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NAHOST/914: Ägypten - Vergangenheit war gestern, Präsidentschaftskandidaten erfinden sich neu (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 16. Mai 2012

Ägypten: Vergangenheit war gestern - Präsidentschaftskandidaten erfinden sich neu

von Cam McGrath



Kairo, 16. Mai (IPS) - Kurz vor den Präsidentschaftswahlen am 23. und 24.‍ ‍Mai in Ägypten geben sich die beiden aussichtsreichsten Kandidaten für das Amt des ersten zivilen Staatschefs alle Mühe, ihre Vergangenheit neu zu erfinden: Der eine, ein Karrierediplomat, ist emsig darauf bedacht, sich von dem autoritären Regime zu distanzieren, dem er einst zu Diensten war. Der andere, ein konservativer Islamist, gibt sich alle Mühe, als pragmatischer Liberaler zu erscheinen.

Der 75-jährige Amr Moussa war zehn Jahre lang (1991-2001) Außenminister im Kabinett von Ex-Präsident Hosni Mubarak und liegt in den jüngsten Umfragen des Al-Ahram-Zentrums für politische und strategische Studien mit 39 Prozent in der Wählergunst vorn. Mit 24,5 Prozent nimmt der 60-jährige Abdel Moneim Aboul Fotouh, der unlängst aus der Muslim-Bruderschaft ausgeschlossen wurde, den zweiten Platz ein.

Wenn keiner der insgesamt 13 Kandidaten die Stimmenmehrheit erzielt, folgt im Juni die entscheidende Stichwahl. Der seit Mubaraks Sturz vor 15‍ ‍Monaten in Kairo regierende Oberste Militärrat (SCAF) hat zugesagt, am 1. Juli die Macht an den neuen Präsidenten abzugeben.

"Der politische Hintergrund der beiden Spitzenkandidaten wird diese Wahl beeinflussen. Beide haben eine für Wähler beunruhigende Vergangenheit", stellt der Politikexperte Moustafa Kamel El-Sayed fest.

Seitdem Moussa vor mehr als einem Jahr seine Präsidentschaftskandidatur angemeldet hat, werfen ihm Kritiker vor, er sei ein 'Feloul', ein Exponent des alten Regimes. Doch Moussa bemüht sich, seine Rolle in Mubaraks korruptem und brutalem Regierungssystem herunterzuspielen. Er gibt sich als Außenseiter und Abweichler.


Populismusvorwürfe gegen Moussa

In seiner zehnjährigen Amtszeit als ägyptischer Außenminister war Moussa mit seinen eloquent vorgetragenen kritischen Reden gegen Israel ungeheuer populär. Man ist sich weitgehend einig darüber, dass Mubarak ihn zunehmend als Konkurrenten fürchtete und 2001 dafür sorgte, dass ihm das politisch eher unbedeutende Amt des Vorsitzenden der Arabischen Liga übertragen wurde, das Moussa 2011 aufgab.

Nach Ansicht von Kritikern zeigte Moussa in seiner zehnjährigen Amtszeit als Chef der Arabischen Liga seinen wahren politischen Charakter. Seine flammenden, vor allem gegen Israel gerichteten Reden waren fürs Publikum bestimmt und selten von politischen Maßnahmen begleitet. "Er ist ein Populist", meint der Linksaktivist Mohamed Fathy. "Sein Image als Israelhasser gefällt vielen Ägyptern, doch niemand kennt seine wirkliche Einstellung. Seine Beflissenheit gegenüber dem Militärrat ist zumindest bedenklich."

Andere Kritiker werfen Moussa vor, Mubarak vor dessen Sturz nie öffentlich kritisiert zu haben. Besonders übel vermerkt wird jedoch Moussas Verunglimpfung junger Leute als Gangster und Anarchisten, als sie gegen den Militärrat protestierten. Auch die Glaubhaftigkeit von Moussas demonstrativer Haltung gegen Israel wird inzwischen infrage gestellt. Jetzt aufgetauchte Dokumente zeigen, dass er den in Ägypten weithin unpopulären, mit Israel ausgehandelten Gasliefervertrag unterstützt hat.

Der ehemalige Diplomat Moussa präsentiert sich in ganz Ägypten als der Kandidat, der über genügend politische Erfahrung für das Präsidentenamt verfügt. Viele Ägypter sehen in ihm den einzigen säkular eingestellten Bewerber, der einen islamistischen Präsidenten verhindern kann. Im ägyptischen Parlament verfügen Islamisten bereits über eine Mehrheit.


Aboul Fotouh war der Islam-Bruderschaft zu liberal

Sein stärkster Rivale, der 60-jährige studierte Arzt Aboul Fotouh, gehörte in den frühen 1970er Jahren zu den Gründungsmitgliedern der militanten Islamistengruppe 'Al-Gamaa Al-Islamiya', die in den USA bis heute als terroristische Organisation eingestuft wird. Später schloss er sich der Muslimbruderschaft an, deren einflussreichem Lenkungsbüro er mehr als 20 Jahre lang angehörte.

Als er mit der Zeit mit versöhnlicheren Ansichten auftrat, indem er etwa vorschlug, auch Frauen und christliche Kopten sollten sich um das Präsidentschaftsamt bewerben können, fiel Aboul Fotouh bei der konservativen Führung der Muslimbrüder in Ungnade. Als er im Juli 2011 ankündigte, er werde sich um das Präsidentenamt bewerben, wurde er aus der Muslimbruderschaft ausgeschlossen. Diese hatte nämlich geschworen, keinen eigenen Kandidaten aufzustellen.

Inzwischen hat der ehemalige radikale Islamist innerhalb eines knappen Jahres eine bemerkenswerte politische Wandlung vollzogen. Er präsentiert sich als liberaler Islamist und findet inzwischen auch Gefolgsleute unter säkular eingestellten Jugendlichen, linken Vordenkern und enttäuschten Muslimbrüdern. Sie sehen in ihm einen frommen, reformbreiten Präsidentschaftskandidaten, der Frauen ebenso respektiert wie Religionsfreiheit und Demokratie.

Der politische Beobachter El-Sayed misstraut Aboul Fotouh. Einziger Grund für sein Zerwürfnis mit der Führung der Muslimbrüder sei allein seine Forderung gewesen, die 84 Jahre alten autokratischen internen Führungsstrukturen der Brüderschaft zu reformieren, betonte der Analyst. "Allein schon seine Ansichten von der Übernahme der Scharia als islamisches Rechtssystem beweisen, dass er ein konservativer Islamist geblieben ist", betonte El-Sayed. Im Gegensatz zu Moussa seien jedoch Aboul Fotouhs Gegnerschaft zum alten Regime und seine revolutionäre Glaubwürdigkeit unbestreitbar. (Ende/IPS/mp/2012)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Mai 2012