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HOCHSCHULE/1620: Studentische Ansichten und Anforderungen an das Hochschulsystem (spw)


spw - Ausgabe 6/2010 - Heft 181
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Alte Forderungen im neuen Gewand?
Studentische Ansichten und Anforderungen an das Hochschulsystem

Von Erkan Ertan


"Der kapitalistische Supermarkt, auf den sich die Bildung hin entwickelt, braucht keine Diener des Geistes, sondern Leute, die die Kasse reparieren können."
(Heinz-Joachim Heydorn, 1972)


Die deutsche Bildungspolitik hat eine Besonderheit, die sie in hohem Maße von anderen Politikfeldern unterscheidet. Betrachtet man allein die Arbeit studentischer Hochschulpolitik der letzten 37 Jahre - so lange existieren beispielsweise bereits die Juso-Hochschulgruppen - so stellt man erschreckend fest, dass zahlreiche Forderungen früherer Zeiten bis heute ihre Berechtigung finden und erneut artikuliert werden müssen. Gleiche Teilhabe und Mitbestimmung, fehlende Durchlässigkeit und die Frage der Studienfinanzierung sind nur einige Auszüge daraus und beschäftigen studentische VertreterInnen seit Jahrzehnten stets aufs Neue. Liegt die fehlende Weiterentwicklung an der Unfähigkeit der Studierenden, dem Unwillen der sogenannten Politik, auf Forderungen einzugehen oder gibt es eine andere Erklärung für diese Erfahrung?


Stagnation im Bildungssystem

Einerseits stimmt es natürlich, dass studentische VertreterInnen in Verhandlungen gegenüber den entscheidenden Akteuren stets in einem strukturellen Nachteil gefangen sind: Sie engagieren sich ehrenamtlich, müssen oftmals neben dem Studium arbeiten und ihr Zeit- und Aktionsfenster beschränkt sich in der Regel auf weniger als zwei Jahre. Demgegenüber verfügt die gegenüberliegende Seite über jahrzehntelange Erfahrung, einen organisatorischen Apparat und kann in Entscheidungsfragen oftmals auf die berühmte Portion "Sitzfleisch" vertrauen.

Das ist aber nur eine Seite der Erklärung. In der "Bildungsrepublik Deutschland" herrscht auf Grund des föderalen Systems und dem beschränkten Handlungsrahmen auch ein Protektionsüberschuss, der Veränderungen im Bildungssystem mit Argusaugen beobachtet und nötigenfalls verhindert. Zudem ist Bildungspolitik eine Hauptkompetenz der Bundesländer und dementsprechend konkurrieren Parteien mit diametralen Positionen in diesem Politikfeld. Dies hat zwei Entwicklungen zur Folge. Entweder werden Reformen im Bildungssystem durch politischen Streit und überlappende Kompetenzbereiche blockiert. Oder der Reformstau erreicht ein so hohes Ausmaß, dass mit der Überwindung der Stagnation Reformen radikale Ausmaße nehmen. Dies hat nicht immer nur positive Folgen und die Leidtragenden sind stets dieselben, im Falle der Hochschulpolitik die Studierenden.

Dabei hat sich im letzten Jahrzehnt in der Hochschulpolitik viel getan. Mit neuen Instrumenten wie dem Bologna-Prozess, der Exzellenzinitiative oder der Einrichtung von Stipendienprogrammen wurden neue, im Vergleich zum bis dahin bestehenden deutschen Hochschulsystem, radikale Schritte durch die Politik forciert. Bei näherer Betrachtung und Analyse stellt man jedoch fest, dass entweder Problembereiche auch in neuen Systemen weiter bestehen, oder in neuer Form verschärft wirken. Die Protestbewegungen der Studierenden unter dem Banner des Bildungsstreiks waren demnach berechtigt und dennoch wurde mehrheitlich erkannt, dass "früher" nicht alles besser war.

