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INTERNATIONAL/058: Zählt informelle Bildung in China tatsächlich nichts? (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 130, 4/14

Stimmt die Definition nicht... oder zählt informelle Bildung in China tatsächlich nichts?

Von Astrid Lipinsky


Die Autorin gibt im folgenden Beitrag einen Überblick über die Geschichte und die heutige Situation nichtformaler Weiterbildungswege von Frauen in der Volksrepublik China.

Zu kaiserlichen Zeiten (bis 1911) war in China das einzige und nur Männern zugängliche Bildungsziel die kaiserliche Prüfung. Manche behaupten, dass diese Tradition Schuld hat an der ausschließlich universitären Bildungsorientierung heute - Fachschulen, Fachoberschulen oder Berufsschulen gelten als zweite Wahl. Hingegen kämpfen ganze Familien und ganze Dörfer für die eine bestandene Uni-Aufnahmeprüfung für einen von ihnen - einen. Überall da, wo die Ressourcen zwischen Jungen und Mädchen gesplittet werden müssen, ist die Förderung der Mädchen zweitrangig. Aber egal, auch wenn ein Mädchen auf den zweiten Bildungsweg angewiesen ist, ist ihr Ziel die Universität. Der Weg dorthin führt über eine Reihe von theoretischen Prüfungen, die in ihrer alltäglichen Lebensrealität keine Rolle spielen. Aber der Chinesische Frauenverband verleiht ihr ein Ehrenzeichen und berichtet landesweit lobend über sie - nicht über ihre nützlichen praktischen Erfindungen, sondern über die Monopol-Orientierung auf die Universität hin. Was sie dort an Fach-Inhalten studiert, ist nicht so wichtig. Das Studienfach wird über die Prüfungs-Punktezahl automatisch zugewiesen.


Welche Lernorte stehen Frauen außerhalb der Universitäten zur Verfügung?

Offiziell hat China seit 1986 eine neunjährige Schulpflicht, aber viele Mädchen vom Dorf schließen die dreijährige Mittelschule nicht mehr ab. Das liegt, wenn man sie fragt, weniger an den Inhalten als daran, dass die Mittelschule zu weit weg ist, der tägliche Fußmarsch zu lang, die Verwandten zu unfreundlich. Mit der formellen Schulbildung ist es an dieser Stelle vorbei. Gibt es dann Anreize dafür, weiter zu lernen?

Nicht für diejenigen, die ans Fließband in den Exportsonderzonen-Fabriken gehen. Dort sind die individuellen Handgriffe auf das einfachst mögliche Format heruntergeschrumpft. Eine Gelegenheit zu weiterer Qualifikation gibt es nicht. Das bedeutet aber auch, dass der Aufstieg vom Fließband ins Büro nicht geplant ist und nur von einer minimalen Zahl von Frauen erreicht wird. Er bleibt aber Traum von allen, und davon leben und davon profitieren die Abendschulen, die sie im richtigen Verhalten als Führungskraft schulen. Diese Schulen haben keine Zugangsvoraussetzungen wie einen Mittelschulabschluss.

Regierung und Frauenverband meinen, dass informelles Lernen die Frauen nicht voranbringt. Vielmehr muss das Lernen zertifiziert sein und wird nach Möglichkeit formalisiert. Beispielsweise gibt es eine "Lehre" zur Haushaltshilfe in drei Stufen: zur einfachen Haushaltskraft, zur Haushaltskraft der Mittelstufe und zur absoluten Super-Nanny, deren erwarteten Lohn aber nur ein geringer Teil der Arbeitgeberhaushalte zahlen will.

Für alle Stufen der Ausbildung gibt es dickleibige Lehrbücher, in denen das Kochen und Putzen, wie es die Mädchen sowieso beherrschen, verwissenschaftlicht wird. Eine wissenschaftlich qualifizierte Haushaltshilfe, so das Versprechen, wird einen ausländischen, bevorzugt westlichen Arbeitgeber finden. Diese Ausbildung - beispielsweise im korrekten Reinigen von Ledermöbeln und der Haushaltsführung auf dem Computer des Arbeitgebers - ist kostenpflichtig, und ob sie sich später im Job rentiert, bleibt fraglich. Der Frauenverband hält die Mehrzahl der Frauen auch nicht für fähig und geeignet. Für sie bietet er Kurzzeit-Trainings an, zum Beispiel Kochkurse (wie koche ich gesund?). Das hier Gelernte kann die Schülerin gleich auch im eigenen Familienhaushalt anwenden. Die Kurse werden auch gerne von ausländischen Geldgeber_innen gefördert. Zusammen mit dem lokalen Arbeitsamt bietet der Frauenverband Kurse an, die es ausschließlich für Frauen gibt. Zum Beispiel sind Kochkurse nicht für Männer vorgesehen. Die Absolventinnen erhalten ein Zertifikat, ihr Lernerfolg wird bezeugt und dokumentiert. Für die Vermittlung eines Jobs und für das Gehalt scheint das Zeugnis aber keine Rolle zu spielen.


