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RUSSLAND/148: Russland schlingert seinen Weg (Sozialismus)


Sozialismus Heft 2/2012

Russland schlingert seinen Weg

Von Lutz Brangsch


Betrachtet man die Entwicklung Russlands in den letzten 20 Jahren, ist es schwierig, dieser Zeit eine einheitliche Charakteristik zu geben. Die Schocktherapie Anfang der 1990er Jahre brachte enorme soziale und kulturelle Verheerungen. In einer Art ursprünglicher Akkumulation entstand ein neuer russischer Kapitalismus. Es folgte eine Stabilisierungsphase unter Putin, die mit patriarchal-autoritären Mitteln das politische System auf der neuen Grundlage konsolidierte. Die Balance zwischen Politik und Kapital wurde neu geordnet, nicht zuletzt um den Anschluss an die Weltwirtschaft nicht völlig zu verlieren. Der Kurs Putins fand dabei durchaus breite Unterstützung, stellte er doch in einigen Gebieten schlichtweg die Ordnung wieder her. Die Wahlergebnisse vom Herbst 2011 markieren möglicherweise einen neuen Abschnitt, dessen Charakteristik ungewiss ist. Klar scheint aber zu sein, dass sich die Potenziale des von Putin repräsentierten Regulierungs- und Stabilisierungsmodells erschöpft haben. Dies hängt nicht nur mit den ungelösten Problemen des Landes zusammen, sondern auch mit dem Heranwachsen einer neuen Generation. Für sie dürfte die Stabilisierung der frühen Putin-Jahre keine wesentliche Bedeutung mehr haben. Alexander Busgalin meint, dass Putin seine soziale Basis amputiert habe. Das bedeutet aber auch, dass die Motive und die Interessen der Protestierenden nur eine geringe Schnittmenge haben.

Dieses Zusammenfallen erklärt vielleicht, dass erstmals die Manipulation von Wahlen überhaupt zu massenhaften Aktionen geführt hat. Alle Wahlen waren von Manipulations- und Fälschungsvorwürfen begleitet - aber nun war es das erste Mal, dass in dieser Art und über verschiedene soziale Spektren hinweg derart massiv Protest artikuliert wurde. Die Perspektive der gegenwärtigen Proteste wird sehr unterschiedlich eingeschätzt. Die Bewertungen reichen von der Erwartung revolutionärer Ereignisse bis hin zu Befürchtungen eines ergebnislosen Abflauens. Für diese Breite gibt es gute Gründe. Richtig dürfte sein, dass in den nächsten Monaten Weichenstellungen vorgenommen werden, die den Charakter der Entwicklung Russlands für längere Zeit prägen werden. Die Präsidentenwahl im März 2012 wird hier ein wichtiger Markstein sein. Unabhängig von den entstandenen Protestbewegungen hängt dies auch mit den Problemen zusammen, mit denen die Gesellschaft in Russland konfrontiert ist.

Dabei scheinen die ökonomischen Bedingungen günstig. Mit Ausnahme des Jahres 2009 wächst das Bruttoinlandsprodukt, die Arbeitslosigkeit liegt recht konstant bei 7 bis 8% und die Armut hat sich in den 2000er Jahren nach offiziellen Angaben halbiert. Also Russland auf dem Weg nach oben?