Dieser Artikel soll die Problembereiche des heutigen Hochschulsystems aus studentischer Perspektive beleuchten. Hierfür werden die kommenden Abschnitte die Bestandsaufnahme und Anforderungen zum Bologna-Prozess, zur Situation der Lehre, der Studienfinanzierung und der Frage der Mitbestimmung umfassen. Anschließend sollen in einem Ausblick die zu vorigen Erkenntnissen zusammengeführt und weiterer Handlungsbedarf ermittelt werden.


Unausgegorene Reformen namens Bologna

Ein populäres Beispiel für aggressive Reformpolitik ist der Bologna-Prozess. Sein moderner Ursprung ist der Europäische Einigungsprozess und kann als die größte Reform im Hochschulsystem seit den sogenannten "68ern" und der Wendung hin zu Massenuniversitäten betrachtet werden.

Die Ziele des Bologna-Prozesses wie die Flexibilisierung des Studiums, Förderung der Mobilität und die Vergleichbarkeit eines Studiums sind aus studentischer Sicht durchaus begrüßenswert. Zudem haben auch linke studentische Kräfte seit den 1980ern eine praxisnähere Ausrichtung gefordert, um bisherigen bildungsfernen Schichten die Demotivation vor einem Studium zu nehmen und so eine soziale Öffnung der Hochschulen zu fördern.

Die deutsche Umsetzung sieht jedoch anders aus. Die Mobilität wurde durch starre Studienpläne erschwert, der berühmte "alte Wein in neuen Schläuchen" war mehr Regel als Ausnahme und es musste das Wort "Studierbarkeit" erfunden werden, um erklären zu können, wie inkompatibel sich teilweise neu konzipierte Studiengänge im Alltagstest zeigten.

Zudem wurden durch die nationalen Bolognamütter und -väter politische sowie wirtschaftliche Ideologien in die deutsche Umsetzung implementiert, die im eigentlichen Bologna-Prozess so nicht vorgesehen waren. So wird die in den offiziellen Dokumenten genannte "Employability" auf die Verwertbarkeit für den Arbeitsmarkt und Studienzeitverkürzung reduziert, der emanzipatorische bildungspolitische Aspekt aber geht verloren.


Bologna kann mehr

Zahlreiche Probleme mit den neuen gestuften Studiengängen bestehen in verschärfter Form fort. Die neuen Studiengänge wirken unausgegoren, die Studierenden fühlen sich durch starken Leistungsdruck eingeengt und die Zukunftsaussichten werden mit Verunglimpfungen des Bachelor-Abschlusses für den Berufsweg und der gleichzeitigen Verknappung der Master-Studienplätze verbaut. Die Hochschulpolitik steht dem bislang ohne Konzepte und Lösungen gegenüber.

Daran hat auch die Nationale Bologna-Konferenz vom 17. Mai 2010 mangels Ergebnissen nichts ändern können. Es bedarf weiterer Flexibilisierung des Studiums, eine wirkliche Entscheidungsfreiheit dank sinnvoll modularisierter Studienangebote und nicht zuletzt eine qualitative Studienreform, die Studieninhalte von Grund auf neu konzipiert und als ein Projekt "Bologna 2020" zu tatsächlichen Reformen im Sinne der Studierenden führt.


Der Übergang zum Master muss frei sein

Die steigenden Studierendenzahlen - die durch die Abschaffung der Wehrpflicht im nächsten Jahr zusätzlich verstärkt werden - haben Hochschulen in den vergangenen Jahren dazu veranlasst, vornehmlich Bachelor-Studienplätze zu schaffen. Für eine ausreichende Anzahl an Master-Studienplätzen fehlten anschließend entweder die Mittel, die Kapazitäten oder der politische Wille.

