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OSTEUROPA/320: Ukraine - Wahlverliererin Frau Timoschenko ficht die Gültigkeit der Wahl an (Falkenhagen/Queck)


Ukraine: Parlament beschließt Amtseinführung des neu gewählten Präsidenten der Ukraine am 25. Februar.
Wahlverliererin Frau Timoschenko ficht die Gültigkeit der Wahl an und Haltung des Noch-Staatspräsidenten Juschtschenko ist noch unklar

Von Hans-Jürgen Falkenhagen und Brigitte Queck, 16. Februar 2010


Hinweis der Schatttenblick-Redaktion:

Dieser Artikel wurde vor der Entscheidung des Obersten Verwaltungsgerichts erstellt, welches am 17.02.2010 einer Überprüfung der Präsidentschaftswahl zugestimmt hat. Damit wurde das von der zentralen Wahlkommission verkündete Endergebnis zunächst außer Kraft gesetzt.
Einblick in die Vorgeschichte und Hintergründe der Gerichtsentscheidung gibt der Artikel von Brigitte Queck und Dr. Hans-Jürgen Falkenhagen.


Am 7. Februar fanden die Präsidentenstichwahlen zwischen den beiden Erstplazierten der ersten Wahlrunde vom 17. Januar 2010, Viktor Janukowitsch und Julija Timoschenko, statt. Das Wahlergebnis lag nach Auszählung von 100 Prozent der abgegebenen Stimmen am Mittwoch, den 10. Februar, vor. Sieger der Wahl ist Viktor Janukowitsch. Der Wahlsieg wurde am Sonntag, den 14. Februar, von der Zentralen Wahlkommission offiziell bestätigt. Ab diesen Termin muss der neugewählte Präsident lt. Artikel 104 der ukrainischen Verfassung innerhalb von 30 Tagen in sein Amt eingeführt und vereidigt sein. Das Parlament hat nun am 16. Februar mit 238 Stimmen die Amtseinführung für den 25. Februar, ab 10 Uhr Ortszeit, bestätigt (die Zahl von 238 Abgeordneten steht im Parlamentsitzungsbericht vom 16. Februar). Dafür stimmten aber offenbar nur die 172 Abgeordneten der Partei der Regionen, die 27 Abgeordneten der Kommunistischen Partei, die 20 Abgeordneten des Litwin-Blocks und die 7 fraktionslosen Abgeordneten. Das ergab eine einfache Mehrheit von 226 Abgeordnetenstimmen. Man kann davon ausgehen, dass die Differenz von 12 Stimmen aus den Reihen des "Blocks Julija Timoschenko" (BJUT) und des "Blocks Unsere Ukraine-Selbstverteidigung des Volkes" kamen, wobei das offensichtlich gegen Beschlüsse der Fraktionsführungen der letzteren beiden geschah. Anmerkung: Korrekturen der Abstimmungszahlen aus den einzelnen Fraktionen können noch erforderlich sein.

Üblicherweise hätte der Parlamentsbeschluss über die Amtseinführung des neu gewählten Präsidenten mit überwältigender Mehrheit der 450 Abgeordneten gefasst werden müssen.

Den Inaugurationstermin des neugewählten Präsidenten hatte das Parlament schon am 19. Januar beschlossen, damals aber auch mit allen 153 Stimmen der Abgeordneten des "Blocks Julija Timoschenko" (BJUT) und auch einer ganzen Reihe von Stimmen des "Blocks Unsere Ukraine-Selbstverteidigung des Volkes", die 71 Abgeordnete stellen.
Nach der Rechtslage ist der Inaugurationstermin 25. Februar unantastbar.
Auch das Wahlergebnis ist glasklar.

