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NAHOST/755: Arabische Welt - Die Angst vor der Brot-Intifadah, Staaten reagieren (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 19. Januar 2011

Arabische Welt: Die Angst vor der Brot-Intifadah - Staaten reagieren

Von Cam McGrath und Emad Mekay


Kairo, 19. Januar (IPS) - Der 26-jährige Tunesier Mohammed Bouazizi, der durch seine Selbstverbrennung in seiner Heimat eine Revolution auslöste, ist zum Symbol für die Unzufriedenheit junger Araber mit autokratischen Machthabern und der schwierigen Wirtschaftssituation in ihren Ländern geworden. Dass seine Tat immer mehr Nachahmer findet, setzt die Regierungen in der arabischen Welt unter erheblichen Druck.

Den Massen preiswerte Nahrungsmittel zur Verfügung zu stellen, ist Teil eines ungeschriebenen Gesetzes zwischen arabischen Diktatoren und ihrem Volk. Seit den 1950er Jahren erkaufen sich die Regime mit Subventionen für Brot, Milch, Eier und andere Grundnahrungsmittel politischen Frieden. Tunesiens Staatspräsident Zine El-Abidine Ben Ali, der Tunesien 23 Jahre mit eiserner Faust regierte, zahlte den einseitigen Bruch des Kontrakts mit seinem Sturz.

"Brich mir das Herz, aber komm nicht in die Nähe meines Brotes", lautet ein altes arabisches Sprichwort, das sich durchaus als Warnung verstehen lässt, wie Beispiele aus der Geschichte lehren. So forderten die Brotrevolten von 1984 in Tunesien rund 80 Tote und brachten das Regime des damaligen Präsidenten Habib Bourguiba ins Wanken. Ähnliche Proteste fanden in Ägypten 1977, in Marokko 1981 und in Jordanien 1989 statt. Und es waren die Brotrevolten 1988 in Algerien, die Islamisten aus den Parlamentswahlen siegreich hervorgehen ließen. Die Regierung kannte das Wahlergebnis nicht an, und die Folge war ein zehn Jahre währender Bürgerkrieg.


Ungeliebte Wirtschaftsprogramme

Zu den etwa zehn Nordafrikanern, die dem Beispiel Bouazizis folgten und sich selbst anzündeten, gehören auch drei Ägypter. Als Gründe für die Tat gaben sie Arbeitslosigkeit und hohe Nahrungsmittelpreise an. In dem 85 Millionen Menschen zählenden Land läuft ein Wirtschaftsprogramm, das mit der Weltbank, dem Internationalem Währungsfonds (IWF) und der US-Entwicklungsbehörde USAID vereinbart wurde und unter anderem die Verringerung der Beihilfen für Heizöl und Grundnahrungsmittel vorsieht. Das Programm hat Millionen Ägyptern den Zugang zu preiswertem Brot versperrt und auch die Preise für viele andere Nahrungsmittel nach oben getrieben. Dies führte zu Protesten gegen niedrige Löhne und ausbleibende wirtschaftliche Verbesserungen.

Ähnliche Maßnahmen zum Abbau der Grundnahrungsmittel- und Heizölsubventionen, die in Ägypten mit sieben Prozent des Bruttoinlandsproduktes zu Buche schlagen, werden auch in anderen arabischen Staaten durchgeführt. Sie begünstigten meist Konzerne und Unternehmer, die Investitionen und Entwicklung versprechen. Die Armen in den jeweiligen Ländern hingegen haben das Nachsehen.

"Tunesier und Algerier sind hungrig. Ägypter und Jemeniten kommen gleich hinterher", schrieb der Journalist Mishaal Al Gergwai in einem Kommentar für die Zeitung 'Gulf News' in Dubai. "Mohammed Bouazizi hat sich nicht in Brand gesetzt, weil er nicht bloggen oder wählen durfte. Menschen zünden sich an, weil sie nicht ertragen können, wie der Hunger (...) ihre Familien langsam dahinrafft."

In Algerien sind bisher fünf Menschen dem Beispiel Bouazizis gefolgt und haben sich in Brand gesetzt. Mindestens einer von ihnen zahlte den Selbsttötungsversuch mit dem Leben. In dem nordafrikanischen Land wächst der Unmut über den Mangel an Wohnraum, Korruption und Arbeitslosigkeit. In Mauretanien, wo die Hälfte der Bevölkerung von 3,5 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze von zwei US-Dollar am Tag leben müssen, wurde ein Mann mit Brandverletzungen ins Krankenhaus gebracht, nachdem er sich vor dem Präsidentenpalast am 15. Januar ebenfalls angezündet hatte.


