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NAHOST/920: Die Arbeiter in Ägypten - was von der Revolution geblieben ist (spw)


spw - Ausgabe 2/2012 - Heft 189
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Die Arbeiter in Ägypten - was von der Revolution geblieben ist

Von Irene Weipert-Fenner



Relativ unbeachtet von der breiteren Öffentlichkeit in westlichen Medien, war in Ägypten seit 2004 die größte Welle von Arbeiterprotesten seit dem Zweiten Weltkrieg entstanden. Etwa zwei Millionen Menschen hatten bis zum Ausbruch der Revolution des Jahres 2011 an Streiks, Versammlungen und Sit-ins teilgenommen. Auch bei den öffentlichen Protesten, die den Sturz des Präsidenten Husni Mubarak zur Folge hatten, waren Arbeiter gerade in den letzten Tagen maßgeblich beteiligt. Doch wofür waren die Arbeiter jahrelang auf die Straße gegangen? Und was hat sich bis heute, ein Jahr nach der sogenannten Revolution des 25. Januar, tatsächlich geändert?


Die Geschichte der ägyptischen Arbeiter

Das Engagement einer modernen Arbeiterklasse in Ägypten ist in der Tat keine Neuerung, sondern blickt auf eine über 100jährige Geschichte zurück. Jene Erfahrungen prägen das Verhältnis von Arbeitern und politischen Akteuren bis heute. Hier ein kurzer Überblick über die wichtigsten Etappen der ägyptischen Arbeitergeschichte.

Seit Ende des 19. Jahrhunderts bereits aktiv, waren Arbeiter maßgeblich an der nationalistischen Revolte 1919 gegen die britische Besatzung beteiligt. Zunächst bevormundet von politischen Parteien gründeten die Arbeiter in den 1930er Jahren die ersten Gewerkschaften. Mit der ansteigenden Zahl der Industriearbeiter wuchs auch das Druckpotential von Arbeiterprotesten, die trotz erheblicher staatlicher Repression durchgeführt wurden.

Mit der Machtübernahme durch die Freien Offiziere 1952, die sich die vollständige Unabhängigkeit Ägyptens, soziale Gerechtigkeit und die Beendigung des Feudalismus auf die Fahnen geschrieben hatten, hofften die Arbeiter auch auf die Erfüllung ihrer Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen und unabhängigen Gewerkschaften. Präsident Gamal Abdel Nasser (1954-70) hingegen führte einen populistischen Staatskorporatismus ein, der zwar höhere Löhne und Beschäftigungszahlen sowie ein verbessertes Gesundheits- und Bildungssystem bot, dafür jedoch einen staatlich gelenkten Gewerkschaftsverband gründete, der keine demokratische Arbeitermitbestimmung zuließ und in dieser Form bis heute existiert.

Mit der Öffnungspolitik (infitah) des Präsidenten Anwar Sadat (1970-81) begann Ägypten den Weg wirtschaftlicher Liberalisierung und Privatisierung zu beschreiten, was vor allem zur Beschneidung öffentlicher Ausgaben und der Lockerung des Kündigungsschutzes führte. Allein die Ankündigung, die Brotsubventionen streichen zu wollen, löste die bis heute im kollektiven Gedächtnis verankerten Unruhen des Jahres 1977 aus, an denen auch Arbeiter beteiligt waren. Trotz weiterer Arbeiterproteste zwischen 1984 und 1989 schrieben IWF und Weltbank ein Strukturanpassungsprogramm vor, das den Washington Consensus weiter vorfolgte. Auch hiergegen kam es Mitte der 1990er Jahre zu Arbeiteraktionen.


Die große Streikwelle 2004-2010

Ab 2004 wurde das "Reformtempo" durch die sogenannte neue Garde um den Sohn des Präsidenten, Gamal Mubarak dramatisch erhöht. Diese Gruppe umfasste zahlreiche Großunternehmer, die Posten in der Regierung, im Parlament und der Regierungspartei einnahmen. Die Zahl der (zumeist korrupten) Privatisierungen stieg immens, und als Folge damit auch die Zahl der Kündigungen, befristeten Arbeitsverträge und Niedriglöhne. Bei zeitgleicher jährlicher Inflation um die 10 Prozemnt kam es zu der letzten großen Protestwelle vor der Revolution.