Das amtlich ermittelte Ergebnis der Stichwahl am 7. Februar steht als endgültiges Ergebnis am 17. Februar so in der Rubrik der Zentralen Wahlkommission - Präsidentenwahlen 2010. Der Anteil der beiden Endrundenkandidaten an den abgegebenen Wählerstimmen ergab sich für die gesamte Ukraine sowie nach Gebieten und Großstädten bzw. nach der Autonomen Republik Krim in Prozent wie folgt:

Der Kandidat Viktor Janukowitsch hat mit 48,95 % der abgegebenen Wählerstimmen mit einem Vorsprung von 3,48 % gewonnen. Frau Julija Timoschenko hat 45,47 % der Stimmen erhalten. Für Janukowitsch votierten 12 481 266 Wähler und Wählerinnen, für Frau Timoschenko 11 593 357. Das macht einen Unterschied von 887 909 Stimmen zu Gunsten von Janukowitsch aus. 1 113 055, das sind 4,36 % der Wähler und Wählerinnen, hatten "gegen alle" gestimmt, was nach dem ukrainischen Wahlrecht zulässig ist. Ungültig waren 1,19 % der abgegebenen Stimmen.

Nach Gebieten, der Autonomen Republik Krim und den beiden wichtigen Städten Kiew und Sewastopol aufgegliedert, ergibt sich folgendes Wahlergebnis (nach ukrainischem Alphabet) in %:



Gesamtukraine:
Autonome Republik Krim
Stadt Kiew
Stadt Sewastopol
Gebiet Winnizja
Gebiet Volyn' (Wolhynien)
Gebiet Dnepropetrowsk
Gebiet Donezk
Gebiet Schitomir (Schitimir):
Gebiet Zakarpatija: (Transkarpatien)
Gebiet Zaporoschje (Saporishshja)
Gebiet Iwano-Frankiwsk:
Gebiet Kiew
Gebiet Kirovohrad (Kirowgrad)
Gebiet Lugansk (Luhansk)
Gebiet Lwiw (Lwow)
Gebiet Nikolajew (Mikolajiv)
Gebiet Odessa
Gebiet Poltawa
Gebiet Rovno (Riwne)
Gebiet Sumy
Gebiet Ternopol (Ternopil)
Gebiet Chmelnizkij
Gebiet Charkow
Gebiet Cherson
Gebiet Tscherkassy
Gebiet Tscherniwzy
Gebiet Tschernigow (Tschernihiw)
Janukowitsch
48.95   
78,24   
25,72   
84,35   
24,26   
14,01   
62,70   
90,44   
36,70   
41,55   
71,50   
7,02   
23,61   
39,61   
88,96   
8,60   
71,53   
74,14   
38,99   
18,91   
30,40   
7,92   
24,94   
71,35   
59,98   
28,84   
27,64   
30,95   
Timoschenko
45,47  
17,31  
65,34  
10,38  
71,10  
81,85  
29,13  
6,45  
57,50  
51,66  
22,22  
88,89  
69,71  
54,66  
7,72  
86,20  
22,95  
19,52  
54,20  
76,24  
62,89  
88,39  
69,74  
22,43  
33,73  
65,37  
66,47  
63,63  

(s. auch www.rada.kiev.ua unter Präsidentenwahlen 2010)


Der Stimmenanteil lag für Janukowitsch im Osten, Nordosten und Süden der Ukraine durchschnittlich höher, der von Frau Timoschenko im Westen, Nordwesten und in der Mittelukraine höher.

Die Korrektheit und Fairness der Wahlen wurde von allen nationalen und internationalen Wahlbeobachtern bestätigt. Der Ukraine wurde sogar übereinstimmend eine mustergültige Wahldurchführung bescheinigt. Was gab es an dem Ergebnis eigentlich noch zu rütteln? Auffällig war aber schon am Wahltag, dass der noch amtierende Präsident Viktor Juschtschenko bei der Stimmabgabe am 7. Februar erklärte: "Das ukrainische Volk wird sich noch für diese Wahlen schämen müssen, noch mehr schämen müssen, als für die erste Präsidentenstichwahl im November 2004!", bei der auch Janukowitsch zuerst gewann und erst bei einer Ende Dezember angesetzten Wiederholungsstichwahl verlor. Damals verlor er gegen Juschtschenko, den Wunschkandidaten des Westens, was dann natürlich zur "richtigen" Wahl erklärt wurde.
Was beinhaltet eine solche Drohung?

