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OSTEUROPA/358: Nach rechts verschoben - Parteienstruktur in Ungarn (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2012

Nach rechts verschoben
Parteienstruktur in Ungarn

György G. Márkus



Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán hat mit seiner Fidesz-Partei das Land auf einen nationalkonservativen Kurs eingeschworen. Nachdem die wirtschaftlichen Erfolge nicht bei der breiten Bevölkerung ankommen, erhält nun die rechtsextreme Jobbik-Partei - in einem Kontext der allgemeinen, sich verstärkenden Politikverdrossenheit - bemerkenswerten Zulauf. Europa schaut mit besorgter Miene nach Budapest.


Trotz der Tatsache, dass 2002 und 2006 die sozialliberalen Parteien die Wahlen noch knapp gewonnen haben, begann in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends eine Verschiebung der ideologischen Einstellungen der ungarischen Bevölkerung nach rechts. Infolge einer verstärkten Polarisierung schwand die ideologische Mitte. Nach Angaben des Forschungsinstituts für Soziologie der Akademie der Wissenschaften in Budapest befürworteten 2008 75% der befragten Ungarn eine starke Regierung ohne Parteiendebatten und einen Anführer, der das Land mit starker Hand lenkt. Das war der Endpunkt eines kontinuierlichen Trends, beginnend 2003 und endend im Wahljahr 2010. "Die Nation kann nicht in der Opposition stehen." - das war der kulturkämpferische Leitgedanke der orbánschen sozialpopulistischen, antikommunistischen, antiliberalen "nationalen" Offensive. Die enttäuschenden Fehler der linksliberalen Koalition und die aggressive Delegitimationsstrategie der Rechten im Kontext der Krise der globalen, der europäischen und der ungarischen Wirtschaft, haben 2010 zum erdrutschartigen Sieg von Fidesz geführt. Es geht nun um ein hegemoniales Parteiensystem mit einem reduzierten Parteienwettbewerb, mit einer Zweidrittel-Mehrheit im Parlament für Fidesz und einer gelähmten und fragmentierten Linken. Zwischen dem nationalkonservativen Fidesz und dem oppositionellen rechtsextremen Jobbik besteht eine starke Rivalität, in deren Folge Fidesz seine symbolische Politik und seine Kulturpolitik nach dem Geschmack der radikalen Jobbik-Anhänger gestaltet.

Ist das nur ein ungarisches (oder osteuropäisches) Problem? Es geht hierbei hauptsächlich darum, dass diese markanten, als Anomalie erscheinenden gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Widersprüche am Rande Kern-Europas auf die Tendenzen einer tiefen Transformation seines Zentrums hindeuten. In den Gesellschaften, die von Kräften der ökonomisch-kulturellen Globalisierung und einer Transformation in eine - Risiko und Unsicherheit erzeugende - Neue Moderne (Ulrich Beck, Anthony Giddens) bestimmt sind, entsteht eine neue zentrale Konfliktlinie zwischen einem Pol der Öffnung, der Offenheit und einem Pol der Geschlossenheit, der Abschottung. Eine labile Asymmetrie entsteht dadurch, dass sich die meisten der westlichen Parteien eher an dem Pol der Öffnung befinden, wobei sie (inkl. der Sozialdemokraten) hauptsächlich die Gewinner in den jeweiligen Gesellschaften vertreten. Kein Wunder, dass die identitätsbezogenen rechtsextremen Parteien, die Öffnung und Entgrenzung abwehren, mit ihrer emotional-kulturellen Rhetorik die Verlierer, die Statusverunsicherten mobilisieren und sich daher dynamisch entwickeln.

Daher ergab sich im Wahljahr 2010 in Ungarn eine geschwächte Präsenz der Parteien der Öffnung. Im postkommunistischen Ungarn entstand ein Dualismus, sowohl in der Wirtschaft, als auch in der Gesellschaft: zwischen einem, vom multinationalen Kapital dominierten, wettbewerbsfähigen Sektor und einem eher rückständigen Sektor des ungarischen Mittelstandes, sowie einer Struktur, in der einer kleinen Minderheit der Gewinner Massenarmut und eine statusgefährdete Mittelschicht gegenüberstehen. Eine polarisierte politische Struktur hatte sich herausgebildet, in der ein Gleichgewicht bestand: ein radikal verwestlichender, rationalisierender, liberalisierender und kommodifizierender (vermarktender) "linker" Block (aus Sozialisten und Liberalen) hat einen - zum "kalten Bürgerkrieg" eskalierenden - Kulturkampf mit einer national-christlichen, auf historischen Ressentiments basierenden und emotionell mobilisierenden "Rechten" geführt, die - bereits 1995 - verkündete, die Verteidigung der ethnozentrischen Identität mit der sozialen Frage kombinieren zu wollen.