Alte Probleme

Die Statistik bietet wie so oft ein unklares Bild. Wesentliche Probleme sind in den letzten Jahren ungelöst geblieben. An erster Stelle ist dabei die soziale Situation zu nennen, die unverändert in weiten Teilen des Landes als katastrophal eingeschätzt wird. Die Versuche zu Beginn der 2000er Jahre, das auch in der russischen Verfassung verankerte Sozialstaatsgebot mit Leben zu erfüllen, scheiterten. Noch Mitte 2008 fand etwa eine wissenschaftliche Konferenz zum Thema "Russland: der Weg zu einem Sozialstaat" statt, deren Verlauf in einem mehr als 1.000 Seiten umfassenden Band dokumentiert wurde. Die teilnehmenden Organisationen wurden auf vier Seiten aufgelistet. Real blieb diese Diskussion wie auch so viele vorher zu diesem Thema weitgehend wirkungslos. Auch der Versuch, durch zentrale staatliche Projekte Wirtschaft und Gesellschaft neue Dynamik zu verleihen, scheiterten. Durch diese zentralen Projekte sollte das Lebensniveau der Bevölkerung erhöht, die Volkswirtschaft modernisiert und die nationalen Aufwendungen für Wissenschaft, Bildung und soziale Infrastruktur erweitert werden. Putin charakterisierte das Ziel 2004 dahingehend, dass die Konkurrenzfähigkeit des Landes insgesamt, der Regionen und jedes einzelnen Menschen erhöht werden sollte. Zentral in der Interpretation dieser nationalen Projekte waren die Belebung der Wechselbeziehungen zwischen Staat, Gesellschaft und Unternehmertum sowie ein engeres Zusammenwirken zwischen Staat, Kommunen und Unternehmen. Die Armut sollte deutlich verringert, gerechtere Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums erreicht und deutliche Verbesserungen im Bildungssystem durchgesetzt werden.(1) Der Versuch im Sommer 2011, dies mit einer "Strategie 2020"(2) zu beleben, verlief offensichtlich wieder schnell im Sande, auch wenn die entsprechenden Arbeitsgruppen unverändert aktiv sind. Die immer wieder erhobene Forderung nach Dezentralisierung und Entwicklungsmöglichkeiten von Kommunen lief letztlich ins Leere, weil notwendige Veränderungen der rechtlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen nicht erfolgten.(3) So sind in vielen Regionen die Menschen entweder auf Selbsthilfe oder auf die Kirche als die einzigen Institutionen, die soziale Stabilität verheißen, angewiesen. Dies hat vor allem die Position der Kirche auch als politische Kraft gestärkt. Daneben gibt es auf regionaler Ebene offensichtlich Beispiele einer ausgeglichenen Entwicklung, die aber stark patriarchal geprägt sind.

Diese anhaltende soziale Krise spiegelt sich in zentralen Kennziffern wider. Der Gini-Koeffizient für Russland stieg nach Angaben der Russischen Statistik im Zeitraum von 1995 bis 2007 von 0,387 auf 0,423 und bewegt sich seitdem auf diesem Niveau. (Tabelle 2)


Tabelle 1: Grunddaten für Russland
Jahr


Wachstum GDP in %
nach OECD-Angaben*

Anteil der Bevölkerung mit
Einkommen unterhalb des
Existenzminimums in % **
Arbeitslosenquote***


2000
2005
2007
2008
2009
2010
+10,04
+6,4
+8,5
+5,2
-7,9
+4,0
20,9
17,7
13,3
13,4
13,0
12,6
10,6
7,2
6,1
6,3
8,4
7,5

* http ://stats.oecd.org/Index.aspx?Queryld=32520 (Stand 4.1.2012)
** Rosstat: Rossijskij statisticeskij ezegodnik, Moskva 2011, S. 179 (Tabelle 6.25)
*** Rosstat S. 118 (Tabelle 5.3)


Tabelle 2: Verteilung der Geldeinkommen der Bevölkerung*

1995
2000
2005
2006
2007
2008
2009
2010
Geldeinkommen
insgesamt in %
100

100

100

100

100

100

100

100

Anteil nach 20%-Gruppen








erste Gruppe (mit den
niedrigsten Einkommen)
6,1
  
5,9
  
5,4
  
5,3
  
5,1
  
5,1
  
5,1
  
5,2
  
zweite Gruppe
10,8
10,4
10,1
9,9
9,7
9,8
9,8
9,8
dritte Gruppe
15,2
15,1
15,1
14,9
14,8
14,8
14,8
14,8
vierte Gruppe
21,6
21,9
22,7
22,6
22,5
22,5
22,5
22,5
fünfte Gruppe (mit den
höchsten Einkommen)
46,3
  