Nur wenigen politischen Analytikern war es aufgefallen, dass der Noch-Präsident Juschtschenko bereits auf einer von ihm am 4. Februar einberufenen Sitzung des Rats für Nationale Sicherheit und Verteidigung (darüber wurde in Tlaxcala und Schattenblick und anderen, wenn auch wenigen Presseorganen berichtet) von "zweifelhaften und nicht zivilisatorischen Maßstäben entsprechenden Wahlen" redete, die er anfechten müsse. Den Wenigsten fiel auf, dass es schon vor dem 7. Februar höchstwahrscheinlich einen Geheimplan gab (er wird auch Plan "B" genannt), der eine Ungültigkeiterklärung der Wahl vom 7. Februar durch den noch amtierenden Präsidenten vorsieht, wobei davon auszugehen ist, dass er nicht einmal sofortige Wiederholungswahlen im Programm hat. Dieser Plan sollte beinhalten, dass der bisherige Staatspräsident vorerst auf unbestimmte Zeit weiter amtieren und Viktor Juschtschenko heißen wird, obwohl er schon in der ersten Wahlrunde abgewählt worden war und ihm die ukrainische Verfassung eine weitere Amtsführung verbietet. Genau genommen müsste in einer Situation ungeklärt umstrittener Wahlergebnisse lt. der ukrainischen Verfassung der Parlamentspräsident, das wäre Litwin, als kommissarischer Präsident fungieren. Dieser stände aber in der Pflicht, unverzüglich neue Präsidentenwahlen auszuschreiben und zwar mit einem Wahlprozedere mit 2 Wahlrunden, wenn in der ersten Runde keiner der Kandidaten über 50 % erzielt, und mit neu zugelassenen Kandidaten.

Das Szenario dieses Geheimplans mag phantastisch klingen, aber seine Umsetzung zeichnete sich schon in seinen Grundzügen ab, als Frau Timoschenko ihre Wahlniederlage nicht eingestehen wollte und sie sich in einer Rede an die Nation am 13. Februar zu der Aussage steigerte, dass sie das Wahlergebnis nie und unter keinen Umständen anerkennen wird, die Wahl gerichtlich anfechten wird und dabei erforderlichenfalls durch alle Gerichtsinstanzen gehen wolle und dann noch erklärte, als ob sie sich ihrer Sache sicher ist, Janukowitsch wird niemals ukrainischer Präsident werden. Auffällig war in dieser Situation, dass Juschtschenko das Wahlergebnis auch noch nicht offiziell anerkannt hatte. Die Frage darf erlaubt sein: Hatten Juschtschenko und Frau Timoschenko ein geheimes Abkommen geschlossen? Oder hat Juschtschenko ihr bei einem solchen Vorgehen gar einen Posten zugesichert wie schon mal bei der "orange" Revolution?

Aus ihrem Umfeld sei inzwischen detailliertes Material im Zusammenhang mit der Anfechtung der Wahlergebnisse in insgesamt 900 Wahlkreisen bekannt geworden, erklärte Frau Timoschenko in ihrer Rede. Man habe Stimmenkauf und Behinderung von Wahlbeobachtern festgestellt. Außerdem sei eine große Zahl von Anträgen für eine (einfach zu manipulierende) Stimmabgabe zu Hause in der gleichen Handschrift ausgefüllt gewesen. In ihrer Rede am Sonnabend den 13. Februar sprach Frau Timoschenko von über einer Millionen gefälschter Stimmen zugunsten von Janukowitsch. Wahlbeobachter der OSZE hätten sich bereit erklärt, die Wahlfälschungen vor Gericht mit Videoaufnahmen zu bestätigen.
(s. www.kmu.gov.ua/control/uk/publish/article?art_id=243279445&cat_id=156156156902)

Das sind alles Behauptungen, die durch nichts bewiesen sind. Was jedoch von mehreren Zeugen bestätigt wurde, sind in bestimmten westukrainischen Wahlbezirken sogar Rufmordkampagnen und pogromartige Treibjagden auf vermutete Janukowitsch-Sympathisanten organisiert worden.