Die Studierenden brauchen aber im Gegensatz dazu nach dem Bachelor-Abschluss Entscheidungsfreiheit und Rechtssicherheit. Ein Zwei-Klassenstudium mit einem Master als Elitensystem hilft niemandem weiter und ist mit der Vorstellung, dass jeder Mensch ein Recht auf Bildung hat, nicht vereinbar. Nur mit einem Rechtsanspruch auf ein Master-Studium ist zu gewährleisten, dass Studierende nach den eigenen Stärken und Neigungen ihre Auswahl zwischen Berufseinstieg und weiterem wissenschaftlichem Studium treffen.


Veraltete Lehre

In jeder Schulpolitikdebatte besteht nahezu Konsens, dass Frontalunterricht überholt ist, Debatten über die Hochschullehre verlaufen jedoch oftmals im Sand. Der Ordinarius, der weise Professor scheint als Bild selbst 40 Jahre nach den 68er Revolten und dem berühmten Transparent "Unter den Talaren, der Muff von tausend Jahren" noch immer im praktischen Verständnis von Hochschullehre in der Bildungspolitik verhaftet zu sein. Dabei gibt es zahlreiche Beispiele von kritischen Dozierenden, die Lehre als Forschungsgemeinschaft von Lehrenden und Lernenden auf Augenhöhe betrachten. Das bestehende Hochschulsystem gibt aber veröffentlichten Publikationen und der Drittmitteleinwerbung Vorrang. Lehre wird so systembedingt oftmals als Pflichterfüllung betrachtet, die Forderung nach Lehrdeputaten zementiert diesen Trend.


Alternative Lehr- und Lernformen sind der Schlüssel

Dabei sind Forschung und Lehre eine Einheit und gleichwertig. Das Verhältnis von Lehrenden und Lernenden muss daher generalüberholt werden. Lehre, die eng an der Forschung orientiert stattfindet, hat Vorteile für beide Seiten. Für die Lernenden, die mit aktuellen Forschungsgegenständen arbeiten und sich direkt an der Forschung beteiligen können. Für die Lehrenden, die direkte Rückmeldung zu ihrer Arbeit erhalten und so Rückschlüsse ziehen oder neue Erkenntnisse gewinnen. Alternative Lehr- und Lernkonzepte können so helfen, Seminare interessant und für alle Seiten gewinnbringend zu gestalten. Der Informationsaustausch, Kompetenzerwerb und die Erkenntnisse sind gegenüber einem frontalen Unterricht in jedem Maße überlegen.

Die Rolle der Lehre muss daher dringend gestärkt werden. Die neu einzurichtenden hochschuldidaktischen Zentren für gute Lehre sind hier ein Weg in die richtige Richtung. Lehrpersonal sollte jedoch verpflichtet werden, sich in Hochschuldidaktik und neuen Lehrformen weiter zu qualifizieren. Lehrqualifikationen müssen zudem bei Berufungsverfahren stärker Beachtung finden. Auch die Betreuungsrelation ist dabei nicht zu missachten. Es bedarf eines massiven Ausbaus der ProfessorInnenstellen mit den dazugehörigen MitarbeiterInnen, um dem höheren Beratungsbedarf durch Bachelor und Master sowie den vorgestellten Lehr- und Lernkonzepten Genüge zu tun.


Studienfinanzierung

Die Finanzierung eines Studiums ist dabei - wie auch in den Jahrzehnten zuvor - wichtigster Faktor für eine mögliche Aufnahme eines Studiums und dessen Abschluss. Ohne eine ausreichende finanzielle Grundlage ist es schwer, das eigene Existenzminimum zu sichern und in notwendiger Weise gute Leistungen im Studium zu erbringen.

Die Forderung nach einer eltern- und altersunabhängigen, bedarfsdeckenden und flexiblen Studienfinanzierung hat deshalb nicht nur bei den Juso-Hochschulgruppen lange Bestand und ist bis heute berechtigt. Noch immer fallen Studierende mit Familienhintergrund aus dem unteren Mittelstand aus der staatlichen Förderung heraus, die Rückzahlung des Teilbetrags des BAföG schreckt Studieninteressierte ab.

