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NAHOST/908: Libyen - Kein Frieden in der Wüste, alte Stammesfehden und neue Konflikte in Kufra (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 2. Mai 2012

Libyen: Kein Frieden in der Wüste - Alte Stammesfehden und neue Konflikte in Kufra

von Rebecca Murray



Kufra, Libyen, 2. Mai (IPS) - In Kufra, gut 1.600 Kilometer von der libyschen Küste entfernt, ist der Frieden noch weit. In der 44.000 Einwohner zählenden Oasensiedlung im Südosten des Landes kämpfen die seit langem verfeindeten Ethnien der Zwai und der Tabu seit Monaten erbittert um politische Macht, Bürgerrechte und die Kontrolle über den lukrativen Waffen-, Drogen- und Menschenhandel.

Seit Februar haben mehr als 100 Menschen den bewaffneten Konflikt mit ihrem Leben bezahlt. Beobachter sehen bereits die Stabilität der Region und die faire Beteiligung Kufras an den für Juni geplanten nationalen Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung gefährdet. Auch die Menschen fühlen sich in der alten Karawanenstadt nicht mehr sicher und machen sich Sorgen um ihre Zukunft.

"Es ist nicht leicht, hier in Kufra Arbeit zu finden. Hier leben zu viele Menschen, und auch die Vetternwirtschaft spielt bei der Jobsuche eine Rolle", berichtet die 26-jährige Medizinstudentin Omasayad, eine Zwai. "Außerdem war es hier unter Gaddafi sicherer."

In Sachen Sicherheit gibt ihr die Kommilitonin Kadisha Jacky, Angehörige einer Tabu-Familie, recht. Allerdings ist sie der Meinung, dass sich das Leben in der Stadt verbessert hat. "Stammesfehden gab es hier schon immer", meint ihrerseits die Tabu Kaltroun Toushi, die Computerwissenschaften studiert. "In der Schule fühle ich mich sicher, in der Stadt nicht."

In Kufra leben etwa 4.000 Tabu. Die Halbnomaden unterhalten Beziehungen zur Handelsstadt Sabha im Westen Libyens sowie zum Sudan, Tschad und Niger. Die hellhäutigeren arabischen Zwai, die in Kufra die Mehrheit stellen, sind auch weiter nördlich anzutreffen - von der ölreichen Wüste bis zur Stadt Ajdabiya.


Tabu-Ethnie von Gaddafi-Regime diskriminiert

Die Tabu wurden vom ehemaligen Gaddafi-Regime diskriminiert, vor allem als Libyen mit dem Nachbarland Tschad einen regionalen Krieg um Bodenschätze führte. Der UN-Menschenrechtsrat berichtete 2010, Gaddafi habe Kufras Tabu beschuldigt, sie seien Tschader, und ihnen 2007 die libysche Staatsbürgerschaft aberkannt. Die Menschen wurden drangsaliert, und Bildungseinrichtungen wie Gesundheitsdienste blieben ihnen versperrt.

Tabu-Netzwerke sorgten im vergangenen Jahr an Libyens Südgrenzen dafür, dass keine Söldner aus Subsahara-Ländern zur Unterstützung Gaddafis ins Land kamen. Und Libyens neue Übergangsregierung vertraute dem Tabu-Führer Issa Abdelmajid Mansur die Kontrolle über Kufras Sahara-Region an, in der sich mit legalem und illegalem Transithandel mit Nahrungsmitteln und Brennstoffen sowie mit dem Schmuggel von Drogen, Waffen und Migranten viel Geld verdienen lässt.

"Vor allem die Netzwerke der Schmuggler machen uns Sorgen", meint Oberst Suliman Hamed Hassan, Chef des Militärrates von Kufra. "Issa Abdelmajid ist daran beteiligt. Er verdient an der Kontrolle der Grenzübergänge." Als Unruhestifter, die den ethnischen Konflikt schüren, gelten auch die Angehörigen der so genannten 'Libyan Shield Brigade'. Das Verteidigungsministerium hatte sie zur Friedenssicherung nach Kufra geschickt.

"Dies ist ein Dauerkonflikt zwischen zwei Ethnien", erklärt der als Militärberater nach Kufra entsandte Oberst Abdul Rami Kashbour. "Doch es ist schlimmer als früher, denn jetzt gibt es hier Unmengen von Waffen."


"Alles kocht wieder hoch"

Bill Lawrence, Nordafrika-Direktor der 'International Crisis Group', sieht drei Ursachen für den Konflikt zwischen Tabu und Zwai. "Es geht um die Kontrolle der Schmuggelwege, um die nationale Identität und nicht zuletzt um Vergeltungsaktionen", sagt er. "Unter dem autoritären Gaddafi-Regime wurden derartige Konflikte unterdrückt. Doch jetzt ist der Deckel weg, und alles kocht wieder hoch."

In Kufra verstellt der gewaltsame Konflikt der Ethnien den Blick auf den politischen Neuanfang im Land und den Aufbau lokaler demokratischer Einrichtungen. Im Juni finden in Libyen Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung statt, doch Kufras ernannter Ratsvorsitzender plant in nächster Zeit noch keinen Urnengang.

Wie Al Sanussi Salem Al Gommi, Vorsitzender der Wahlkommission in Kufra, berichtet, wartet man darauf, dass die Regierung in Tripolis Details zu den Wählerlisten bekannt gibt. Angesichts der in der Stadt herrschenden Gewalt werde die Wahl des Stadtrats so lange aufgeschoben, bis Libyens neue Regierung vereidigt ist. "Einige Tabu haben damit gedroht, das Wahlverfahren so lange aufzuhalten, bis weitere Familien ihrer Volksgruppe die libysche Staatsbürgerschaft erhalten haben. Allerdings fehlen ihnen die erforderlichen Unterlagen", erläutert Al Gommi.

"Der Streit um Staatsbürgerschaft und Dokumente ist ein einziges Durcheinander", kritisiert Fred Abrahams, Berater der Menschenrechtsorganisation 'Human Rights Watch'. "In Südlibyen gibt es Tabu, die die ihnen zustehenden Dokumente nicht besitzen und andere, die sie zu Unrecht besitzen. Deshalb befürchten die Mitglieder der Ethnie, dass sie nicht zu den Wahlen zugelassen werden. In dieser brisanten Situation wuchern Misstrauen und Verdächtigungen", betont der Rechtsexperte. (Ende/IPS/mp/2012)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Mai 2012