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USA/271: Tocqueville lebt - über die Demokratie in Amerika nach der Obama-Wahl (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 123/März 2009
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Tocqueville lebt
Über die Demokratie in Amerika nach der Obama-Wahl

Von Jens Alber


Der Ausgang der jüngsten amerikanischen Präsidentschaftswahlen hat viele europäische Kritiker der USA wieder mit dem Land versöhnt. Nicht nur unverbrüchliche Atlantiker wie die Journalisten des britischen "Economist" sahen sich zu "two cheers for American democracy" veranlasst. Auch in Frankreich und Deutschland zeigten sich die Kommentatoren zutiefst von der gelebten Demokratie des Landes beeindruckt.

In der Tat: Fast zwei Jahre lang war das Land vom Wahlkampf gekennzeichnet, bereisten die Kandidaten Staat für Staat, um sich den Wählern erst in primaries, dann in der eigentlichen Wahl zu stellen, übernahmen Hunderttausende freiwilliger Wahlhelfer Aufgaben. Millionen Bürger spendeten - erstmals auch massenhaft über das Internet - kleinere Beträge. Knapp die Hälfte der 742 Millionen Dollar für Barack Obamas Wahlkampf stammte aus Kleinspenden von unter 200 Dollar. Kaum ein anderes Land der Welt setzt seine Bewerber um das höchste politische Amt einem so langen und harten Ausleseprozess aus und gibt auch Nichtmitgliedern von Parteien ein derart hohes Gewicht bei der Kandidatenkür. Wie intensiv die Bürger zumindest in eng umkämpften battleground states angesprochen werden, hat jüngst ein Journalist der Süddeutschen Zeitung berichtet, der für ein Wochenende als Freiwilliger der Obama-Kampagne in Ohio mitwirkte. Dort hatte ein Heer von Helfern den Auftrag, über das Wochenende 500.000 Haushalte anzurufen und zur Wahl von Obama zu überreden, um bei allen, die nicht eindeutige Ablehnung signalisierten, wenige Tage später mit einem weiteren Anruf nachzuhaken.

Das "Hoch" auf die amerikanische Demokratie scheint also angebracht. Aber das Bild ist sehr viel differenzierter, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. So blieb die Wahlbeteiligung auch bei dieser Wahl weit unter dem für Europa typischen Niveau. Sie war auch nicht dramatisch höher als bei der letzten Wahl. Die verlässlichste jüngste Schätzung des United States Elections Project kommt, bezogen auf die wahlberechtigte Bevölkerung, auf 62,3 Prozent, gegenüber 60,7 Prozent bei der Wahl 2004. Überdies zeigt das nach Gruppen unterscheidende Ergebnis der exit polls (Nachwahlbefragung), dass Obama keineswegs, wie das oft zu lesen war, in der schwarzen Bevölkerung überproportional hoch gewonnen hat. Die Afro-Amerikaner stimmen vielmehr seit jeher zu rund 90 Prozent für den Präsidentschaftskandidaten der Demokraten. Der Zuwachs für Obama war in dieser Gruppe prozentual schwächer als im Bevölkerungsdurchschnitt. Der Abstand, der Schwarze und Weiße im Wahlverhalten trennt, ist allerdings etwas größer geworden. Überproportional hat Obama vor allem in der Gruppe der jungen Wähler gewonnen.

Auch andere Elemente der Ergebnisse deuten nicht auf grundlegende Veränderungen hin. Die drei großen Spaltungen der amerikanischen Politik kamen auch diesmal wieder zur Geltung: die Klassenspaltung zwischen Reichen und Armen, die religiöse Spaltung zwischen tiefgläubigen Kirchgängern und Kirchenfernen sowie die Spaltung zwischen Weißen und Schwarzen. Am größten ist der Graben, der Schwarze von Weißen trennt, ähnlich ins Gewicht fallen der Klassenkonflikt und die religiöse Spaltung. Der Abstand zwischen Bürgern mit höherer und einfacher Bildung blieb ebenso wie die regionale Spaltung im üblichen Rahmen, während Geschlechterdifferenzen einmal mehr keine hervorgehobene Rolle spielten. Neu war bei dieser Wahl, dass erstmals der Altersunterschied bzw. die Generationenspannung eine größere Bedeutung hatte.