Kennzeichnend für diese Welle an Protesten war erstens, dass die meisten Aktionen jeweils unternehmensspezifische Forderungen verfolgten wie höhere Löhne, Bonuszahlungen oder eine verbesserte Sicherheit am Arbeitsplatz.

Zweitens bildete sich eine politisierte Schicht von Arbeitern erst allmählich und vorwiegend an Industriestandorten mit jahrzehntelang zurückreichenden Erfahrungen im Arbeitskampf heraus. Sie entwickelten gemeinsame Forderungen, wie die nach unabhängigen Gewerkschaften und der Anhebung des nationalen Mindestlohns auf 1200 L.E. (ägyptische Pfund; ca. 150 Euro). Im Unterschied zu den firmenbezogenen Zielen, bei denen das autoritäre Regime des Öfteren Konzessionen gewährte, um wieder Ruhe herzustellen, wurden die politischen Forderungen lange Zeit kategorisch abgelehnt.

Drittens versuchte das Regime, das bestehende Misstrauen der Arbeiter gegenüber politischen Akteuren zu erhalten und sämtliche Annäherungsversuche von Arbeitern und politischer Opposition im Keim zu ersticken. Hier wurde äußerst repressiv vorgegangen, wie am Beispiel der Textilfirma Ghazl al-Mahalla deutlich wurde. Als die Textilarbeiter für den 6. April 2008 einen Streik planten, griffen junge Internetaktivisten dies auf und riefen zu einem landesweiten Generalstreik auf. Dieser verlief zwar im Sande, aber dafür griffen staatliche Sicherheitskräfte in Mahalla al-kubra, dem Standort der Firma, gewaltsam durch und es kam zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen über mehrere Tage hinweg.

Viertens jedoch gab es, anders als in den Jahrzehnten zuvor, in den 2000er Jahren eine zum Teil unabhängige Medienlandschaft (Satellitenfernsehen, Tageszeitungen, Blogs), die weiter über die Streiks und die staatliche Gewalt berichteten. Dies schloss Repression als einziges Mittel gegen die Arbeiter aus und mobilisierte zudem weitere Arbeiter, die durch die Berichterstattung Protesttechniken anderer Standorte übernahmen und weiterentwickelten. Hierbei verbreiteten sich Protestformen wie der friedliche Sit-in und es entwickelte sich ein gemeinsamer Ort heraus, an dem zahlreiche Proteste stattfanden, Downtown Kairo vor dem Parlament und den Regierungsgebäuden. Hier kampierten in den Jahren 2009 und 2010 beinahe täglich Arbeiter aus unterschiedlichen Firmen und mit differierenden Forderungen. Im Zuge dessen kamen auch Bürger mit anderen Belangen wie körperlich Behinderte oder Bewohner ungeplanter Siedlungen (ashwa'iyyat) zu diesen Orten, um für ihre Interessen einzutreten.

Neben zahlreichen kleinen Zugeständnissen konnten die Arbeiter bis zur Revolution einige formale Änderungen erreichen. So gründeten sich erste unabhängige Gewerkschaften, die jedoch eher toleriert denn tatsächlich anerkannt wurden. Der nationale Mindestlohn wurde auf 400 L.E. angehoben, was angesichts der gerade seit 2008 rasanten Inflation nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein bedeutete. Strukturelle Lösungen hatte es bis dato nicht gegeben, dafür eine sich verschlimmernde sozioökonomische Lage, nicht nur für die Arbeiter, sondern insbesondere für die Beschäftigten im informellen Sektor, der in Ägypten ca. 40 Prozent des Arbeitsmarkts ausmacht, und natürlich für die große Zahl an jugendlichen Arbeitslosen. Daher verwundert es nicht, dass in Umfragen über 60 Prozent der Befragten sozioökonomische Gründe für die Unterstützung der Revolution angaben.[1]


Die Arbeiter und die Revolution

Die ersten Tage der Proteste, die von den Ägyptern die Revolution des 25. Januar genannt werden, waren maßgeblich von einigen Jugendbewegungen organisiert, allerdings auch in Zusammenarbeit mit den Arbeitern aus den bekannten Arbeiterstädten al-Mahalla al-kubra, Helwan, al-Sadat und 10th Ramadan City, die sich bereits in den letzten Jahren zunehmend politisiert hatten. Einige Ziele der Arbeiter waren auch in den Forderungskatalog der Kundgebungen aufgenommen wurden, darunter die Erhöhung des Mindestlohns und die Bindung der Löhne an die Preisentwicklung.