46,7
  
46,7
  
47,3
  
47,9
  
47,8
  
47,8
  
47,7
  
Faktor der Differen-
zierung der Einkommen
13,5
  
13,9
  
15,2
  
16,0
  
16,8
  
16,8
  
16,7
  
16,5
  
Gini-Index (je höher, desto
mehr Ungleichheit in der
Einkommensverteilung)
0,387
    
    
0,395
    
    
0,409
    
    
0,416
    
    
0,423
    
    
0,422
    
    
0,422
    
    
0,421
    
    

Rosstat S. 176 (Tabelle 6.21)


Die Dimension des Problems wird u.a. an dem Verhältnis von gesetzlichem Mindestlohn und statistischem Existenzminimum deutlich. In einer Stellungnahme zum Gesetz über den Haushaltsplan 2012 konstatiert der Gewerkschaftsdachverband FNPR, dass der derzeitige Mindestlohn in Höhe von 4.611 Rubel gerade einmal 65,6% des Existenzminimums für die arbeitsfähige Bevölkerung ausmacht. Im Jahr 2009 waren 38,1% der von absoluter Armut betroffenen Menschen in Beschäftigung.(4) Arbeitslose erreichen mit dem Arbeitslosengeld lediglich 13 bis 75% des durchschnittlichen Existenzminimums. Dabei erhalten 47,5% der Arbeitslosen den Minimalbetrag.(5) Die offizielle Arbeitslosenquote schwankte in den letzten Jahren zwischen 7 und 9%. Dabei sind die regionalen Unterschiede aber beträchtlich. In Inguschetien betrug 2010 der Wert knapp 50%, während er in Moskau bei 1,5% lag.(6) Nach den Maßstäben der russischen Statistik hat sich der Anteil der Armen in den 2000er Jahren von etwa 30 auf 13% der Gesamtbevölkerung mehr als halbiert. Allerdings gehen Sozialwissenschaftler davon aus, dass nach Maßstäben der EU die Armut bei mindestens 26, wenn nicht gar 50% liegen dürfte.(7) Das Institut für sozialökonomische Probleme der Bevölkerung der Russischen Akademie der Wissenschaften ermittelte, dass der gesellschaftliche Einkommenszuwachs im Jahre 2009 zu 1,94% den unteren 10%, aber zu 30,94% den obersten 10% der Einkommensbezieher zugutekam.(8) Insgesamt nehme die Politik diese anhaltende soziale Polarisierung nicht wahr, da sich sozialpolitische Entscheidungen immer an der Fortschreibung gegebener Bedingungen, etwa der Einkommen orientiere, aber nicht an den tatsächlichen Notwendigkeiten. Ausgehend von diesen Analysen zur sozialen Lage und zu den Reaktionen der Sozialpolitik kommt A.J. Sevjakov zu der Schlussfolgerung, dass sich auf diesem Gebiet ein "Multiplikatoreffekt der Polarisierung" entwickele. Da es keine strategisch fundierte Politik des sozialen Ausgleiches gibt, kann die reichste Schicht ihre Möglichkeiten der Aneignung gesellschaftlichen Reichtums immer weiter fortsetzen. Nur diese Schicht könne ihr "soziales Kapital" entwickeln, während die Massen verelenden. Damit verliert sich das Interesse an aktiv gestaltender Sozialpolitik weiter.(9) Die Regierung, so der Autor weiter, folge zwei grundlegenden Mythen: die Senkung der Einkommensungleichheit sei ein extrem zweifelhaftes Instrument der Sozialpolitik und die Einmischung des Staates in die Umverteilung von Einkommen habe einen schädlichen Einfluss auf die Arbeitsbereitschaft. Zwei auch in Deutschland wohl bekannte Mythen, die unter den Bedingungen schwacher Gegenkräfte, wie eben in Russland, verheerende Wirkungen haben.