Obwohl die amerikanischen Bürger am 4. November zur Wahl gerufen waren, fand die eigentliche Kür des Präsidenten erst am 15. Dezember statt, als die Mitglieder des Electoral College in ihren Heimatstaaten zur Wahl schritten. Das Ergebnis dieser entscheidenden Wahl wird traditionell erst im Januar bekanntgegeben. Dass die sogenannten Wahlmänner im Einklang mit der Mehrheit der Wähler entscheiden, ist keineswegs ausgemacht. Dies führt uns zur Erörterung einiger Besonderheiten der amerikanischen Demokratie, die in mancherlei Hinsicht bis heute in der Welt des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, die eine Welt der bürgerlichen Teildemokratien war, stehengeblieben ist.


Tabelle 1: Stimmen für Obama und frühere Präsidentschaftsbewerber der Demokraten in ausgewählten Gruppen in Prozent (in Klammern: Stimmenanteil in der jeweiligen Gruppe relativ zum Gesamtergebnis des Kandidaten)


Obama 2008
Kerry 2004
Gore 2000
Wahlbeteiligung
Stimmenanteil
 62.3
 52.9
 60.7
 48.1
 55.3
 48.3
Hautfarbe
Weiß
Schwarz
Differenz

 43 (0.81)
 95 (1.80)
 52

 41 (0.85)
 88 (1.83)
 47

 42 (0.87)
 90 (1.86)
 48
Einkommen
Unter 15.000 $
Über 100.000 $
Differenz

 73 (1.38)
 49 (0.93)
 24

 63 (1.31)
 41 (0.85)
 22

 57 (1.18)
 43 (0.89)
 14
Kirchgangfrequenz
Mehr als wöchentlich
Nie
Differenz

 43 (0.81)
 67 (1.27)
 24

 35 (0.73)
 62 (1.29)
 27

 36 (0.75)
 61 (1.26)
 25
Alter
Unter 30
Über 65
Differenz

 66 (1.25)
 45 (0.85)
 21

 54 (1.12)
 47 (0.98)
  7

 48 (0.99)
 50 (1.04)
  2
Geschlecht
Männer
Frauen
Differenz

 49 (0.93)
 56 (1.06)
  7

 44 (0.91)
 51 (1.06)
  7

 42 (0.87)
 54 (1.12)
 12
Bildung
High School
Postgraduate
Differenz

 52 (0.98)
 58 (1.10)
  6

 47 (0.98)
 55 (1.14)
  8

 48 (0.99)
 52 (1.08)
  4
Region
Süden
Nordosten
Differenz

 45 (0.85)
 59 (1.12)
 14

 42 (0.87)
 56 (1.16)
 14

 43 (0.89)
 56 (1.16)
 13

Quellen: United States Election Project; Statistical Abstract of the United States; CNN Exit polls; eigene Berechnungen.


Lesebeispiel: Obamas Stimmenanteil unter den Schwarzen war mit 95 Prozent um 1,80-mal höher als sein Gesamtergebnis von 52,9 Prozent. Hingegen übertraf Gores Wahlergebnis bei den Schwarzen sein Gesamtergebnis um den Faktor 1,86. Die politische Spaltung zwischen Armen und Reichen war mit einer Differenz von 24 Prozentpunkten bei der Obama-Wahl ebenso tief wie die Kluft zwischen Kirchgängern und Kirchenfernen, aber wesentlich geringer als der Abstand, der Schwarze von Weißen (52 Punkte) trennt.


Für Sozialwissenschaftler gelten die USA gerade auch deshalb als faszinierendes Land, weil hier zwar die Modernisierungstheorie ihren Ursprung hat, wonach alle Länder der Welt einem ähnlichen Entwicklungsmuster folgen, das Land selbst aber geradezu als lebendige Inkarnation der Widerlegung dieser Theorie hervorsticht. Die Vereinigten Staaten wurden im 18. Jahrhundert "modern geboren", denn weder Adel noch Amtskirche standen der neuen Zeit im Weg. Ausgerechnet dieser Staat zeigt heute aber auch vormoderne Züge. Das gilt nicht nur kulturell für den religiösen Fundamentalismus, der bis heute in bemerkenswert geringem Maße von der Säkularisierung berührt wird, sondern auch, was die staatlichen Institutionen betrifft. Diese ähneln nach wie vor stärker der Welt, in der sich europäische Intellektuelle wie John Stuart Mill oder Alexis de Tocqueville den Kopf darüber zerbrachen, wie der Mitbestimmung der Massen und der gefürchteten "Tyrannei der Mehrheit" zu entkommen sei, als der inklusiven und freiheitlichen Massendemokratie von heute, wie sie in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg den Siegeszug angetreten hat.