Auf dem Tahrir-Platz traten anfangs nur die Arbeiter als Gruppe auf, die bereits unabhängige Gewerkschaften gegründet hatten. Zu diesem Zeitpunkt schien die Stimmung zu überwiegen, über Klassen- und konfessionelle Grenzen hinweg als geeintes Volk aufzutreten. Außerdem wurde die soziale Seite der Revolution, wie sie die Arbeiter verfolgten, als ausreichend vertreten angesehen, unter anderem im allgemeinen Slogan "Ish, Huriyya, Adala ijtima'iyya (Brot, Freiheit, soziale Gerechtigkeit).

Ein Meilenstein während der Revolution war für die Arbeiter, als am 30. Januar Vertreter der erwähnten Arbeiterstädte zusammen mit den bereits bestehenden unabhängigen Gewerkschaften die Gründung eines unabhängigen Gewerkschaftsdachverbands ausriefen. Hier emanzipierten sich die Arbeiter vom staatlich gelenkten Dachverband, der sogar aktiv gegen die Revolution mobilisiert hatte. Zwar war damit die Frage der gewerkschaftlichen Organisation in Ägypten keineswegs gelöst, aber der Anfang einer institutionellen Befreiung und Neuordnung getan.

Die eigentliche Bedeutung der Arbeiter für die Revolution ergab sich jedoch erst in den letzten Tagen: Das Mubarak-Regime, das mit Beginn der Proteste sämtliche Firmen geschlossen hatte, dachte wohl, mit dem Wiedereröffnen der Betriebe die Menschen weg vom Tahrir-Platz zurück zu business as usual zu bringen. Stattdessen kam es am 9. und 10. Februar, den letzten beiden Tagen, zu mehr als 100 Protestaktionen der Arbeiter mit mehr als 260.000 Teilnehmern, was viele Aktivisten als letzten Schlag für Mubarak sahen.[2] Ob dies nun an der schieren Masse lag oder an der Beteiligung strategisch wichtiger Arbeiter, wie z.B. im öffentlichen Transport in Kairo, oder ob tatsächlich Arbeiter in vom Militär kontrollierten Firmen streikten und damit der Armee die Motivation verschafften, Mubarak aus dem Amt zu drängen, ist bis dato nicht zu klären. In jedem Fall kann man festhalten, dass ähnlich dem Ausbrechen der Revolution auch diese Protestwelle zumeist dezentral und spontan entstanden war und nicht auf eine Organisation oder gar eine Führungspersönlichkeit zurückzuführen ist.


Nach der Revolution: alles beim Alten?

Kaum hatte der Jubel über den Sturz Husni Mubaraks etwas nachgelassen, begann der Oberste Militärrat, der die Macht übernommen hatte, über die Übergangsregierung von Premierminister Sharaf zu altbekannter Politik zurückzukehren. Vor der Revolution waren sämtliche Streiks, die nicht vom staatlich gelenkten Dachverband bewilligt waren, bereits illegal gewesen. Nun wurde - bereits im März! - ein Gesetz erlassen, das Proteste, Versammlungen und Streiks verbietet, die öffentliche und private Unternehmen behindern. Verstöße können nun mit Geldstrafen bis zu einer halben Million L.E. (ca. 60.000 Euro) und Gefängnisstrafen von bis zu einem Jahr geahndet werden. Zudem wurden zahlreiche Streiks durch, wahrscheinlich von der Armee angeheuerte, Rowdies gewaltsam auseinandergetrieben und einige Arbeiteraktivisten vor Militärgerichte gestellt.