Überdurchschnittlich hohe Arbeitslosigkeit

Zahlen der Arabischen Arbeitsorganisation (ALO) belegen, dass die Arbeitslosigkeit in den arabischen Staaten zu den höchsten der Welt gehört. 2007/2008 lag sie bei durchschnittlich 14,5 Prozent, also 8,2 Prozent über dem internationalen Wert.

Die Vorgänge in Tunesien zwingen viele autokratische Regime, die wachsende Unzufriedenheit der Bevölkerung zur Kenntnis zu nehmen. In Jordanien ordnete König Abdullah II., ein wichtiger Alliierter Israels und der USA, Maßnahmen an, um die Nahrungsmittelpreise zu senken und mehr Arbeitsplätze in dem sechs Millionen Menschen zählenden Land zu schaffen. Die Regierung kündigte eine Verringerung der Grundnahrungsmittel- und Heizölpreise in Höhe von insgesamt 225 Millionen Dollar an. Dennoch gehen die Proteste in Dutzenden von Städten gegen die verbreitete Arbeitslosigkeit und hohen Nahrungsmittelpreise weiter.

In Syrien berichteten die staatlichen Medien am 18. Januar, dass Staatspräsident Bashir Al-Assad rund 415.000 Familien mit einer Direkthilfe von monatlich elf Dollar unterstützen wird. Nach den Ereignissen in Tunesien kündigte die regierende Baath-Partei zudem an, ihre Subventionskürzungspläne fallen zu lassen und mit Beihilfen die hohen Nahrungsmittelpreise zu bekämpfen. Medienberichten zufolge wurden die Bauern ferner angewiesen, mehr Weizen anzubauen.

Kuwait hat vor, seinen Bürgern ab 1. Februar kostenlose Nahrungsmittelrationen im Wert von 818 Millionen Dollar zu überlassen. Darüber hinaus sollen jedem Kuwaiter einmalig 3.561 Dollar ausbezahlt werden.

In Ägypten, dem bevölkerungsreichsten Land der arabischen Welt, wo es bereits seit fünf Jahren zu Protesten gegen Arbeitslosigkeit und schlechte Bezahlung kommt, ließ die Regierung verkünden, dass die Subventionen bestehen bleiben. Nach Angaben lokaler Medien hat der seit 1981 regierende Staatschef Hosni Mubarak seine Kabinettsmitglieder angehalten, Gespräche über die mögliche Abschaffung der Strom- und Brotsubventionen zu unterlassen.


Lobgesang auf Subventionen

Ägyptens Handelsminister Rachid Mohamed Rachid ließ bereits verlauten, dass das ägyptische Subventionssystem funktioniere und geeignet sei, die Verbraucher des Landes vor einem 50-prozentigen Anstieg der Weltnahrungsmittelpreise zu schützen. Er räumte am 18. Januar gegenüber der Zeitung Al-Ahram ein, dass die Tunesien-Krise die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den arabischen Staaten und die regionale Integration beschleunigen werde.

In Mauretanien, einem der ärmsten Länder der Welt, kündigte die Regierung die Einrichtung von 600 Geschäften an, die subventionierten Reis, Zucker, Pflanzenöl und Weizenmehl ausgeben werden. Weiter hieß es, dass Maßnahmen ergriffen würden, um die Beschäftigungsmöglichkeiten zu verbessern.

In Algerien sind derzeit Maßnahmen im Gespräch, Höchstpreise für Nahrungsmittel festzulegen und Preissenkungen zu verordnen, um die zweiwöchigen gewaltsamen Proteste zu beenden. Algerier klagen über hohe Zucker-, Öl- und Mehlpreise. Dabei hatte die Regierung im letzten Jahr ihr Budget dank der hohen Öleinnahmen um stolze 10,2 Milliarden auf 14,8 Milliarden Dollar hochgeschraubt.

In der gesamten arabischen Welt sind Anhänger der Regierungen schnell dabei, die Ereignisse in Tunesien als Ausnahme darzustellen. "Wir sind nicht so sauer auf den Staat wie es die Tunesier waren", meinte Abdelmonem Saeed, Vorsitzender der in Kairo ansässigen, staatlichen Al-Ahram-Stiftung. "In Ägypten leben 84 Millionen Menschen, in Tunesien nur zehn Million. In unserem Land können viele Menschen ihre unterschiedlichen Meinungen in verschiedenen Kanälen zu Ausdruck bringen". sagte Saeed. "Wir sind nicht alle gleich." (Ende/IPS/kb/2011)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Januar 2011