Eine neue Art postmoderner rechter Partei

Fidesz als Regierungspartei kann nicht mehr einfach als rechtspopulistische Partei benannt werden. Eine neue Art postmoderner rechter Partei ist im Entstehen. Es geht um eine Partei mit dem Ziel einer souveränistischen und entliberalisierenden, desäkularisierenden Wende hin zu einem autoritären Staatskapitalismus (Robert Reich). Dabei vermischen sich westliche und östliche Strukturen.

Das Entscheidende im Orbánschen Regime ist die zentralisierende Machtpolitik mit weitgehenden Entscheidungsbefugnissen und einem Parteiführer-Kult, bei gleichzeitiger Ausschaltung der Kontrollmechanismen und der Machtteilung. Ideologisch geht es um die national-kulturelle Homogenisierung, um die historische Kontinuität einer einheitlichen traditionell-christlichen Kulturnation mit einer verzerrten Erinnerungspolitik. Liberale und libertäre Ideen werden als wesensfremd zurückgedrängt. Vorstellungen über Bildungs-, Kultur-, Europa- und Außenpolitik sowie Außenwirtschaft werden der Idee eines permanenten - nach außen und innen mit Feindbildern geführten - "Freiheitskampfes" untergeordnet. Gesellschaftspolitisch steht der Orbánismus für eine politisch-ideologisch loyale, nationale Mittelklasse.


Das erwartete Wunder blieb aus

Orbán hat dabei kein brauchbares Wirtschaftskonzept. Seine sogenannte - einerseits verfehlte, anderseits dilettantische - unorthodoxe Politik mischt u.a. Wachstums- und Binnennachfrageorientierung mit einer - von außen aufgezwungenen - Austeritätspolitik, sowie unseriösen Maßnahmen, wie beispielsweise der Verstaatlichung der Privatrenten. Zusätzlich errichtet sie ein verschwenderisches - Reiche und Kinderreiche bevorzugendes, für die unteren Einkommensgruppen aber nachteiliges und den Staatshaushalt schwer belastendes - Flatrate-Steuersystem.

Verarmung, Ungleichheit, Unsicherheit breiten sich aus. Die restriktive Arbeitsmarkt- und Rentenpolitik, wie auch die reaktionäre Bildungspolitik entfremden immer mehr Menschen. Die Rechtsunsicherheit und die Unvorhersehbarkeit der ökonomischen Prozesse halten potenzielle Investoren fern. Es gibt eine wachsende zivile (jedoch amorphe) Protestbewegung. Hunderttausende Wähler wenden sich von Fidesz ab, jedoch eher hin zum 50%-igen Lager der Unentschiedenen als zum Lager der Linken.

Die einzige Partei, die vom relativen Popularitätsverlust der Fidesz profitiert, ist die rechtsextreme Jobbik. Kein Wunder, dass Fidesz - nicht ohne Erfolg - sich sowohl durch Rhetorik, als auch durch symbolische Politik und Kulturpolitik dem Geschmack der breiten Grauzone zwischen den beiden rechten Parteien und den Jobbik-Sympathisanten anzupassen versucht. Jobbik, die in einigen Umfragen mit 20-22% die zweitstärkste Partei in Ungarn ist, findet auf das, von Fidesz verlassene, Terrain eines "Sozialnationalismus" zurück: hin zu einer Mischung aus radikal rechter Kulturpolitik und (pseudo-)linken wirtschaftspolitischen Inhalten. Viele der Jobbik-Wähler kommen aus zwei unterschiedlichen Lagern: Einerseits sind es enttäuschte 0Anhänger der Fidesz, andererseits enttäuschte Sozialisten. Ausschlaggebend für den Rechtsruck war der allgemeine Frust infolge der negativen sozialen Auswirkungen des rauen Kapitalismus. Da im post-gulaschkommunistischen Ungarn die wichtigste Mangelware nicht Demokratie und Rechtsstaat, sondern eine sozial abgesicherte Konsumgesellschaft westlicher Art war, hat die mehrheitliche Enttäuschung einerseits zur Demokratieverdrossenheit, anderseits zur aggressionsbereiten Frustration geführt. Eine teils offene, teils latente Agressionsbereitschaft wurde auch durch die europaweit überdurchschnittliche Intensität der Vorurteile gefördert. Vieles vom Gedankengut der autoritären Ideologien der Vorkriegszeit, von der nationalistisch-revisionistischen Mitte bis hin zum faschistischen Hungarismus, kehrte zurück.