Gibt es sonstige Bildungsangebote?

Traditionell war die erste und wichtigste Lehrerin des Mädchens ihre Mutter. Sie, die Mutter, war auch zuständig für das Füßebinden und überhaupt eine strenge und nicht liebevolle Lehrmeisterin. Im Kopf hatte sie das dringende Ziel, dass sich ihre Tochter bei Heirat nicht gegenüber der Schwiegermutter blamieren würde - und damit auch sie, die leibliche Mutter, gleich mit. Der Erfolg der Erziehung wurde an der Winzigkeit der Füße gemessen. Es waren Frauen, die darauf bestanden, die Füße ihrer Töchter zu binden, und Männer, die in den Übergangsjahren auf gebundene Füße zu verzichten bereit waren.

Es war Maos vorrangiges Ziel, die Generationen der Älteren und die Großfamilie zu entmachten; es manifestierte sich in den 27 Paragrafen des Ehegesetzes von 1950, das auch das erste nationale Gesetz der 1949 gegründeten Volksrepublik China war. In der Kleinfamilie fielen aber potenzielle Lehrerinnen der Frau weg. Gleichzeitig konnten Frauen so gut sein, wie sie wollten, sie wurden nie so gut wie die Männer. In den Volkskommunen erhielten Frauen grundsätzlich weniger Arbeitspunkte als Männer. Eine Fähigkeit zu erwerben half ihnen nicht.

Viele Frauen wurden in den 1960ern als Arbeiterinnen eingestellt und arbeiteten sich an den Unis oder in den Schulen zur Lehrerin hoch. Mit 50 Jahren erhielten sie als Arbeiterinnen den Rentenbescheid. An ihrem Arbeiterinnenstatus hatten die Fortbildung und der Aufstieg in den universitären Lehrkörper nichts geändert, ihre Aufstiegsorientierung wurde vom Arbeitgeber nicht honoriert.


Das einzige Kind: eine Tochter - was soll sie lernen?

Viele Eltern einer Tochter sind heute der Ansicht, dass an formaler Bildung ein Universitätsabschluss ausreicht. Ein Magisterabschluss ist schon äußerstes Zugeständnis, eine promovierte und damit ältere Tochter bekommt man am Ende nicht verheiratet! Chinesische Regierungsquellen haben sich der Meinung von 90% der Männer angeschlossen, dass eine Frau mit 27 Jahren verheiratet sein soll. Sie könnte natürlich auch als verheiratete Frau weiterstudieren, aber die Eheschließung wird in China mit Schwangerschaft und Kind-Bekommen gleichgesetzt. Das Mehr an formeller Bildung ist in dieser Hinsicht hinderlich.

Die promovierten Frauen gelten der Gesellschaft, ihren Medien und sogar dem Frauenverband als "übrig gebliebene Frauen". Statt für den Titel zu lernen, werden ihnen Ratgeber dazu, wie sie schnell einen Mann finden, angeboten. Solche Ratgeber sind informelle Verhaltens-Coaches: Was ziehe ich an? Wie spiele ich die eigene Bildung (und/oder Berufskarriere) herunter?

Im Post-Reform-China haben Urbanisierung und neuer Reichtum dazu geführt, dass die Mütter den Töchtern keinen Rat mehr geben können, dass informelle Nachbarschaften nichts mehr zu sagen haben. Dafür hat jede Familie einen Fernseher, aus dem die Tochter erfährt, dass frau heute auch als Zweitfrau Karriere machen und zu Reichtum kommen kann. Ach ja, auch die Zweitfrauen-Ausbildung wird formalisiert und institutionalisiert - wie frau es wird (dafür gibt es Vermittlungsagenturen), was sie verlangen sollte (Mercedes, eigene Wohnung, Monatsgehalt) und wer sie vertritt (auf Zweitfrauen spezialisierte Anwälte; die Eltern/Familie spielen keine Rolle mehr).

In Westeuropa hat die Postmoderne zur Wiederentdeckung traditioneller Klosterbildung geführt. So weit ist China (noch) nicht, obwohl die chinesische Geschichte sie auch hatte: die Dichterinnen und Malerinnen, professionelle Frauen außerhalb des staatlichen Schulsystems.


ZUR AUTORIN:
Astrid Lipinsky leitet das Wiener Zentrum für Taiwanstudien und gibt die Vienna Taiwan Studies Series heraus. Sie lebt in Wien.

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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 130, 4/2014, S. 18-19
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Juni 2015

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