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NAHOST/689: Türkei - Frust und Stagnation in den kurdischen Gebieten (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 2. September 2010

Türkei: Frust und Stagnation in den kurdischen Gebieten

Von Benjamin Hiller


Diyarbakir, Türkei, 2. September (IPS) - Serif Baltac von der Nichtregierungsorganisation 'Kalkinma Merkezi', die sich um den Wiederaufbau der kurdischen Dörfer in der Region Diyarbakir im Südosten der Türkei kümmert, ist frustriert. Von der demokratischen Öffnung, über die Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan in den letzten zwei Jahren immer wieder gesprochen hat, ist hier nichts zu spüren. Dabei sind die Probleme drängender denn je.

Die Zahl der Binnenflüchtlinge, vorwiegend Kurden aus den türkischen Ostgebieten, ist in den letzten 15 Jahren auf gut fünf Millionen bis sechs Millionen angewachsen. Die meisten haben sich nach der massiven Vertreibungswelle in den 1990ern in den Ballungsräumen von Istanbul, Ankara und der Stadt Diyarbakir angesiedelt. Da die wenigsten kurdischen Flüchtlinge Bauern sind und kein Türkisch sprechen, ist die Arbeitslosenrate hoch.

Auf Druck der EU und der UN hatte der türkische Staat 2005 den Kurden neben einer Lockerung in Fragen ihrer Sprache und Identität auch Kompensationszahlungen für in den 90er Jahren begangenen extralegalen Hinrichtungen und Vertreibungen in Aussicht gestellt. So sollten die Angehörigen für jedes getötete Familienmitglied eine Entschädigung von bis zu 8.000 Euro erhalten.


Kurden um ihre Entschädigungen geprellt

Doch Vertragsklauseln und Ausnahmeregelungen sorgten dafür, dass von vornherein die meisten betroffenen Familien von den Zuwendungen ausgeschlossen blieben. Serif Baltac zeigt auf die aktuellen Zahlen, um die Situation zu erläutern: "Gut 57.000 Personen haben damals einen Antrag auf Entschädigung gestellt. Doch die Hälfte dieser Anträge wurde in kürzester Zeit abgelehnt, und bis jetzt haben nur 19.000 Personen eine Entschädigung erhalten. Und die sechsmonatige Frist für die Antragsstellung ist natürlich längst abgelaufen."

Selbst die UN scheint kein echtes Interesse an der Lösung des Problems zu haben. So erklärte ein auf Anonymität bestehender Vertreter des Kurdistan-Entwicklungsprojekts des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP): "Wenn der türkische Staat verkündet, dass es keine Kurden und somit auch keine Kurdenfrage gibt, dann sagen auch wir, dass es keine Kurdenfrage gibt."

So ist die Frustration besonders in den kurdischen Slums von Diyarbakir, groß, wurden doch an das damalige Gesetz hohe Erwartungen verknüpft. Dies gilt besonders für das Armenviertel Azizye, wo die Stimmung auf dem Tiefpunkt angekommen ist. Hier leben seit den 90er Jahren gut 5.000 Vertriebene in zumeist illegal errichteten Hütten.

"Immer wieder kommen EU-Vertreter und Journalisten vorbei. Selbst eine US-Senatorin aus den USA war schon da. Doch geändert hat sich nichts", so Haci Ramacam, der Sprecher der Gemeinschaft. "Bis 2005 war es uns verboten, in unsere Dörfer zurückzukehren. Jetzt sollen wir plötzlich wieder zurück, aber das ist lebensgefährlich und ohne Geld unsinnig."

Viele der Dörfer sind vermint, die landwirtschaftlichen Flächen durch das Militär zerstört. Und in den heil gebliebenen Häusern leben nun meistens sogenannte Dorfschützer. Das sind dem türkischen Staat loyale Paramilitärs, die nicht daran denken, die Dörfer wieder zu verlassen.


PKK gewinnt an Boden

Das Militär hatte nach dem Krieg in den 90ern verkündet, die Taktik der Stärke sei aufgegangen. Die verbotene Kurdische Arbeiterpartei PKK sei geschwächt worden und habe an Zuspruch verloren. Tatsächlich jedoch scheint das Gegenteil der Fall.

S. (Name aus Sicherheitsgründen abgekürzt) kommt aus einem kleinen kurdischen Dorf nordöstlich von Diyarbakir. Sie arbeitet - nach einem Studium im europäischen Ausland - für die Stadt Diyarbakir: "Die Kämpfe gehen immer weiter. Vor einigen Wochen wurde ein Vetter bei Kämpfen mit dem Militär getötet, eine Kusine ging in die Berge, um an der Seite der PKK zu kämpfen."

Das Dorf selber zahlt hohe Summen an Dorfschützer und das Militär, um nicht vertrieben zu werden. Die Unsicherheit hat den Unmut weiter gesteigert. "Es bleibt den meisten Leuten nur die Wahl zu kämpfen oder in Armut in den Slums der Großstädte zu leben", berichtet S. "Erst ein Frieden wird diesen Kreislauf der Gewalt durchbrechen."