Dieses Vorgehen gegen die Arbeiter wurde begleitet von einer äußerst negativen Darstellung jeglicher Proteste in den staatlich gelenkten Medien. Wurden junge Aktivisten und NGO-Mitarbeiter als vom Ausland gesteuerte Unruhestifter gebrandmarkt, so wurden die Arbeiteraktionen als Sonderinteressen verfolgende Proteste (ihtijajat fi'awiyya) dargestellt. Indem die nationale Einheit beschworen wurde, die es nun zu wahren gelte, um die wirtschaftlich sehr schwierigen Zeiten zu überstehen, wurde sämtliche Artikulation von Gruppeninteressen delegitimiert. Besonders der beinahe zum Erliegen gekommene Tourismus wurde als Opfer der Arbeiterproteste dargestellt. Über die wirtschaftlichen Reformen, die zu einer Verarmung breiter Bevölkerungsschichten und der Bereicherung einer kleinen Elite geführt hatten, wurde hingegen nicht diskutiert. In der Tat hatte die Armee, die über einen substantiellen, wenn auch nicht offiziell bekannten Teil der ägyptischen Wirtschaft verfügt, ihren Vorteil aus der Revolution gezogen und den Kreis der Wirtschaftseliten um Gamal Mubarak allesamt inhaftieren lassen. Damit war das Haupthindernis für die weitere wirtschaftliche Expansion der Armee bei Seite geschafft und eine Diskussion über Wirtschaftsfragen somit unerwünscht.

Die ablehnende Haltung gegenüber den Arbeiterstreiks wurde auch von zahlreichen politischen Parteien und Gruppen unterstützt. So sprachen sich die Wahlsieger der ersten postrevolutionären Parlamentswahlen, die Muslimbrüder und deren neu gegründete Freiheits- und Gerechtigkeitspartei, nicht gegen die Unterdrückung aus und unterstützten sie in einigen Fällen sogar. Dies mag damit zusammenhängen, dass einige wichtige Mitglieder der Bruderschaft selbst Unternehmer sind und die Bruderschaft sowie bisher auch die Partei die freie Marktwirtschaft propagieren. Zudem war offensichtlich, dass die Muslimbrüder sich solange nicht gegen die Armee stellen würden, bis zumindest die Parlamentswahlen erwartungsgemäß den Muslimbrüdern eine satte Mehrheit beschafft haben würden. Andererseits gibt es auch Verbindungen zwischen Muslimbrüdern und Arbeitern. So hatten einige Abgeordnete der Muslimbrüder vor der Revolution beispielsweise die Forderung der Arbeiter nach einem nationalen Mindestlohn ins Parlament eingebracht. Dies weist auf die Heterogenität der Bruderschaft hin und zeigt, dass momentan noch nicht klar ist, wie sich die Bruderschaft in Zukunft gegenüber den Arbeitern verhalten und welchen sozial- und wirtschaftspolitischen Kurs sie einschlagen wird.

Die ultrakonservativen Salafisten, die im Mubarak-Regime politisch nicht aktiv gewesen waren und auch die Revolution erst unterstützten, alsdieseerfolgreichbeendet war,sprechen sich generell gegen öffentliche Proteste aus. Aber auch säkulare wirtschaftsliberale Parteien haben sich vom andauernden Engagement der Arbeiter distanziert.

Im linken Spektrum sind seit der Revolution zahlreiche Parteien gegründet worden, die jedoch im aktuellen Parlament de facto keine Rolle spielen. Wahrscheinlich haben sich hier die meisten Arbeiter aufgrund eines wenig ausgeprägten Klassenbewusstseins von den politisch erfahrenen und sozial engagierten Muslimbrüdern vertreten gesehen. Es wird sich zeigen, wohin sich die Wirtschaftspolitik der Partei der Bruderschaft entwickelt und ob dies Auswirkungen auf das Wählerverhalten haben wird.

Die zentrale Frage der Gewerkschaftsfreiheit ist bis dato noch nicht geklärt und ein neues Gewerkschaftsgesetz wird seit längerem diskutiert. Es existieren im Moment zwei unabhängige Dachverbände neben dem alten staatlichen, sowie zahlreiche Gewerkschaften, die sich keinem Dachverband anschließen wollen. Zudem sind viele Gewerkschaften nicht landesweit organisiert, sondern vertreten Arbeiterinteressen auf Betriebs- oder Distriktebene sowie sektorweit in einer Industriezone.

