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OSTEUROPA/308: Massenmord in Srebrenica - Wer hat überhaupt das Kommando geführt?" (guernica)


guernica Nr. 2/2009, April/Mai 2009
Zeitung für Frieden & Solidarität, Neutralität und EU-Opposition

Massenmord in Srebrenica:

Wer hat überhaupt das Kommando geführt?"


Germinal Civikov ist 1945 in der bulgarischen Donaustadt Russe geboren. Seine Opposition gegen den Einmarsch des Warschauer Paktes in Prag 1968 brachte ihn in der Folge ins Gefängnis; später emigrierte er in die Niederlande, wo er in Leiden Germanistik und Literaturwissenschaften studierte. Als Journalist arbeitete Civikov Jahrzehnte lang für die "Deutsche Welle", zuletzt auch als Beobachter des Jugoslawien-Tribunals in Den Haag. Anlässlich einer Präsentation seines neuen Buches "Srebrenica. Der Kronzeuge" in Wien führte er mit dem Verleger Hannes Hofbauer das folgende Gespräch.


HOFBAUER: "Srebrenica. Der Kronzeuge" handelt von einem bosnischen Kroaten, Drazen Erdemovic, der in der 10. Sabotageeinheit der bosnisch-serbischen Armee gedient hat und sich - nach eigenem Schuldeingeständnis, an der Ermordung von 1200 Muslimen beteiligt gewesen zu sein - dem Jugoslawien-Tribunal als Kronzeuge zur Verfügung stellte. Festgenommen wurde er aber in Serbien unter der Regierungszeit von Slobodan Milosevic. Wie kam es zu der Auslieferung nach Den Haag?

CIVICOV: Sobald dem Tribunal bekannt wurde, dass in Novi Sad ein gewisser Drazen Erdemovic festgenommen wurde, der gestanden hatte, an einem Massenmord bei Srebrenica beteiligt gewesen zu sein, hat Den Haag sofort seine Auslieferung beantragt und starken Druck in diese Richtung ausgeübt. Die damaligen jugoslawischen Behörden hatten nichts dagegen, Erdemovic und seinen Freund dem Tribunal in Den Haag zur Verfügung zu stellen. Allerdings war nicht von einer Auslieferung die Rede, sondern die jugoslawische Justiz stellte die beiden für einen Monat dem Tribunal zur Verfügung. In den Haag hat man dann den einen freigelassen, der am Massenmord nicht beteiligt war, und Erdemovic hat man selber gerichtet. Das Tribunal in Den Haag fand es nicht nötig, die Abmachung mit Belgrad einzuhalten.

HOFBAUER: Erdemovic ist in der Folge zum Kronzeugen geworden. Jeder Kronzeugenregelung geht ein Deal zwischen dem Gericht und dem Delinquenten voraus. Was war der Deal?

CIVICOV: Aus mehreren Aussagen geht hervor, dass Erdemovic Straffreiheit erwartet hat. Dies hätte man ihm zugesagt, wie er z. B. in einem Gespräch mit der französischen Zeitung "Le Figaro" betonte. Der Deal mit dem Tribunal bestand offensichtlich darin, dass er die Tat gestehen und die gesamte Anklage ausschließlich auf seinem Geständnis basieren sollte.

HOFBAUER: Zu welcher Strafe ist Drazen Erdemovic verurteilt worden?

CIVICOV: In erster Instanz ist er zu zehn Jahren wegen "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" verurteilt worden. In einer Revision erhielt er dann wegen "Verletzung der Gesetze und Gebräuche der Kriegsführung" fünf Jahre, wobei nicht einmal mehr Mord in der Anklage vorkam. Davon hat er dreieinhalb Jahre abgesessen und ging anschließend mit einer neuen Identität frei. Es war einzig seine Zeugenaussage, die - in Abwesenheit der bosnisch-serbischen Führung - das Verfahren gegen Ratko Mladic und Radovan Karadzic eröffnet hat. Die nicht überprüfte, nur auf dem eigenen Geständnis beruhende Aussage von Erdemovic war die Grundlage für die Haftbefehle gegen Mladic und Karadzic. Nach seiner Enthaftung hat sich Erdemovic immer wieder als Zeuge der Anklage, z. B. gegen Slobodan Milosevic, zur Verfügung gestellt.

HOFBAUER: Der Kern des Buches "Srebrenica. Der Kronzeuge" ist die Erkenntnis, dass das Gericht die Mittäter dieses Massenmordes, die Erdemovic alle mit Namen nennt, nicht verhört. Um wie viele Mittäter geht es und warum werden die nicht einvernommen?

CIVICOV: Es sind sieben Mittäter. Alle sind namentlich bekannt. Ein einziges Mal hat der französische Richter Claude Jorda an die Ankläger die dringende Frage gestellt, was hier los sei? Wir sind erstaunt, meinte er, dass einzig Erdemovic für die Tat gerade steht, was ist mit den anderen Tätern? Daraufhin hat der Ankläger geantwortet, dass man daran arbeiten würde. Das war im September 1996, seither ist nichts passiert. Die Frage nach den Mittätern wurde nie wieder gestellt.

HOFBAUER: Für die 1200 Toten, die laut Erdemovic nahe von Srebrenica auf der Branjevo-Farm ermordet wurden, hat sich das Gericht also begnügt, einzig Erdemovic dreieinhalb Jahre hinter Gitter zu setzen, und ihm anschließend eine neue Identität verpasst.