Das Fortbestehen der indirekten Präsidentenwahl durch das Electoral College ist ein Relikt aus der grauen Vorzeit des 18. Jahrhunderts, das weitreichende Konsequenzen hat. Viele Amerikaner waren überrascht, als sie im Jahr 2000 durch den Bundesrichter Antonin Scalia und durch das Mehrheitsvotum des Obersten Gerichts im Streitfall Bush gegen Gore über die Stimmenauszählung in Florida erfahren mussten, dass die Verfassung der Vereinigten Staaten ein allgemeines Wahlrecht für die Präsidentenwahl nicht vorsieht, sondern es den einzelnen Bundesstaaten überlässt, wie sie ihre Wahlmänner bestimmen wollen. Deshalb konnte die republikanische Parlamentsmehrheit des Staates Florida im Jahr 2000 auch ankündigen, die Wahlmänner des Staates für die Präsidentenwahl selbst zu benennen, falls das amtliche Wahlergebnis nicht unumstritten bis zum 12. Dezember vorliegen würde.

Dass Präsidentschaftskandidaten im Wahlmännergremium obsiegen können, obwohl sie in der allgemeinen Wahl nur die Minderheit der Stimmen erhielten, ist die bekannteste, aber nicht einmal die wichtigste Konsequenz der verstaubten indirekten Wahl des Präsidenten. Viermal ist dieser Fall in der amerikanischen Geschichte bisher aufgetreten, zuletzt im Jahr 2000. Damals erhielt Gore mit 48,3 Prozent der Stimmen über eine halbe Million mehr Stimmen als Bush, unterlag aber dennoch mit 266 gegenüber 271 Stimmen im Electoral College. Ähnliches war 1824, 1876 und 1888 geschehen.

Noch gravierender als die Umkehr des Wählervotums sind wohl zwei weitere Folgen der indirekten Wahl durch das Electoral College. Die erste ist, dass es, genau genommen, gar keine allgemeine bzw. nationale Wahl des Präsidenten gibt, sondern nur getrennte Wahlen in den Einzelstaaten. Die jeweilige Zahl der Wahlmännerstimmen bestimmt sich aus der Summe ihrer Sitze im Repräsentantenhaus, die im Prinzip der Bevölkerungsgröße folgt, und den zwei Senats-Sitzen pro Bundesstaat, unabhängig von dessen Bevölkerungszahl. Daraus ergibt sich eine deutliche Bevorzugung der kleinen Staaten des ländlichen Amerika (und damit auch der in diesem "roten Teil" Amerikas dominanten Republikaner). Im bevölkerungsreichsten Staat der USA, Kalifornien, repräsentiert eine Wahlmännerstimme 664.000 Einwohner, während im bevölkerungsärmsten Staat, Wyoming, 174.000 Einwohner für eine Wahlmännerstimme reichen. Die kleinen Staaten kommen also sehr viel stärker zur Geltung als die großen; dies hat seinen historischen Ursprung im Interesse der Südstaaten, in Fragen der Sklaverei nicht überstimmt werden zu können.

Schwerwiegender als die Verzerrung der Repräsentation ist die mit der Mehrheitswahl zusammenhängende Tatsache, dass der Wahlkampf in Staaten mit klaren Mehrheitsverhältnissen de facto oft gar nicht stattfindet, weil alle Wahlmännerstimmen in der Regel dem Sieger zufallen und die Kandidaten deshalb darauf verzichten, aufwändige Anzeigen oder Fernsehsendungen in Staaten zu schalten, die mit großer Wahrscheinlichkeit der Gegner gewinnt. In der Wahl von 2000 verzichteten Bush und Gore zum Beispiel auf einen Medieneinsatz in New York, Texas, Connecticut, Massachusetts und New Jersey. Sie konzentrierten sich ganz auf eng umkämpfte Schauplätze wie Ohio, Pennsylvania oder Florida, wo der Ausgang bei hoher Zahl der Wahlmännerstimmen (über 20) ungewiss war. Das hatte zur Folge, dass ein Spezialthema wie die Frage der Finanzierung von Arzneimitteln durch die Rentnerkrankenversicherung Medicare plötzlich zum dominanten Thema des Wahlkampfs hochgespielt wurde, weil der Anteil älterer Wähler in battleground states wie Florida hoch ist.