Weiterhin wird die Lohnstruktur diskutiert. Zwar wurde der Mindestlohn zum 1. Januar 2012 auf 700 L.E. (85 Euro) im öffentlichen und privaten Sektor angehoben, jedoch liegt er damit immer noch weit unter den geforderten 1200 L.E. Zudem wird die Implementierung kaum überprüft und es wird sich zeigen, inwiefern sich gerade private Unternehmen daran halten werden. Seit einigen Jahren wurde auch die Einführung eines Maximallohns diskutiert. Vorschläge auf Seiten der Arbeiterschaft liegen bei einem Verhältnis von Maximallohn und Mindestlohn von 1:10 oder 1:15. Im März 2012 hat die Regierung nun einen Maximallohn auf der Basis 1:35 eingeführt.

Eine weitere wichtige Neuerung ist die Annullierung von Privatisierungsprozessen, die in den letzten Jahren vorgenommen wurden. Dies kann bei offengelegter Korruption bei der Privatisierung erfolgen oder wenn entgegen des Verkaufsvertrags Massenentlassungen vorgenommen wurden. Einige Fälle waren bereits vor Verwaltungsgerichten erfolgreich. Bisher wurde jedoch erst ein Unternehmen tatsächlich seinem Eigentümer abgenommen, was jedoch nicht gleichzusetzen ist mit einer Wiederverstaatlichung, die von vielen Arbeitern auch gar nicht gewünscht wird. Mit diesen Vorhaben sind jedoch zahlreiche Probleme verbunden. Oft wurden die Staatsbetriebe an Getreue des bestehenden Regimes zu Spottpreisen verkauft, wobei jene die Firmen schnell mit einer beträchtlichen Gewinnspanne wieder verkauften. Viele Unternehmen wechselten diverse Male die Besitzer und dabei stellt sich nun das Problem, ob man die aktuellen Eigentümer entschädigen müsse und wenn ja, zu welchem Preis. Sollte der beinahe zahlungsunfähige Staat seine ehemaligen Unternehmen teuer zurückkaufen? Dies wird zusätzlich dadurch verschärft, dass viele Firmen in den Händen ausländischer Investoren gelandet sind. Eine Enteignung ausländischer Eigentümer würde die Fälle vor internationale Schiedsgerichte bringen, ein Imageverlust, den gerade der Oberste Militärrat scheut. Denn auch weiterhin wird propagiert, dass das Heil der ägyptischen Wirtschaft in ausländischen Investitionen liegen würde. Dies erklärt zudem, warum der Militärrat bisher auf die Annullierung von Privatisierungen nicht reagiert hat.

Ein Jahr nach der Revolution ist die soziale Frage in Ägypten nach wie vor ungeklärt, worauf die nicht nachlassenden Streiks und Sit-ins der Arbeiter trotz erheblicher staatlicher Repression hinweisen. Die Inflation ist immer noch hoch (ca. 10 Prozent) und es fehlt an Konzepten, die Wirtschaft des Landes wieder in Gang zu bringen und Armut und soziale Ungleichheit zu bekämpfen. Ob sich dies im neu entstehenden politischen System ändern wird, ist im Moment noch nicht klar. Es bleibt abzuwarten, wie die neue Verfassung und beispielsweise das neue Gewerkschaftsgesetz aussehen werden und wie sich das Verhältnis von Armee zur Politik und vor allem zur Muslimbruderschaft entwickeln wird. Viel wird auch davon abhängen, ob die breitere ägyptische Öffentlichkeit die Arbeiter trotz der Medienpropaganda gegen Streiks und Proteste unterstützten wird. Sicher ist allein, dass im Vergleich zu früheren Zeiten die Arbeiter ein neues Bewusstsein haben, dass Veränderung möglich ist. Daraus resultiert ein Wille, für die eigenen Rechte einzutreten, der nur schwer zu brechen sein wird.


Irene Weipert-Fenner ist Politologin mit Schwerpunkt Nahost und promoviert an der Goethe-Universität Frankfurt zum Parlament und öffentlichen Protesten in Ägypten.


ANMERKUNGEN

[1] International Republican Institute: Egyptian Public Opinion Survey. Befragung von April 2011,veröffentlicht im Juni 2011.
http://www.iri.org/sites/default/files/2011%20June%205%20Survey%20of%20Egyptian%20Public%20Opinion,%20April%2014-27,%202011_0.pdf, (letzter Zugriff 17. Februar 2012).

[2] al-Shorouq, 25. Januar 2012

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 2/2012, Heft 189, Seite 23-27
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Mai 2012