Kurzfristig müssen die Bedarfssätze des BAföG deshalb regelmäßig an die Preisentwicklungen gekoppelt und die Freibeträge deutlich erhöht werden, um mehr Studierende zu fördern. Langfristig führt an der alten und dennoch aktuellen Forderung eines umfassenden Finanzierungsmodells kein Weg vorbei, möchte man tatsächlich Chancengleichheit erreichen und finanzielle Voraussetzungen als Entscheidungsgrund zum Studium ein für alle mal beerdigen.


Mitbestimmung ausbauen

Die fehlende Teilhabe und Mitbestimmung von Studierenden an Entscheidungen der Hochschule ist bis heute ein Makel der Hochschullandschaft. In anderen Bereichen als der Forschung, in dem ProfessorInnen berechtigterweise über eine absolute Stimmenmehrheit verfügen können, ist eine Ausweitung hin zu einer Drittel- oder Viertelparität durchaus möglich. Gleichzeitig kämpfen seit Jahrzehnten Studierende in Baden-Württemberg und Bayern für eine Verfasste Studierendenschaft. Bis heute ohne Erfolg.

Diese Benachteiligung fesselt Studierenden die Hände und verhindert eine effektive Vertretung. Studierende sind jedoch gleichberechtigte Mitglieder der Hochschule und haben durch ihren Studienalltag die besten Kompetenzen in Bezug auf die Organisation eines Studiums sowie bezüglich der Beurteilung von Qualität der Lehre. Die vorhandene studentische Mitbestimmung muss deshalb ausgebaut und gleichberechtigt in den Gremien der akademischen Selbstverwaltung verwirklicht werden. Dies gilt ebenso für die Einrichtung einer Verfassten Studierendenschaft in Bayern und Baden-Württemberg. Nur wer Studierende ernst nimmt und mitentscheiden lässt, kann gute Entwicklungen für den gesamten Hochschulraum erwarten.


Ausblick

Auch wenn dies nur eine Auswahl ist: Die in den vorigen Abschnitten genannten Probleme machen deutlich, dass studentische Partizipation und politische Beteiligung an Entscheidungsprozessen im hochschulpolitischen Bereich mehr als notwendig ist. Sie sind durch die Auswirkungen von Reformen im Hochschulsystem am stärksten betroffen und besitzen die Kompetenz, Problemfelder zu benennen und Lösungsvorschläge aktiv mitzugestalten. Die Berücksichtigung von studentischen Stimmen ist für das Gelingen von progressiven Reformanstrengungen zwingend notwendig.

Andernfalls bleiben systemimmanente Fehler und Ungerechtigkeiten weiterhin im System, belasten Studium wie Lehre und treiben so die Studierenden erneut auf die Straßen. Die Ökonomisierung der Hochschulen hat dabei erheblich zur Verschärfung dieser Probleme beigetragen. Eine Hochschule ist aber kein Wirtschaftsunternehmen und hat andere Aufgaben und Verantwortung für Lehre, Forschung und Gesellschaft.

Das Zitat von Heinz-Joachim Heydorn von 1972 soll auch ein Hinweis darauf sein. Es bezieht sich auf die Reformen im Bildungssystem, Ende der 1960er Jahre. Zahlreiche Probleme haben wohlmöglich seitdem andere Namen erhalten, der Kern ihrer Fatalität besteht aber fort. Förderung von Selbstbestimmung, Kritikfähigkeit und Mündigkeit wird deshalb auch in Zukunft die gewichtigste Forderung der Studierenden sein.


Erkan Ertan studiert Politikwissenschaften sowie Öffentliches Recht und Turkologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen und war bis November 2010 Mitglied im Bundesvorstand der Juso-Hochschulgruppen und im Juso-Bundesvorstand.


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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 6/2010, Heft 181, Seite 15-18
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Februar 2011