In den Einzelstaaten ist manchmal die Hälfte der Wahlkreise gar nicht umkämpft. Das hängt mit den hohen Kosten der Wahlkämpfe ebenso zusammen wie mit dem gerrymandering, der geschickten Ziehung von Wahlkreisgrenzen im Sinne der Vorteilssicherung für die eigene Partei. Die Amtsinhaber erfreuen sich dabei einer hohen Wiederwahlquote, die bei den Kongresswahlen seit dem Zweiten Weltkrieg über 90 Prozent liegt. Insofern kann es fast schon wieder überraschen, dass immerhin doch annähernd zwei Drittel der Amerikaner bei den jüngsten Präsidentschaftswahlen den Weg zu den Wahlurnen fanden.

Die mit den hohen Wahlkampfkosten verbundene Bevorzugung der Amtsinhaber und wohlhabenden Bürger veranlasste im vergangenen Jahr selbst den an sich nicht zur USA-Kritik neigenden britischen "Economist" dazu, mit Hinweis auf Politikerfamilien wie die Bushs, Kennedys, Rockefellers oder Roosevelts vor einer Tendenz der politischen Dynastiebildung zu warnen und in seltener Übereinstimmung mit dem Satiriker Michael Moore unter anderen auf den Fall von Rodney Frelinghuysen aus New Jersey zu verweisen, der nun schon in der sechsten Generation seiner Familie im Kongress sitzt.

Eine weitere Besonderheit der amerikanischen Demokratie liegt im Entzug des Wahlrechts für Strafgefangene. Manche Bundesstaaten versagen den sogenannten felons, die sich schwerer Straftaten schuldig gemacht haben, auf die Gefängnisstrafen von über einem Jahr stehen, sogar lebenslänglich das Wahlrecht. Wie viele Amerikaner davon betroffen sind, ist wegen der großen Variationsbreite einzelstaatlicher Regelungen nicht genau zu beziffern. Die niedrigste Schätzung in der häufig genutzten Datenbank des Wahlforschers Michael McDonald, die sich nur auf aktuell Inhaftierte bezieht, setzt für das Jahr 2008 die Zahl von 3,3 Millionen politisch entmündigter Menschen an, die American Civil Liberties Union geht von über fünf Millionen aus, entsprechend 2,4 Prozent der Wahlbevölkerung. Die Gefangenenpopulation der USA ist seit 1980 vor allem wegen der Verschärfung der Drogenstrafen exponentiell gewachsen, so dass heute über zwei Millionen Amerikaner im Gefängnis sitzen und insgesamt sieben Millionen unter der Aufsicht der Justizbehörden (einschließlich Bewährungsstrafen bzw. Haftverschonungsauflagen) stehen. Die Gesamtzahl aktueller und ehemaliger felons wird auf über 16 Millionen geschätzt, was 7,5 Prozent der erwachsenen Bevölkerung entspricht. Unter schwarzen Männern liegt dieser Anteil sogar bei einem Drittel. Da Afro-Amerikaner traditionell zu etwa 90 Prozent für die Demokraten wählen, wird deutlich, dass vor allem die schwarze Bevölkerung sowie die Demokratische Partei von der politischen Entrechtung Straffälliger betroffen sind.

Derartige Schwächen und Besonderheiten der amerikanischen Demokratie sind im Lande selbst spätestens seit dem hauchdünnen und umstrittenen Ausgang des Präsidentschaftswahlkampfs von 2000 immer wieder Thema öffentlicher Diskussion. Als der ehemalige Präsident Jimmy Carter, dessen Carter Center immer wieder weltweit Wahlbeobachtungsaufgaben übernimmt, in einer Radiosendung des Jahres 2004 gefragt wurde, ob seine Gruppe auch die Beobachtung der amerikanischen Wahlen übernehmen würde, antwortete er: "No. We wouldn't think of it." Als Begründung führte er an, dass in den USA gleich mehrere Kriterien fairer Wahlen nicht erfüllt seien, nämlich der freie Zugang der Kandidaten zu Radio und Fernsehen, die unabhängige Überwachung der Wahlen durch überparteiliche Gremien, die nationale Standardisierung der Prozeduren und die technische Möglichkeit der Überprüfung der Stimmauszählung.

