zum Wiener Musikfestival "Salam.Orient".


Zur Autorin:
Pinar Selek, Soziologin und Schriftstellerin, ist eine der führenden feministischen Friedensaktivistinnen der Türkei. Als sie ihre Forschungen über die Konsequenzen des Bürgerkriegs in der Türkei abschließen wollte, wurde sie verdächtigt, 1998 eine Bombe in einem Bazar in Istanbul gelegt zu haben. Sie hat in der Folge zweieinhalb Jahre im Gefängnis verbracht und mittlerweile elf Jahre in Gerichtsräumen. 2001 war sie eine der Gründerinnen der Amargi-Frauen-Kooperative. Seit 2006 arbeitet sie als Redakteurin und Koordinatorin des Amargi Feminist Journals in Istanbul. Sie lebt derzeit im Exil in Deutschland.


Übersetzung aus dem Türkischen: Ebru Noitsernig


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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 110, 4/2009, S. 32-33
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen
Senseng 3, 1090 Wien
Telefon: 0043-(0)1/317 40 20-0, Telefax: 0043-(0)1/317 40 20-406
E-Mail: redaktion@frauensolidaritaet.org,
http://www.frauensolidaritaet.org

Die Frauensolidarität erscheint viermal im Jahr.
Einzelpreis: 5,- Euro;
Jahresabo: Österreich und Deutschland 20,- Euro;
andere Länder 25,- Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Februar 2010