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NAHOST/929: Libyen - Zwischen den Fronten, Ex-Gaddafi-Vertrauter soll Land zum Frieden führen (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 12. Juli 2012

Libyen: Mann zwischen den Fronten - Ex-Gaddafi-Vertrauter soll Land zum Frieden führen

von Mel Frykberg


Betende Muslime im Zentrum von Tripolis - Bild: © Karlos Zurutuza/IPS

Betende Muslime im Zentrum von Tripolis
Bild: © Karlos Zurutuza/IPS

Tripolis, 12. Juli (IPS) - Mahmud Dschibril ist in Libyen zum neuen Hoffnungsträger aufgestiegen. Viele Menschen im Land rechnen fest mit seinem Wahlsieg und hoffen, dass er die Klüfte zwischen den rivalisierenden Milizen überbrücken wird. Sie glauben, dass Dschibrils liberale Allianz der Nationalen Kräfte (NFA) auch Parteien mit gegensätzlichen Ideologien einen und somit Gegner wie Anhänger des gestürzten Diktators Muammar al-Gaddafi miteinander versöhnen kann.

Dass Dschibrils Bündnis aus etwa 40 vorwiegend säkularen politischen Gruppierungen am 7. und 8. Juli die ersten demokratischen Wahlen in Libyen seit fast 50 Jahren gewonnen hat, wird nach den bisher veröffentlichten Zwischenergebnissen immer wahrscheinlicher. An dem Urnengang beteiligten sich 130 Parteien und etwa 2.500 unabhängige Kandidaten. Von den 200 Sitzen im Parlament werden 80 an von den Parteien aufgestellte Bewerber vergeben. Die übrigen Mandate gehen an direkt gewählte Politiker.

Ein Sieg Dschibrils würde dem Trend widersprechen, der sich seit dem Arabischen Frühling in der Region gezeigt hat. Politische Beobachter hatten im Vorfeld der Wahlen in Libyen angenommen, dass eher die Partei für Gerechtigkeit und Wiederaufbau (JRP) der Muslimbruderschaft gemeinsam mit der islamistischen al-Watan-Partei das Rennen machen würde.

Trotz der starken Position der NFA scheint es allerdings noch nicht ausgeschlossen, dass die islamistischen Kandidaten doch noch Boden gutmachen können. Denn es sind bisher längst nicht alle Stimmen ausgezählt.

Dschibril wandte sich dennoch bereits an seine Gegner und forderte sie auf, eine nationale Koalition einzugehen. Obgleich Großmufti Scheich Sadik Al-Ghariani eine Fatwa gegen die NFA verkündet hat und ein öffentlicher Erlass die Bevölkerung vor der Stimmabgabe für weltliche Kandidaten warnte, zieht die JRP offenbar Dschibrils Angebot in Betracht.


Idealer Kandidat für Gaddafis Feinde und Anhänger

Der NFA-Vorsitzende zeigt Respekt sowohl gegenüber den Anhängern als auch den Feinden von Gaddafi. "Er verfügt über eine gute Bildung und internationale Erfahrung. Deshalb ist er der beste Mann, der Libyen momentan führen kann", meint der 29-jährige Lehrer Majdi Schatawi, der früher Gaddafi unterstützte und die Revolution für einen Fehler hält.

Auf der entgegengesetzten Seite des Spektrums befindet sich der Polizist Khaled Hamscha, der in den Reihen des Rebellen gegen den Diktator kämpfte. Auch der 21-Jährige, der aufgrund einer Schussverletzung an Krücken läuft, hält die NFA für die beste Option. "Dschibril ist ein intelligenter Geschäftsmann", erklärt er. "Er ist ehrlich, besitzt politische Erfahrung und hat den Revolutionären viel von seinem eigenen Geld gegeben, damit sie Gaddafi stürzen konnten. Dabei war er früher selbst Mitglied in dessen Regierung."

Dschibril machte 1975 seinen Abschluss in Ökonomie und Politikwissenschaften an der Universität von Kairo und erwarb dort 1980 einen Master, bevor er in den USA weiterstudierte und 1985 an der Universität Pittsburgh einen Doktortitel erwarb. In Pittsburgh lehrte er mehrere Jahre lang strategische Planung.

Von 2007 bis Anfang 2011 war Dschibril in der Gaddafi-Regierung Vorsitzender des Nationalen Planungsrats und des Nationalen Ausschusses für Wirtschaftsplanung. Während des Bürgerkriegs wechselte er dann die Seite und wurde schließlich zum Chef des Nationalen Übergangsrats (NTC) ernannt.

Seine Unterstützung für die Aufständischen und der Rückhalt, den er zugleich bei früheren Gaddafi-Getreuen genießt, lassen ihn als idealen Kandidaten erscheinen, der die in dem blutigen Konflikt entstandenen Gräben schließen könnte. Kritiker halten ihn allerdings für einen Opportunisten.

Laut libyschen Presseberichten bereiten sich Aufständische im ganzen Land angeblich schon darauf vor, gegen Dschibril zu protestieren. Sie werfen ihm demnach vor, ihre Revolution verraten zu haben.


Kritiker warnen vor Vetternwirtschaft

Der ehemalige Rebellenkämpfer Suheil al Lagi erklärt, dass viele seiner früheren Mitstreiter mit Dschibril und seinem Bündnis unzufrieden seien. "Wir haben nicht unsere Leben und unser Blut gegeben, um von den korrupten und gierigen Führern, die wir jetzt haben, regiert zu werden. Wenn die Dinge weiter in diese Richtung laufen, werden wir wieder zu den Waffen greifen müssen."

Frühere Kämpfer beschuldigen die Übergangsregierung der Vetternwirtschaft. Posten in Regierung und Diplomatie seien für ihre Günstlinge bestimmt, kritisieren sie.

Dschibril sieht sich darüber hinaus der Kritik von Föderalisten ausgesetzt, die eine größere Autonomie für den Osten des Landes verlangen. Föderalisten waren in den vergangenen Wochen für eine Reihe brutaler Angriffe gegen den Staat verantwortlich. Sie schossen einen Hubschrauber ab, steckten Gebäude der Regierung in Brand und sabotierten mehrere Ölförderanlagen.

Ein weiteres Problem der künftigen Regierung besteht darin, dass die Milizen, die nach wie vor Teile des Landes unter ihrer Kontrolle halten, den Sicherheitskräften oftmals zahlenmäßig und in der Ausstattung mit Waffen überlegen sind. (Ende/IPS/ck/jt/2012)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Juli 2012