Die American Political Science Association setzte im Jahr 2004 eine Task Force on Inequality and American Democracy ein, um Gefährdungen der amerikanischen Demokratie durch zunehmende ökonomische Ungleichheit und die damit zusammenhängende Ungleichheit politischer Beteiligung unter die Lupe zu nehmen. Der abschließende Bericht verwies darauf, dass in den höheren Einkommensschichten 90 Prozent, in den unteren aber nur die Hälfte der Bürger zur Wahl gingen und dass die besser Situierten von vielfältigen Beeinflussungsmöglichkeiten über den bloßen Wahlakt hinaus profitierten. Empfohlen wurden deshalb Reformen, die eine breitere politische Teilnahme fördern.

Auf Einladung der USA entsandte auch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) im Jahr 2004 erstmals eine Beobachtergruppe in die USA, um den Präsidentschaftswahlkampf zu überwachen. Ihr Bericht bescheinigte zwar, dass die USA den 1990 in Kopenhagen fixierten Kriterien demokratischer Wahlen genügen, empfahl aber auch, die Verfahren zur Ziehung der Wahlkreisgrenzen zu überprüfen und für eine möglichst breite Wahlberechtigung aller Bürger Sorge zu tragen. Mit ähnlichem Resultat endete die erneute Beobachtungsmission im jüngsten Präsidentschaftswahlkampf. Hier honorierte der am 6. November 2004 veröffentlichte Bericht den demokratischen Charakter der Wahl, die leicht erhöhte Wahlbeteiligung sowie die größere Verbreitung der Abstimmung mit Stimmzetteln, monierte aber die lokale Vielfalt der Wahlverfahren ebenso wie die immer noch häufige Benutzung elektronischer Abstimmungsverfahren ohne Möglichkeit der Nachprüfung.

Die amerikanische Demokratie ist also nicht makellos, und es hieße schon, zumindest auf einem Auge politisch blind zu sein, wollte man die Schwächen und durchaus vorhandenen plutokratischen Elemente leugnen. Trotz alledem sind die USA bis heute das Land geblieben, in dem der Gedanke der Freiheit und der allgemeinen Menschenrechte erstmals verbrieft wurde und in dem die Demokratie bis heute ununterbrochen Bestand hatte. Der Declaration of Independence verdanken wir den großartigen Gedanken unveräußerlicher Menschenrechte in Gestalt der Formulierung "We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable rights, that among these are life, liberty and the pursuit of happiness." Der Wehrhaftigkeit der amerikanischen Demokratie verdankt Europa, dass es weder im Faschismus noch im Bolschewismus versank, sondern zumindest im westlichen Teil Jahrzehnte der Freiheit und des Wohlstands erlebte. Heute sieht auch kaum ein Land so häufig den Aufstieg relativ unbekannter Außenseiter in höchste politische Ämter an Parteioligarchien vorbei wie die USA, möge das nun in den 1970er Jahren für Carter, in den 1990ern für Clinton oder jetzt für Barack Obama gelten. Diese große Offenheit für Außenseiter und Erneuerer ist die Kehrseite der Schwäche von Gewerkschaften und politischen Parteien im Lande.

Die Überlagerung ständischer, ökonomischer und politischer Ungleichheit, die europäische Gesellschaften während des "langen 19. Jahrhunderts" kennzeichnete, war Amerika von Beginn an fremd. Nirgends liest man das bis heute besser als in Werner Sombarts Schrift "Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus?" aus dem Jahre 1906.

Heute allerdings sind die USA durch eine sehr viel stärkere Überlagerung von ökonomischer und politischer Ungleichheit gekennzeichnet, als wir sie in Europa finden. So darf man auch nach den jüngsten Wahlen gespannt sein, wie lange die politische Modernisierung des Landes noch auf sich warten lässt und wann die amerikanischen Staatsbürger wohl das Recht auf eine allgemeine demokratische Wahl ihres Präsidenten erlangen werden. Den "two cheers" für die Demokratie in Amerika darf man getrost deren drei für die Demokratie in Europa hinzufügen, die sich durch höhere und gleicher verteilte Wahlbeteiligung, öffentliche Finanzierungsformen der Wahlkämpfe und damit zusammenhängend auch flächendeckend intensive Wahlkämpfe auszeichnet.