Die Radikalisierung der nationalpopulistischen Rhetorik und die destabilisierende Strategie von Fidesz ab 2002 waren zwei Faktoren, die zur Aktivierung militanter völkischer Gruppierungen und letztendlich des Jobbik beigetragen haben. Der spätere Jobbik-Chef Gábor Vona war in einem von Orbán geführten "Bürgerkreis" aktiv. Die neue Qualität des Rechtsrucks zeigte sich bei den Europawahlen von 2009 im Zulauf zu Jobbik. Diese Bewegung mit dem zweideutigen Namen, der gleichzeitig "die Rechteren" aber auch "die Besseren" bedeuten kann, ist zugleich eine Partei der ewig Gestrigen, die mit neuaufgelegter Symbolik der Pfeilkreuzler arbeitet, und die jüngste. Der plötzliche Erfolg ist mit der Enttabuisierung des schwerwiegendsten Vorurteils in der ungarischen Gesellschaft verbunden: Die "Zigeunerkriminalität" als catch word hat effektiv Wähler geworben. Die Jobbik-Wähler können durch eine gemeinsame Grundeinstellung definiert werden, nämlich über das "Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeitssyndrom": Rassismus, Antisemitismus, Xenophobie, Homophobie. Hinzu kommen die Akzeptanz von Gewalt (z.B. existieren paramilitärische Garden) und die offene Ablehnung der Demokratie.

Jobbik-Anhänger sind nicht nur Globalisierungsgegner, sie fordern auch den Austritt aus der EU. Lange wurde angenommen, dass es sich hauptsächlich um eine Partei der sozialen Verlierer, der Unterschichten und Schlechtgebildeten handele. Empirische Forschungen haben aber ergeben, dass es sich hier tatsächlich um eine Allerweltspartei handelt, die ihre Sympathisanten in den oberen und unteren Schichten der Gesellschaft hat. Der Jobbik-Wähler ist nicht nur jung, er ist überdurchschnittlich gebildet, hat ein gutes Einkommen, einen Arbeitsplatz und ist kaum religiös. Eine präsente Jobbik hat indes aber nicht nur Nachteile für Fidesz. Wegen der schwachen und gespaltenen Linksopposition in Ungarn garantiert Jobbik dem Fidesz eine Position der Mitte.

Im Gegensatz zur Jobbik will Orbán, dass Ungarn EU-Mitglied bleibt. Das jedoch auf eine zugegeben gaullistische Art und Weise: Er will seine souveränistischen Ziele, seine Auffassung vom nationalen Interesse, politisch und ideologisch maximal durchsetzen. Der Konflikt zwischen Brüssel (plus Washington) und Budapest verschärft sich hier. Sanktionen seitens der EU drohen: einerseits wegen des langanhaltenden und exzessiven Haushaltsdefizits, anderseits wegen Verletzungen des europäischen Rechts und europäischer Vorstellung in Bezug auf Demokratie und Menschenrechte. Ungarn, nicht zuletzt wegen der unprofessionellen Wirtschaftspolitik der Regierung in die Klemme geraten, ist nun gezwungen den bereits aus dem Land "vertriebenen" IWF um Kredite zu ersuchen. Ohne Einverständnis der EU wird es hier aber keine weiteren Kredite geben.

Die Orbánisten reagieren darauf mit Doppelzüngigkeit. Einerseits verkünden sie nach außen weitgehende Korrektur- und Kompromissbereitschaft. Anderseits geht es im Innern um eine Kriegserklärung im "Freiheitskampf", so wie er früher gegen die Habsburger und gegen Moskau geführt wurde, diesmal aber gegen Brüssel und Washington. Vona von Jobbik und Orbán wählen hier dieselben Worte: "Wir werden keine Kolonie sein, wir dulden kein Diktat von außen." Besonders ähnlich klingt die Rhetorik, wenn von einer, von den abgewählten ungarischen Sozialisten, gesteuerten Verschwörung der "internationalen Linken" gesprochen wird. (Wie letztendlich Hillary Clinton, Manuel Barroso oder Angela Merkel usw. zu Marionettenfiguren der ungarischen Linken werden, ist schwierig zu beantworten.) Neuerdings melden sich auch europäische Verbündete, wie zum Beispiel Demonstranten aus Polen und Litauen. Könnte also der Orbánismus eine europäische Dimension entfalten? Ende offen.


György G. Márkus (* 1938) ist Professor für politische Soziologie am Budapest College for Management, Senior Researcher der Ungarischen Akademie der Wissenschaften.
(gmarkusg@t-online.hu)

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2012, S. 44-48
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Mai 2012