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USA/303: Wechsel ja, Veränderung nein (Haus Rissen)


HAUS RISSEN
Internationales Institut für Politik und Wirtschaft

Wechsel ja, Veränderung nein
Die US-Zwischenwahlen verändern nur die parlamentarischen Mehrheiten,
nicht die politische Dynamik

Von Thomas Rausch, 4.11.2010


Was die Demoskopen schon seit Wochen prophezeit haben, ist am Dienstagabend eingetreten. Die Demokraten mussten bei den so genannten Zwischenwahlen (midterm elections) eine klare Niederlage einstecken. Im Senat konnten sie ihre Mehrheit zwar knapp verteidigen, aber im Repräsentantenhaus stellen jetzt die Republikaner zumindest für die kommenden zwei Jahre die größte Fraktion (party caucus bzw. party conference). Damit führt die Wahl zwar in jedem Falle zu einem großen Stühlerücken im amerikanischen Parlament. Dass die daraus resultierende Bewegung aber in Gesetzinitiativen mündet, die sich die Wähler gewünscht haben oder die das Land gar einen großen Schritt nach vorne bringen, ist nicht zu erwarten.


Wahlen ohne Fortschritt

Auf den ersten Blick hat sich Washington, DC von gestern auf heute grundlegend verändert. Aus der einheitlichen Regierung (unified government) ist eine geteilte (divided government) geworden. Auf der einen Seite haben die Demokraten das schlechteste Ergebnis im Repräsentantenhaus seit 1946 eingefahren. Viele moderate Abgeordnete mussten den Kongress verlassen. Auf der anderen Seite steht eine gestärkte Republikanische Partei, die sogar noch besser abgeschnitten hat als bei ihrem letzten großen Erfolg 1994. Hier ziehen einige neue radikal-liberale (libertarian) und zugleich wertkonservative Abgeordnete ins Parlament ein, die als Tea Party im neuen Kongress einen eigenen Arbeitskreis (caucus) innerhalb der Republikanischen Fraktion bilden wollen.

Blickt man aber auf die vergangenen Jahre zurück, deutet vieles auch auf Kontinuität hin: Die Demokraten hatten ihre Erfolge bei den Wahlen 2006 und 2008 als umfassenden Auftrag für einen Politikwechsel hin zu einer sozialliberalen Politik (über)interpretiert, statt sie auch als eine Abstrafung der Regierung von George W. Bush zu begreifen. Bei der Durchsetzung von weitreichenden und ehrgeizigen Projekten waren sie aber nicht nur mit starker, auch außerparlamentarischer, Opposition konfrontiert worden. Es gelang ihnen auch kaum, die eigenen Reihen zu schließen oder ausreichend Republikanische Stimmen einzuwerben, wie die knappe Abstimmung über die Gesundheitsreform und eine ungewöhnlich hohe Zahl nicht verabschiedeter Gesetzesvorlagen zeigen.

Den Republikanern könnte nun ein ähnliches Schicksal drohen. Den gestrigen Sieg halten viele von ihnen für den Anfang eines Demokratischen "Kehraus" in Washington: 2012 wollen sie auch das Weiße Haus und den Senat erobern und dann "durchregieren." Aber warum sollte es ihnen anders ergehen als den Demokraten in den vergangenen Jahren? Es ist fraglich, ob sich jene Republikanischen Abgeordneten, die sich zur Tea Party Bewegung zählen, und der Rest der Partei auf eine einheitliche Agenda verständigen können. Es ist außerdem fraglich, ob sie damit auch Stimmen aus dem Demokratischen Lager gewinnen können, um Gesetzesvorlagen durch den Senat zu bringen. Diese werden die Republikaner nämlich brauchen, selbst wenn sie ab 2012 dort über die einfache Mehrheit verfügen und den Präsidenten stellen sollten.

Das grundlegende Problem der gegenwärtigen amerikanischen Politik kann man vereinfacht wie folgt beschreiben: In den Vereinigten Staaten befürworten sehr viele Wähler eine liberale und an einem Mindestmaß an sozialem Ausgleich orientierte Politik. Allerdings macht sich auch ein sehr großer Teil der Bevölkerung für eine konservative und auf individuelle Freiheit bedachte Politik stark. Entgegen der Rhetorik des Präsidenten gibt es eben doch ein "blaues" (Demokraten) und ein "rotes" Amerika (Republikaner). Daneben existiert noch eine sehr große Gruppe von so genannten unabhängigen Wählern (Independents), die sich mal mehr zum einen, mal mehr zum anderen Lager hingezogen fühlen.

Das blaue und das rote Lager sind alleine nicht stark genug, um das politische System über einen längeren Zeitraum zu beherrschen. Sie können höchstens mit der zeitweiligen Unterstützung von Unabhängigen für befristete Zeit ihre politischen Vorstellungen in Gesetze umwandeln. Der ausgeprägte Minderheitenschutz des Senats erlaubt es der Opposition jedoch, viele Projekte zu verwässern oder zu blockieren. Die Folge: Frustrierte Anhänger des Regierungslagers bleiben bei der Wahl zuhause und viele Unabhängige wechseln die Seiten. Mit anderen Worten: Der ganze "Zirkus" geht aufgeladen durch das Geschrei von ideologieverbrämten Fernsehkommentatoren (wie zum Beispiel Bill O'Reilly von Fox News auf der roten oder Ed Schultz von MSNBC auf der blauen Seite) wieder von vorne los.


Gridlock as Ususal

Bis zu einem gewissen Grad ist dieser Stillstand durchaus gewollt: Die amerikanische Verfassung sieht nicht grundlos vor, dass es mehrere Machtzentren gibt, die sich die Regierungsverantwortung teilen (separate institutions sharing power). Die "Verfassungsväter" wollten so verhindern, dass eine einzelne staatliche Institution zu viel Macht über die anderen gewinnen kann (zum Beispiel der Präsident über den Kongress) oder dass alle Institutionen zusammen zu viel Macht über die Bürger des Landes gewinnen können. Diese Einstellung war damals der schlechten Erfahrung mit der britischen Kolonialmacht geschuldet, wird aber nach wie vor von einer überwältigenden Mehrheit der Amerikaner gutgeheißen.

Um aber die vollständige gesetzgeberische Blockade zu verhindern, ist dieses politische System auf den Pragmatismus der politischen Parteien und ihrer Anhänger angewiesen. Genau diese scheint aber in den vergangenen Jahren auf der Strecke geblieben zu sein. In einer Welt, in der beide Lager glauben, sich in der Mitte der Gesellschaft zu befinden und nur darauf warten zu müssen, dass sich der andere endlich dorthin bewegt, kann man schließlich kaum einen sinnvollen Kompromiss finden. Dann wird selbst die Durchführung von Routineaufgaben, wie etwa die Verabschiedung des jährlichen Haushaltsgesetzes, fast zu einer Unmöglichkeit.

Wichtige Politiker haben sich bislang davor gescheut, ihre Basis und die amerikanischen Wähler durch Worte und Taten wieder davon überzeugen, dass Kompromisse kein Zeichen der Schwäche eines Lagers, sondern ein Zeichen der Stärke des ganzen Landes sind. Aufgrund des wenig zufrieden stellenden Status Quo in vielen Politikbereichen wird diese Stärke mehr denn je gebraucht, damit die Amerikaner den Glauben an ihr System nicht doch irgendwann verlieren.


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Quelle:
Standpunkt Nr. 2 vom 04.11.2010
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. November 2010