Dennoch muss anerkannt werden, dass die Wahlkommissionen überall eine gute gewissenhafte Arbeit geleistet hat und es zu keinen nennenswerten Wahlfälschungen gekommen ist. Die Stimmzettel wurden durchwegs gewissenhaft ausgezählt. Unregelmäßigkeiten, wie sie in der Rede von Frau Timoschenko am Sonnabend den 13. Februar genannt wurden, waren schon bis Montag dem 8. Februar, also innerhalb eines Tages nach der Wahl durch wiederholte Nachzählungen und Überprüfungen der Korrektheit der Stimmabgabe korrigiert worden. Frau Timoschenko hat also gar keine Beweise, die massive Fälschungen belegen, und deswegen lügt sie ganz offensichtlich.

Diese Rede von Frau Timoschenko vom 13. Februar, die in den westlichen Medien mit Genugtuung als "kämpferische Rede" betitelt wurde, ist sogar im vollen Wortlaut vom CNN und BBC übertragen worden. Der Westen schwenkte nach anfänglich eingestandener Gewissheit, dass am Wahlsieg von Janukowitsch nicht mehr zu zweifeln sei, nun auf die Linie Timoschenkos ein. Vieles deutet darauf hin, dass man nun den raffiniert ausgeheckten Plan, auch Plan "B" genannt, verwirklichen wollte. Timoschenko hatte sogar einen unverzüglichen dritten Wahlgang verlangt. Der soll aber im genannten Geheimplan nicht vorgesehen gewesen sein. Es sollte so kommen, wie es Juschtschenko geplant hatte, keiner der beiden, weder Frau Timoschenko noch Janukowitsch sollten Präsidenten werden.

Also wäre nach der Wahl alles beim Alten geblieben. Juschtschenko wäre weiterhin Präsident und Timoschenko Premierministerin. Juschtschenko hatte auch schon für den Fall, dass Widerstand gegen seine Machenschaften mit Mitteln der Gewaltanwendung niedergerungen werden muss, in einem Antrag vom 10. Februar 2010 das Verfassungsgericht ersucht, die Artikel der Verfassung zu interpretieren, die seine Befugnisse zur Erklärung einer Ausnahmesituation und zum Einsatz der bewaffneten Organe regeln und den Punkt des Artikels der Verfassung der Ukraine unter die Lupe zu nehmen, der den Aufenthalt ausländischer Truppen in der Ukraine regelt (s. www.president.gov.ua/news/16548.html).

Es geht bei der Anrufung des Verfassungsgerichts konkret um Auslegungsfragen von Artikel 17 und 118, Punkte 19-21 der ukrainischen Verfassung sowie von Punkt 14 von Abschnitt XV (Übergangsbestimmungen der ukrainischen Verfassung).

Artikel 17 der Verfassung lautet: "Die Verteidigung der Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine, die Gewährleistung ihrer wirtschaftlichen und informellen Sicherheit ist die wichtigste Funktion des Staates und Angelegenheit des gesamten ukrainischen Volkes. Die Verteidigung der Ukraine, der Schutz ihrer Souveränität, territorialen Integrität und Unantastbarkeit obliegt den bewaffneten Organen der Ukraine.
Die Gewährleistung der Sicherheit des Staates und die Verteidigung des Staatsgebiets der Ukraine ist Aufgabe der entsprechenden Militärformationen und der Rechtsschutzorgane des Staates, deren Organisation und Tätigkeit durch Gesetz bestimmt wird.
Die bewaffneten Kräfte der Ukraine und andere Militärformationen dürfen nicht zur Beschränkung der Rechte und Freiheiten der Bürger oder mit dem Ziel eingesetzt werden, die verfassungsmäßige Ordnung zu stürzen, die Organe der Macht zu beseitigen oder ihre Tätigkeit zu beeinträchtigen oder zu stören.
Der Staat sichert den sozialen Schutz der Bürger der Ukraine, die in den bewaffneten Organen der Ukraine oder in anderen Militärformationen ihren Dienst leisten. Das gilt auch für die Mitglieder ihrer Familien.
Auf dem Territorium der Ukraine ist die Bildung und Tätigkeit jeglicher bewaffneter Formationen untersagt, die nicht durch ein Gesetz vorgesehen sind.
Auf dem Territorium der Ukraine ist die Einrichtung ausländischer Militärbasen nicht zulässig."