Dies umso mehr, als dass mit dem Beitritt Russlands zur WTO sich wesentliche Bedingungen für die Wirtschaft des Landes ändern werden. Michail Deljagin, umstrittener, aber auch scharfsinniger Analytiker, nimmt den WTO-Beitritt als einen seiner Ausgangspunkte für seine politische Prognose für das Jahr 2012. Er prognostiziert wirtschaftliche Stagnation, soziale Spannungen und sinkende militärische Durchsetzungsfähigkeit Russlands.(10) Vor allem die Aussagen zu wachsenden sozialen Spannungen sind begründet. Nach Aussagen des "Zentrums für soziale Fragen der Arbeit" ist die Realität des Umgangs mit Arbeitskonflikten von Seiten des Staates und der Unternehmer eher auf ihre Unterdrückung als auf Lösung gerichtet.(11)

Gegenstand für Auseinandersetzungen auf diesem Feld gibt es genug. So war das Jahr 2011 auch durch harte Auseinandersetzungen um ein neues Arbeitsgesetzbuch gekennzeichnet, in denen es um die Zulässigkeit von Leiharbeit ging und geht. Gleichzeitig liegen Vorschläge auf dem Tisch, wie die Erweiterung der Grundlagen für den Abschluss befristeter Arbeitsverträge, die Schaffung von Möglichkeiten der einseitigen Veränderung von wesentlichen Konditionen des Arbeitsvertrages durch den Arbeitgeber und der Verringerung des Arbeitslohnes oder selbst der Entlassung nach dem Kriterium der "Effektivität des Beschäftigten".(12) Auch auf diesem Feld sind alte Konflikte präsent - so betrafen mehr als 50% der registrierten Arbeitskämpfe ausstehende Lohnzahlungen.(13) Sollten die liberalen Vorstöße zur Reform des Arbeitsrechtes Erfolg haben, würden sich die sozialen Gegensätze, die eine von außen wenig sichtbare Grundlage für die Proteste vom Dezember waren, weiter verschärfen.

Die Stagnation im sozialen und politischen System steht offensichtlich in enger Beziehung zur Schwäche der wirtschaftlichen Position Russlands in der Weltwirtschaft. Die momentane relative Stabilität hat das Land dem hohen Ölpreis zu verdanken. Die Bewertungen zu den Ursachen der Folgenlosigkeit von Modernisierungsdiskussionen verweisen auf die gleichen Ursachen wie auf sozialem Gebiet. Im Rahmen der laufenden Modernisierungsdebatte fasste 2010 ein Autor die entscheidenden Schranken wirtschaftlicher Modernisierung folgendermaßen zusammen: Erstens werde Modernisierung nicht als komplexer Prozess betrachtet. Zweitens sei die unternehmerische Kultur modernisierungsfeindlich. Sie sei durch endloses Jonglieren mit Eigentum, dem Streben nach seiner maximalen Kapitalisierung und schließlich der erfolgreichen Verbringung des Gewinns in das Ausland charakterisiert. Drittens hat Russland im Moment keine nennenswerten Konkurrenzvorteile gegenüber anderen Volkswirtschaften. Viertens sei das Denken oft rückwärtsgewandt, an vergangener "geopolitischer Größe" orientiert. Zudem habe sich die Macht selbst in ein Geschäft verwandelt.(14) Inozemcev sagt hier das, was andere Autoren mitunter vorsichtiger ausdrücken, im Kern aber weitgehend geteilt wird.