Jens Alber ist seit 2002 Direktor der WZB-Abteilung "Ungleichheit und soziale Integration" und Professor der Soziologie an der Freien Universität Berlin. Zuvor hatte er elf Jahre den Lehrstuhl für Sozialpolitik, Universität Konstanz (Fakultät für Verwaltungswissenschaft) inne. Im Zentrum seiner Forschungsarbeit am WZB steht die institutionenbezogene Sozialstrukturanalyse.
jalber@wzb.eu


Kurz gefasst
Die Wahl Barack Obamas zum Präsidenten zeigt, wie vital die Demokratie in den USA ist. Dennoch zeichnet sie sich durch einige Schwächen aus, die im Wahlsystem und den gewachsenen, teilweise von Staat zu Staat unterschiedlichen Traditionen und Politiken begründet sind. Dazu zählen die indirekte Wahl des Präsidenten durch das Electoral College, die Konzentration der Wahlkämpfe auf wenige, hart umkämpfte Staaten und damit auf deren Sonderinteressen, und der weitgehende Ausschluss von Straffälligen (felons) vom Wahlrecht, was vor allem die männliche schwarze Bevölkerung trifft.


Literatur

Jens Alber, Ulrich Kohler, "The Inequality of Electoral Participation in Europe and America and the Politically Integrative Functions of the Welfare State", in: Jens Alber, Neil Gilbert (Eds.), United in Diversity? Comparing Social Models in Europe and America: New York: Oxford University Press 2009 (i. E.)

Alexander Keyssar, "Shoring Up the Right to Vote for President: A Modest Proposal", in: Political Science Quarterly, Vol. 118, No. 2, 2003, S. 181-190 (sowie die Paneldiskussion über diesen Artikel in derselben Zeitschrift, S. 191-203)

Christopher Uggen, Jeff Manza, Melissa Thompson, "Citizenship, Democracy, and the Civic Reintegration of Criminal Offenders", in: The Annals of the American Academy of Political and Social Science 605, 2006, S. 281-310

Robert A. Dahl, How Democratic Is the American Constitution? New Haven/London: Yale University Press 2003, 208 S.

Alexander Keyssar, The Right to Vote: The Contested History of Democracy in the United States, New York: Basic Books 2001, 496 S.

Andrew Gumbel, Steal this Vote. Dirty Elections and the Rotten History of Democracy in America, New York: Nation Books 2005, 384 S.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S. 34:
Foto links Toledo/Ohio (USA), November 1960: Wahlhelfer werten die abgegebenen Stimmzettel mithilfe von Tabelliermaschinen aus. Bei der Wahl setzte sich der 43-jährige Kandidat der Demokraten, John F. Kennedy, mit einem knappen Vorsprung gegen seinen republikanischen Gegner Richard Nixon durch. [Süddeutsche Zeitung Photo/Amerika Haus]

Abb. S. 38:
Zwei Jahrhunderte Tradition. Nicht nur das historisierende Outfit der Ehrenformation bei der Amtseinführung des 44. Präsidenten erinnert an die lange Geschichte der amerikanischen Demokratie. Das Wahlsystem selbst enthält manches Element, das die gleichberechtigte Teilhabe der Wähler an der Wahlentscheidung beeinträchtigen kann. [Foto: Polaris/laif]

Abb. S. 41:
Foto rechts: Pro Handarbeit. Vor einer Anhörungssitzung des Supreme Court demonstrierten am 1. Dezember 2000 Anhänger des Präsidentschaftskandidaten Al Gore für eine Neuauszählung der Stimmen im Bundesstaat Florida. Unter den Demonstranten war auch der radikale Prediger-Aktivist Al Sharpton, der sich selbst 2003/2004 um die demokratische Präsidentschaftskandidatur bemühte. [Foto: Getty Images / Alex Wong/Newsmakers]


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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 123, März 2009, Seite 34 - 41
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
Tel.: 030/25 49 10, Fax: 030/25 49 16 84
Internet: http://www.wzb.eu

Die WZB-Mitteilungen erscheinen viermal im Jahr
(März, Juni, September, Dezember)
Bezug gemäß § 63, Abs. 3, Satz 2 BHO kostenlos


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. März 2009