Punkt 14 von Abschnitt XV, Übergangsbestimmungen der Verfassung, lautet: "Die Nutzung ausländischer Militärbasen auf dem Territorium der Ukraine für den zeitweiligen Aufenthalt ausländischer Militärformationen ist unter den Bedingungen der Pacht und nach einer Ordnung möglich, die in internationalen Verträgen der Ukraine geregelt sind, die vom Parlament der Ukraine ratifiziert wurden."

Die Verfassung enthält Bestimmungen, die den Staatspräsidenten in seinen Befugnissen zum Einsatz bewaffneter Kräfte des Inlands und Auslands in der Ukraine beschränken. Ein entscheidendes Mitbestimmungsrecht hat hier das Parlament. Der Präsident kann lt. Artikel 118, Punkt 19 der ukrainischen Verfassung beim Parlament beantragen, im Falle eines bewaffneten Angriffs von Außen den Kriegszustand zu verkünden und nach Artikel 118, Punkt 20 der ukrainischen Verfassung in Übereinstimmung mit dem Gesetz eine Entscheidung zur Gesamt- oder Teilmobilmachung und Einführung des Kriegszustandes in der Ukraine oder Teilen der Ukraine im Falle der Drohung eines Angriffs und eines erfolgten Angriffs sowie einer Gefährdung der Unabhängigkeit der Ukraine treffen. Er kann lt. Artikel 118, Punkt 21 im Falle der Notwendigkeit die Einführung des Ausnahmezustands in der gesamten Ukraine oder in Teilen von ihr verkünden. Im Falle der Notwendigkeit kann er auch einzelne Gebiete der Ukraine zu Zonen einer ökologischen Ausnahmesituation erklären. Die betreffenden Entscheidungen des Präsidenten müssen, so fordert es die Verfassung, vom Parlament nachfolgend bestätigt werden. Klar in der Verfassung geregelt ist somit: Der Präsident der Ukraine hat jedoch nicht in alleiniger Vollmacht das Recht, den Ausnahmezustand auszurufen, ohne dass das Parlament das billigt. Aber was heißt Billigung? Hier steht die Frage, ob die Verhängung eines Ausnahmezustands sofort mit Verkündigung nachfolgend ohne Verzug gebilligt werden muss oder erst nachträglich auch nach längerer Zeit nach der Verkündigung gebilligt werden kann, wenn der Ausnahmezustand schon verhängt und wirksam ist. Der Präsident darf lt. Verfassung Verfassungsrechte der Bürger nicht beschränken und außer Kraft setzen. Er kann nicht in eigener Vollmacht seine Amtszeit verlängern. Aber wie ist das bei Bestehen eines Ausnahmezustands, den der Präsident verhängt hat? Offensichtlich wollte sich der Präsident auch hier beim Verfassungsgericht juristische Rückendeckung verschaffen. Soweit die Verfassungsregelungen.

Es ging dem Präsidenten aber merkwürdigerweise bei seinem Ersuchen an das Verfassungsgericht noch kurz vor dem Auslaufen seiner verfassungsrechtlich zulässigen Amtszeit (er ist nunmehr vom Volk abgewählt) darum, doch noch Befugnisse bei "der Sicherung der Souveränität und Integrität des Landes, der öffentlichen Ordnung, der wirtschaftlichen und Informationssicherheit, zum Einsatz der bewaffneten Organe sowie bezüglich der Herbeirufung der Hilfe ausländischer Truppen auf dem Territorium der Ukraine" auszuüben. Dabei geht es seiner Meinung nach offensichtlich auch darum, Konsequenzen abzuwenden, die sich aus der Anwesenheit russischer Marineverbände in Sewastopol ergeben. Es geht Juschtschenko darum, dass der Pachtvertrag zwischen der Ukraine und Russland bezüglich der Nutzung von Sewastopol als russischer Flottenstützpunkt über das Jahr 2017 hinaus nicht nur nicht verlängert wird, sondern auch, dass dieser Stützpunkt ohne das Jahr 2017 abzuwarten, vorzeitig gekündigt werden kann. Er soll kein Hindernis für einen schnellen Beitritt der Ukraine zur NATO sein.

