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NAHOST/718: Tod von Rachel Corrie - Anklage gegen Israel (jw)


junge Welt - Die Tageszeitung - Ausgabe vom 27. Oktober 2010

Anklage gegen Israel

Prozeß in Haifa nach Mord an Rachel Corrie, die sich der Zerstörung eines palästinensischen Hauses entgegengestellt hatte und von einem Bulldozer überrollt wurde

Von Karin Leukefeld, Damaskus


Im März 2003 wurde die US-Amerikanerin Rachel Corrie bei dem Versuch, die Zerstörung eines palästinensischen Hauses bei Rafah zu verhindern, von einem Bulldozer der israelischen Armee überrollt und getötet. Fast sieben Jahre dauerte es, bis Anfang 2010 vor einem Zivilgericht in Haifa der Prozeß beginnen konnte, den die Eltern der Aktivistin der Internationalen Solidaritätsbewegung (ISM) gegen die israelische Armee angestrengt hatten. Sie beschuldigen die israelische Armee, für den Tod ihrer Tochter verantwortlich zu sein, und fordern den symbolischen Betrag von einem Dollar als Schuldanerkenntnis sowie die Übernahme der Reisekosten und Auslagen für die Zeugen.

Der Prozeß hatte bereits im Frühjahr begonnen, weitere Verhandlungstage waren aber immer wieder verschoben worden. Nun (am 21.10.) wurde der Fahrer des Bulldozers als Zeuge gehört. Der Mann,der während des Prozesses lediglich als Y.F. bezeichnet wurde, ist ein Einwanderer aus Rußland. Katherine Gallagher, Anwältin des Zentrums für Verfassungsrechte (CCR, New York), das die Familie Corrie seit Jahren juristisch begleitet, berichtete, daß nicht nur der von Polizisten bewachte Verhandlungssaal mit etwa 28 Sitzplätzen viel zu klein gewesen sei, die Hälfte der Plätze sei bereits früh von israelischen Soldaten eingenommen worden. Der Übersetzer der Familie habe Mühe gehabt, überhaupt eingelassen zu werden, von den vielen aus aller Welt eingetroffenen Journalisten konnten nur vier für jeweils knapp 30 Minuten dem Prozeß zuhören. Der Zeuge saß hinter einem Sichtschutz, nachdem das Gericht verfügt hatte, daß seine Identität vor den Prozeßbeobachtern und der Familie Corrie geheimgehalten werden müsse. Y.F. konnte sich weder daran erinnern, überhaupt jemanden überfahren zu haben, noch an die Tageszeit, als es geschah. Auch daß er die bereits tödlich verletzte 23jährige ein zweites Mal überfuhr, wollte er nicht bestätigen. Cindy Corrie, die Mutter von Rachel Corrie, zeigte sich erschüttert über die Gleichgültigkeit, mit der der Soldat sich äußerte. Er habe auf Anordnung seiner Vorgesetzten gehandelt, sagte der Soldat. Damit ist nicht nur er, sondern die israelische Armee für den Tod verantwortlich. Der Prozeß soll am 4. und 15. November fortgesetzt werden.

Der Oberkommandierende der Armee, Generalleutnant Gabi Aschkenazi, sagte derweil ein zweites Mal vor der von Israel eingesetzten Turkel-Kommission aus, die die Umstände bei der Erstürmung der »MaviMarmara« (Mai 2010) untersuchen soll. Das Schiff wollte mit einer Free-Gaza-Flotte Hilfsgüter in den von Israel belagerten Gazastreifen bringen, wurde aber von israelischen Sondereinheiten in internationalen Gewässern gewaltsam gestoppt. Bei der Erstürmung der »Mavi Marmara« wurden neun Free-Gaza-Aktivisten (acht Türken, ein US-Bürger) getötet. Aschkenazi rechtfertigte das Vorgehen der Soldaten als »angemessen angesichts der Bedrohung«. Hätten sie das Feuer nicht eröffnet, »hätte es viel mehr Opfer gegeben«. Die Soldaten hätten »niemanden verletzt, der nicht verletzt werden mußte«, sagte Aschkenazi laut einem Bericht des Fernsehsenders Al-Dschasira. Neben 350 Schuß Übungsmunition setzten die israelischen Einheiten laut Aschkenazi 308 Schuß scharfe Munition ein. Auch die frühere Außenministerin Zipi Livni äußerte sich vor der Kommission und bezeichnete den Einsatz als gerechtfertigt, die Flottille selber hingegen sei eine »Provokation« gewesen. Die Türkei habe den Stillstand bei den israelisch-palästinensischen Friedensverhandlungen genutzt und mit der Hilfsflotte ein »politisches Vakuum« gefüllt, sagte Oppositionsführerin Livni.

Teilnehmer der Free-Gaza-Flottille haben derweil vor dem Internationalen Strafgerichtshof Anzeige gegen die israelische Armee erstattet.

Weitere Informationen: www.rachelcorriefoundation.org/trial


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Quelle:
junge Welt vom 27.10.2010
mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Redaktion
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. November 2010