Der Apparat, der sich unter Putin entwickelt hat, war zwar fähig, die brutalsten Auswüchse des mitunter als "kriminellen Kapitalismus" bezeichneten Systems zu beschneiden. Aber er war eben nicht darauf orientiert, soziale, ökonomische und technische Innovationen in der Gesellschaft durchzusetzen. Diese Unmöglichkeit betraf nicht nur die erwähnten nationalen Projekte. Dies gilt genauso für kleinere Vorhaben und Initiativen. So waren die Ergebnisse zahlreicher Projekte, Sozialpartnerschaft und bürgerschaftliches Engagement zu beleben, weitgehend wirkungslos.(15) Bei dem Versuch, diese Werte wieder in der Öffentlichkeit und in der Oberschicht zu verankern, wird bis auf Erfahrungen vorrevolutionärer Zeit bis in das 17. Jahrhundert hinein zurückgegriffen. Der Schritt, eine eigene Art sozialstaatlichen Kompromisses zu entwickeln, wurde unter Putin nicht gegangen. Dies hängt nach Meinung russischer Analytiker auch damit zusammen, dass die Verfassung selbst diesen Bestrebungen enge Grenzen setzt. Und ein Interesse, daran etwas zu ändern, scheint kaum vorhanden. Die Konzentration von Macht beim Präsidenten und dem Staatsapparat auf der einen und der wirtschaftlichen Macht bei einer schmalen Schicht der Oligarchie auf der anderen Seite fand lediglich eine neue Balance. Parlamentarische und außerparlamentarische Opposition, selbst die Gewerkschaften haben keinen wesentlichen Spielraum erhalten. Der Staat ist selbst Macht, stützt sich auf die Passivität der Massen und sichert die Macht einer schmalen Schicht. Vor diesem Hintergrund erklärt sich die Attraktivität der Forderung nach "ehrbaren Wahlen" oder einem "ehrbaren Staat".

Die Gelenkte Demokratie erstickt Innovation und destabilisiert auf lange Sicht. Dementsprechend meinen 80% der Bürgerinnen und Bürger, dass sie die Geschehnisse im Land nicht beeinflussen könnten.(16) Sie verhindert durch das Ausschalten der Kontrahenten das, was selbst die bürgerliche Demokratie stabilisiert: die Suche nach Varianten und Kompromissen, die Neuem und damit Veränderungen, Anpassungen an neue Bedingungen Raum geben. Das verschafft ihr selbst in Krisenzeiten Akzeptanz. In dieser Hinsicht hat sich Russland seit Jelzin nicht wesentlich, und wenn ja, zu wenig verändert. Die Oligarchen sind in festen Positionen, wenn auch unter dem politischen Druck eines in politischer aber auch wirtschaftlicher Hinsicht starken Staates. Der Publizist Vladimir Pastuchov bezeichnete die Entscheidung der Rochade Medvedev-Putin als "Fehler des Jahrzehnts" und das Jahr 2011 als "verpasste historische Möglichkeit". Seiner Meinung nach seien nun "konfrontative Szenarien der Entwicklung" wahrscheinlich.(17)


Neue Chancen?

Aus dieser Konstellation erwächst weder nachhaltige Stabilität noch gesellschaftliche Innovation. Dass dieses politische System so lange leidlich funktioniert, hängt nicht zuletzt mit der Zersplitterung der Opposition zusammen. Für den Beobachter immer wieder überraschend ist die Breite und Differenziertheit der politischen Landschaft. Für sich genommen existiert eine unüberschaubare Fülle aktiver oppositioneller und auch linker Gruppierungen.(18) Diese Gruppen liegen aber in vielfältigen Auseinandersetzungen - beginnend mit der nationalen Frage oder mit der Bewertung der Situation selbst. Es handelt sich um ein buntes Gemisch mehr oder weniger realistischer Forderungen: Die Wiederherstellung der UdSSR findet sich in diesem Kanon genauso wie Forderungen nach elementaren sozialen und politischen Rechten. Aus der skizzierten Konstellation in den herrschenden Schichten selbst resultiert gerade beim Gegenstand Wahlen eine Überlagerung linker Proteste mit denen aus den Reihen der Oligarchie selbst. Boris Kargalickij vom IGSO merkte bereits am 20. Dezember 2011 an: "Die Absage an die Priorität sozialer Losungen und die Übernahme der Führung der Proteste durch unpopuläre liberale Politiker führen zu einem Abflauen der Proteste in Rußland."(19) In den Erklärungen verschiedener linker Gruppen überwiegt z.T. die Polemik gegen die Anderen. Vladimir Kaschin, stellvertretender Vorsitzender der KPRF, wendet sich dagegen, dass alle Unzufriedenen nun von den gewendeten Liberalen als deren Fußtruppen einer "orangenen Revolution" betrachtet werden. Dabei stehen für ihn die liberalen Führer (hier namentlich Nemcov und Kasparov) neben ihren "überseeischen Herrn" - und anderen, aus der Sicht der KPRF nur in Anführungsstrichen zu nennenden Linken. Andere Linke wiederum attackieren in ähnlicher Schärfe die KPRF. Die KPRF sieht sich dabei berufen, die Führung der Massen zu übernehmen. Andere Organisationen wiederum diskutieren Alternativen jenseits der bestehenden Parteien, auch und z.T. gerade jenseits der KPRF. So entwickelt auf den Internetseiten des "Instituts für kollektives Handeln" ein Autor ein umfassendes Aktionsprogramm, das von unmittelbaren sozialen Nöten ausgeht.(20) Dabei verzichtet er auf jegliche auch nur andeutungsweise nationalistischen Untertöne, die bei anderen linken Organisationen oft zu finden sind.