Kurz gesagt: Der noch amtierende Staatspräsident Juschtschenko wollte sich offensichtlich beim Verfassungsgericht juristische Rückendeckung für sein eventuelles ordnungspolitisches Eingreifen auch mittels bewaffneter Macht und sogar zur Herbeirufung ausländischer Truppen, vor allem von NATO-Truppen, bei gleichzeitiger Verhinderung des Eingreifens von russischen Truppen holen. Eine im Grunde höchst raffinierte Angelegenheit. Wenn Juschtschenko den de facto oder de jure Ausnahmezustand über die Ukraine verhängt, dabei eventuell noch die bewaffnete Macht eingesetzt und noch NATO-Truppen ins Land geholt hätte, wollte er den Eindruck vermeiden, als Verfassungsbrecher zu gelten.

Nun, es wird für Juschtschenko aus verschiedenen Gründen äußerst schwierig, diesen Geheimplan zu verwirklichen, aber man muss wachsam bleiben, um Gefahren für die ukrainische Demokratie abzuwenden! Diese Wachsamkeit ist auch noch geboten, nachdem das Parlament am 16. Februar einen Mehrheitsbeschluss zur Amtseinführung des neu gewählten Präsidenten am 25. Februar mit allen ihren Modalitäten gefasst hat.

Man kann Frau Timoschenko durchaus zu Gute halten, dass sie noch nicht zu Straßendemonstrationen oder gar zu allgemeinen Volkserhebungen aufgerufen hat, aber dabei musste sie berücksichtigen, dass zu ihren Gunsten nur wenige demonstrieren oder ins Feuer gehen würden und sie zudem in ihrem eigenen Block BJUT für solche Aktionen und auch schon für eine Wahlanfechtung nicht die volle Unterstützung hatte und hat. Es gibt auch in der BJUT an führender Position durchaus Realisten, die die drohende Gefahr für die ukrainische Demokratie erkennen.

Der von der BJUT, dem Block Julija Timoschenko, gestellte Stellvertretende Parlamentsvorsitzende Tomenko trat z. B. dafür ein, das vorliegende Wahlergebnis anzuerkennen. Tomenko gehört offensichtlich zu den BJUT-Abgeordneten, die zusammen mit den Abgeordneten der Partei der Regionen von Janukowitsch auf eine Art Kohabitationsabkommen hinarbeiten, wonach Frau Timoschenko unter einem Staatspräsidenten Janukowitsch weiter Premierministerin bleiben oder ein anderer, mitgetragen von der BJUT-Fraktion, Premierminister werden könnte. Der erste Stellvertretende Parlamentsvorsitzende Lawrinowitsch, der die Partei der Regionen vertritt, wies am Montag, den 15. Februar, in einem Statement auf die komplizierten Mehrheitsverhältnisse im Parlament für die Bildung einer neuen Regierung hin. Im Grunde hat keiner der großen Blöcke, weder die Partei der Regionen noch der BJUT, derzeit eine parlamentarische Mehrheit für eine Regierungsbildung unter ihrer jeweiligen Führung. Sie sind also bis zu Neuwahlen gezwungen, sich auf eine Regierungsbildung miteinander auf der Basis eines Kompromisses zu verständigen. Man will offensichtlich auch mehrheitlich im Parlament keine sofortigen Neuwahlen, die wieder außerordentliche Neuwahlen wie schon 2007 sein müssten. Das bestehende Parlament (Werchowna Rada) soll offensichtlich bis November/Dezember 2011 fungieren.