Auch in rechtlicher Hinsicht hat sich für die Kurden wenig getan. Serkan Akbas ist nach mehreren Jahren Aufenthalt in England wieder in seine Heimatstadt Diyarbakir zurückgekehrt. Dort versucht er als Anwalt der lokalen Bevölkerung zu helfen, auch wenn er in seiner Position nur primär Petitionen unterzeichnet und moralischen Beistand geben kann.


Kurdenfeindliches Rechtssystem

"Die Situation hat sich juristisch gesehen eher verschlechtert", sagt der Jurist. "Wurde in den 90er Jahren das extralegale System von Hinrichtung und Vertreibung angewandt, das juristisch illegal und somit wenigstens vor Gericht angegangen werden konnte, wird heute das Justizsystem selbst gegen die Kurden eingesetzt. Jeder Protest wird im Keim erstickt. Und als Antwort kommt immer 'das steht doch so im Gesetz'."

Wie Akbas erläutert, wurde eine schwer kranke Mandantin erst kürzlich zu neun Jahren und sieben Monaten Haft verurteilt. Die 56jährige Rihan Yildiz, die an Asthma, Bluthochdruck und Osteoporose leidet, gehört zu den sogenannten Friedensfrauen. Sie hat ihren Sohn in den militärischen Auseinandersetzungen zwischen der PKK und der Armee verloren und geht seitdem für den Frieden auf die Straße.

Da Yildiz in den letzten zwei Jahren von der Polizei viermal dabei gefilmt wurde, wie sie an solchen Demonstrationen teilnahm, wird sie eine Unterstützerin der PKK betrachtet. Entsprechend kam auch das Urteil zustande. Eine Revision ist ausgeschlossen. "Die Angst ist wieder groß geworden in Diyarbakir. Die Leute trauen sich nicht mehr, öffentlich Kurdisch zu sprechen und die bestehenden Zuständen zu kritisieren", sagte der Anwalt.


Kriegsgeläut in Grenzgebiet

Dabei geht der Krieg konstant weiter, und die Stadt scheint in einem erneuten Ausnahmezustand zu versinken. Täglich steigen vom Flughafen Bomber auf, um im türkisch-nordirakischen Grenzgebiet die vermeintliche Infrastruktur der PKK anzugreifen. Opfer sind zumeist Zivilisten. Sobald es Nacht wird, werden in Diyarbakir die Sicherheitsmaßnahmen erhöht. Vereinzelt fahren Militärfahrzeuge mit montierten MGs durch die Straßen.

Der US-amerikanische Journalist und Menschenrechtsaktivist Jake Hess hatte mehrere Monate über die angespannte Situation vor Ort berichtet. Am 11. August 2010 wurde er unter dem Vorwand der "amerikanischen Spionage" und "Unterstützung der PKK" verhaftet und eine Woche später in die USA abgeschoben.


Kriegsfaktor Drogenhandel

Ein weiterer, aber oft verschwiegener Kriegsfaktor ist der Drogenhandel. Drogenkontrollbehörden wie EMCDDA und Europol gehen davon aus, dass ein Großteil der in Europa konsumierten Drogen über die kurdischen Ostgebiete der Türkei geschmuggelt wird. Doch nur eine Fraktion kann sich sicher sein, im Grenzgebiet nicht kontrolliert zu werden: das Militär. So darf die Polizei selbst bei dem begründeten Verdacht eines Drogendeliktes Soldaten nicht durchsuchen oder befragen. Die Transporter werden einfach durchgewunken.

Die PKK wiederum führt regelmäßig Strafaktionen gegen Bauern durch, die Drogen auf ihren Ländereien anbauen, und zerstört diese Felder. So ist der Drogenschmuggel selber zu einem Friedenshindernis geworden - und die Profiteure sitzen nicht nur beim Militär, sondern auch bei über Nacht reich gewordenen kurdischen Großgrundbesitzern in der Grenzregion.

Der Drogenkonsum ist auch zu einem massiven Problem kurdischer Kinder und Jugendlicher in den Großstädten geworden. Die Polizei, die sonst bei kleinsten Delikten drakonisch agiert, sieht darüber hinweg. In den Parkanlagen im Stadtkern von Diyarbakir werden jeden Abend offen Drogen gehandelt. Die stets anwesende Polizei ist bis jetzt nie eingeschritten, wie der Anwalt Serkan berichtet. Bekannte Dealer würden sogar auf freien Fuß gesetzt, sobald sie Kontakte mit dem Militär nachweisen könnten.

Ein 15jähriger Junge aus dem Slum Azizye bringt den Frust der Kurden mit der türkischen Regierung auf den Punkt: "Solange Erdogan in Ankara gegen alles Kurdische hetzt, wird es keinen Frieden geben. Wir wollen doch nur unsere Grundrechte und die Freiheit, unsere Kultur zu leben. Ist das denn zu viel verlangt?" (Ende/IPS/kb/2010)


Links:
http://kalkinmamerkezi.org/_en/Default.aspx
http://www.emcdda.europa.eu/index.cfm

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 2. September 2010
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. September 2010