CIVICOV: Ja. Die anderen Täter leben in Serbien oder den USA, ihre Aufenthaltsorte sind bekannt, einer ist in der Zwischenzeit verstorben, manche geben sogar Interviews und treten öffentlich auf.

HOFBAUER: Was steckt hinter der Weigerung des Tribunals, diese Mittäter an dem Massenmord zu verhören?

CIVICOV: Man will nicht mit den Aussagen der anderen die sehr widersprüchlichen und unglaubwürdigen Angaben von Erdemovic in Gefahr bringen. Z. B. was die Anzahl der Opfer betrifft, aber auch, was dahinter steckt. Aus den Angaben von Erdemovic wissen wir, dass Geld und Gold verteilt worden ist. Wer hat das getan? Wer hat überhaupt das Kommando geführt? Das ist eine ganz wichtige Frage. Erdemovic behauptet, der Befehl für diese Erschießung sei direkt vom Generalstab der bosnisch-serbischen Armee gekommen, sprich von Mladic. Das ist die Behauptung eines einfachen Soldaten, er kann das gar nicht wissen. Aber sein Kompaniechef, Pelemis, muss es wissen. Der jedoch lebt unbehelligt in Belgrad und keiner fragt ihn. Auch für Oberst Salapura, der von Erdemovic schwer belastet wird, interessiert sich in Den Haag niemand.

HOFBAUER: Es gibt eine Vermutung, wer dahinter stecken könnte, die auch im Prozess geäußert worden ist; und zwar im Kreuzverhör zwischen Slobodan Milosevic und Drazen Erdemovic. Damals hat Milosevic behauptet, dass hinter den Massenerschießungen der französische Geheimdienst gestanden sei, der sich in die Befehlskette zwischen Mladic und Exekutionskommando eingeschaltet habe. Ist da etwas dran?

CIVICOV: Das kann ich als einzelner Journalist nicht herausfinden. Das wäre Sache der Medien, die mehr Ressourcen haben, und vor allem des Tribunals. Nur das nimmt seinen Auftrag nicht Ernst.

HOFBAUER: Welche Ansatzpunkte für die Behauptung von Milosevic gibt es?

CIVICOV: Milosevic hat z. B. von einem Treffen mit dem französischen General Phillipe Morillon berichtet, dem Kommandanten der UNO-Truppen in Bosnien, und davon, dass einige der Täter französische Pässe besitzen, weil sie in der Fremdenlegion gedient haben. Eine der interessenten Figuren in diesem Geflecht ist Jugoslav Petrusic, der zwar nicht bei der 10. Sabotageeinheit war, aber gemeinsam mit dem Kommandanten Pelemis in der Organisation "Die Spinne" ("Pauk") tätig war. Petrusic hat für den französischen Geheimdienst gearbeitet. Die Mitglieder der "Spinne" wurden 1999 in Belgrad verhaftet, weil sie ein Attentat auf Milosevic geplant haben sollen. Fünf von ihnen, so lautete die serbische Anklage, sollten im Auftrag des französischen Geheimdienstes an den Morden in Srebrenica beteiligt gewesen sein und im Kosovo Verbrechen verübt haben.

HOFBAUER: Wie ist der Prozess ausgegangen?

CIVICOV: Gar nicht. Sofort nach dem Sturz von Milosevic wurden die Mitglieder der "Spinne" aus der Untersuchungshaft freigelassen. Seither gab es drei neue Versuche serbischer Gerichte, diese Leute anzuklagen.

HOFBAUER: Während der Präsentation des Buches und auch in bosnischen Internetforen wurde Kritik laut, das Buch würde die Verbrechen in Bosnien relativieren. Was ist dazu zu sagen?

CIVICOV: Ich relativiere die Anzahl der Opfer in Pilica auf der Branjevo-Farm, worüber der Erdemovic-Prozess gegangen ist. Ich finde die Zahl 1200 empirisch und praktisch zu hoch und führe dies im Buch aus. Hinter dieser Zahl steckt weniger die Wahrheit als ein politischer Wille. Demgemäß soll ein Völkermord festgelegt werden, um die NATO-Interventionen zu rechtfertigen.

HOFBAUER: Ist man in Bosnien daran interessiert, die Mittäter an dem Massaker vor Gericht zu bringen?

CIVICOV: Während der Veranstaltung in Wien habe ich das erste Mal davon gehört, dass so etwas in Vorbereitung sein soll. Die Justizbehörden in Sarajevo sollen angeblich daran arbeiten. Ich würde das begrüßen, bezweifle es jedoch. Mir jedenfalls geht es um das Tribunal in Den Haag. Und das ist an der Wahrheit nicht interessiert.


Von Germinal Civikov soeben im Promedia Verlag erschienen: "Srebrenica. Der Kronzeuge", 184 Seiten, 15,90 Euro.

Anmerkung der Schattenblick-Redaktion:
Eine Rezension zu "Srebrenica. Der Kronzeuge" ist zu finden unter: www.schattenblick.de -> Infopool -> Buch -> Sachbuch -> REZENSION/472: Civikov, Germinal - Srebrenica. Der Kronzeuge (SB)


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Quelle:
guernica Nr. 2/2009, April/Mai 2009, Seite 13
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. November 2009