Meldung von ITAR-TASS vom 15. Februar 2010, 18:03 Uhr

Timoschenko versucht die Ergebnisse der Präsidentenwahl anzufechten

Premierministerin Julija Timoschenko hat beim Obersten Verwaltungsgericht der Ukraine eine Klage über die Ungesetzlichkeit des Protokolls der Zentralen Wahlkommission über die Festlegung der Ergebnisse der Präsidentenwahlen eingereicht, die dem Gericht am 16. Februar zugestellt wird, teilte der Leiter ihres Wahlstabes, der 1. Vizepremier Turtschinow mit. Er präzisierte, "dass Subjekt der Klage persönlich die Präsidentschaftskandidatin Timoschenko sein wird". Nach den Worten von Turtschinow ersucht die Premierministerin Timoschenko darum, dass ihre Klage "vom Richterkollegium des Obersten Verwaltungsgerichts in voller Besetzung geprüft und verhandelt wird und das Verfahren direkt vom Fernsehen und Rundfunk übertragen wird. Dies gewährleistet die Öffentlichkeit des Gerichtsverfahrens, und das ganze Land kann die Argumente und die Position der Seiten hören", stellte " Turtschinow fest. Er informierte darüber, dass seitens der Klägerin dem Gericht Video-Materialien zur Verfügung gestellt werden, die Fakten der Fälschung der Wahlergebnisse in den Wahlkreisen bestätigen. An dem Prozess werden "viele Zeugen teilnehmen, die bereit sind, Aussagen und Angaben über diese und jene Formen der Fälschung vorzulegen, die beweisen, dass die Resultate der Wahlen zu Gunsten von Viktor Janukowitsch gefälscht wurden", sagte Turtschinow. Nach seinen Worten werden Frau Timoschenko im Gericht vertreten: der ukrainische Expräsident Leonid Krawtschuk, der Führer der Volksbewegung Ruch, der ehemalige Außenminister Boris Tarasjuk und noch vier Parlamentsabgeordnete vom Block Julija Timoschenko (BJUT).

www.itar-tass.com/level2.html?NewsID=14825669&PageNum=0


Und wie bestellt, lief am 15. Februar auch die Meldung über die Nachrichtenticker, dass der ukrainische Generalstaatsanwalt Medwed'ko ( ein eindeutiger Juschtschenko-Anhänger, der kurz vor den Wahlen von Juschtschenko zu einer wichtigen Sitzung des Rates für Nationale Sicherheit und Verteidigung eingeladen worden war, obwohl er selbst diesem Rat nicht angehört. Wie auf der ukrainischen Präsidentenwebsite berichtet worden war, ging es bei dieser Beratung um die Absicherung der Wahllokale durch Juschtschenko-Getreue entgegen der ukrainischen Verfassung !!) 42 Strafprozesse auf Grund von Verstößen bei den Präsidentenwahlen eingeleitet hat.

Der Parlamentsbeschluss über die Amtseinführung von Janukowitsch als neuer Präsident der Ukraine am 25. Februar hat zweifellos die Position der Kräfte, die sich an die demokratischen Regeln halten, außerordentlich gestärkt. Es bleibt nun abzuwarten, wie die Wahlverliererin Frau Timoschenko und auch der noch amtierende Präsident Juschtschenko agieren werden. Abzuwarten ist auch, wie das Oberste Verwaltungsgericht weiter verfährt. Nach der verfassungsrechtlichen Lage müsste es die Klage von Frau Timoschenko ablehnen, da es hinsichtlich der Gültigkeit des Wahlergebnisses vom 7. Februar grundsätzlich nichts mehr gerichtlich zu klären gibt. Der Wahlgewinner steht fest und der heißt Viktor Janukowitsch. Er hat, als vom Volke mit Mehrheit gewählt, den Verfassungsauftrag, als neuer ukrainischer Präsident für 5 Jahre tätig zu sein.


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Quelle:
Copyright 2010 by Brigitte Queck und Dr. Hans-Jürgen Falkenhagen
mit freundlicher Genehmigung der Autoren


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Februar 2010