Diese mitunter fremde und unverständliche Vielfalt ist das einzige ernsthafte Potenzial für Veränderungen. Diese Potenziale liegen weniger in den relativ großen sich links definierenden oder als links betrachteten Parteien, wie der KPRF, Jabloko oder Spravedlivaja Rossija und den um sie gruppierten kleineren Parteien. Sie scheinen eher in den Formen der Selbstorganisation zu liegen, die in den täglichen Kämpfen wachsen. Dafür spricht z.B. der Erfolg des Chefs der Automobilarbeitergewerkschaft der Ford-Werke, der einen erfolgreichen Streik angeführt hatte und auf der Liste von Spravedlivaja Rossija kandidierte. Diese täglichen Kämpfe verbinden immer mehr ökonomische und soziale Aspekte mit dem Kampf gegen vielfältige Diskriminierungen, Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit und russische Spielarten des Neofaschismus. Mit den Präsidentschaftswahlen im Frühjahr wird keines der skizzierten Probleme gelöst werden - aber die Richtungen der Lösung werden deutlicher sein.


Lutz Brangsch ist wissenschaftlicher Referent des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung.


Anmerkungen

(1) Myrynjuk, A.N.: Nacionalnye proekty v Rossii: problemy i perspektivy, Moskva 2007, S. 5
(2) http://2020strategy.ru/
(3) www.rosalux.ru/main/modules/sections/index.php?op=viewarticle&artid=n114 (Stand 4.1.2012)
(4) Sevjakov, A.J.: Mify i realii socialnoj politiki, Moskva 2011, S. 25
(5) Vgl. www.fnpr.ru/pic/Zakluchenie%20FNPR.doc (Stand 4.1.2012)
(6) Rosstat S. 118ff.
(7) www.ng.ru/printed/253485 (Stand 4.1.2012)
(8) Sevjakov S. 11
(9) Sevjakov S. 5f.
(10) http://delyagin.ru/articles/21704.html (Stand 4.1.2012)
(11) Bizjukov, P.V.: Kak Zassissajut trudovye prava v Rossii, Moskva 2011, S. 6
(12) www.ikd.ru/node/17774 (Stand 4.1.2012)
(13) Bizjukov S. 69
(14) Inozemcev, V.L.: Modernizacija v. Rossii: kakovy sansy na uspech, in: Zurnal novoj ekonomiceskoj associacii 7/2010 S. 146ff.
(15) Siehe z.B. www.spcenter.ru/index.html
(16) Fomenko, W.: Viel Lärm um nichts? www.rosalux.de/news/38028//viel-laerm-um-nichts-1.html (Stand 4.1.2012)
(17) www.polit.ru/article/2012/01/02/2011/ (Stand 4.1.2012)
(18) Zu aktuellen Arbeitskämpfen und sozialen Protesten siehe z.B. www.ikd.ru/
(19) http://igso.ru/articles.php?article_id=385 (Stand 4.1.2012)
(20) www.ikd.ru/node/17776 (Stand 4.1.2012)


*


Quelle:
Sozialismus Heft 2/2012, Seite 14 - 17
Redaktion Sozialismus
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. März 2012