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REDE/054: Merkel - Festakt zum 450. Todestag von Philipp Melanchthon, 19.04.2010 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
"REGIERUNGonline" - Wissen aus erster Hand

Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel beim Festakt zum
450. Todestag von Philipp Melanchthon am 19. April 2010 in Wittenberg


Sehr geehrter Herr Ratsvorsitzender,
sehr geehrter Herr Bischof Müller,
sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
liebe Vertreter der Ökumene,
sehr geehrte Damen und Herren,

wir sind heute zum Gedenken an Philipp Melanchthon zusammengekommen. Wir haben uns versammelt, um einen der größten Bildungsreformer unserer Geschichte zu würdigen.

Wir tun dies an einem ganz besonderen Ort: der Schlosskirche von Wittenberg, der Wiege der lutherischen Reformation. Hunderttausende kommen jedes Jahr, um die berühmte Tür zu sehen, an die Martin Luther seine Thesen gegen den Ablasshandel angeschlagen haben soll. Es kommen nicht nur Lutheraner oder Protestanten. Es kommen Menschen ganz unterschiedlicher Konfessionen und Glaubensrichtungen. Sie alle wissen: Die Reformation hat von hier aus die Welt für immer verändert. Sie schlug ein neues Kapitel des christlichen Glaubens auf. Sie war Teil eines breiten gesellschaftlichen Wandels.

Dieser Wandel ging einher mit einem Bildungsaufbruch ohne Beispiel. Neue Erkenntnisse prägten die Zeit. Erinnert sei nur an die Entdeckung Amerikas. Vor allem aber erhielten viel mehr Menschen Zugang zum Wissen. Das war ein Verdienst des Buchdrucks. Und es war ohne Frage ein Verdienst der Reformation, die die neue Technik zu nutzen verstand - wenngleich ich zustimme, wie es der Ratsvorsitzende eben gesagt hat: Man weiß nicht, was ohne Buchdruck aus der Reformation geworden wäre.

So sitzen wir heute hier über die Konfessionsgrenzen hinweg vereint - vereint auch in dem Wissen um die historische Bedeutung von Philipp Melanchthon. Er gehört zu den großen Deutschen. Als "Lehrer der Deutschen" ist er in unsere Geschichte eingegangen - als Praeceptor Germaniae. Und das, glaube ich, zu Recht.

Denn Melanchthon war ein herausragender Gelehrter und Pädagoge. Er hat mit seinen Schulgründungen und Studienreformen wichtige Reformen angestoßen. Er sah in der Bildung die wichtigste Grundlage für alle Lebensbereiche. Bildung kommt bei ihm vor Frömmigkeit. Bildung ist der Schlüssel zur Mündigkeit. Sie verleiht einer Gemeinschaft Stärke.

Melanchthon war überzeugt: Jeder sollte die Bibel selbst lesen können und sich mit seinem Glauben auseinandersetzen. Die Reformatoren brachen mit der Interpretationshoheit der Geistlichen. Ziel war ein mündiger Christ. Die Grundlage dafür war ein gebildeter Mensch. Deshalb war Melanchthon unermüdlich - neben allem anderen, was er tat - an Schulgründungen beteiligt. Jedes Kind sollte eine elementare Bildung erhalten - unabhängig vom sozialen Stand. Denn vor Gott sind alle gleich.

Bildung für alle - so könnte man den Anspruch Melanchthons heute zusammenfassen. Das war für die damalige Zeit revolutionär. Und es war erfolgreich: Die Reformation sorgte für einen gewaltigen Bildungsschub. Die Menschen entwickelten eine neue Mündigkeit. Gebildeter und fester im eigenen Urteil konnten sie jetzt auf ganz andere Weise am Gottesdienst, an der Gesellschaft, am wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritt teilhaben.

Bildung für alle - das ist für uns heute selbstverständlich. Jedes Kind geht zur Schule. Jeder junge Mensch hat die Möglichkeit, sich für eine Ausbildung oder ein Studium zu entscheiden, das ihm zusagt. Die Nutzung von Büchern, Zeitungen und Internet ist selbstverständlich. Wir verfügen über ein leistungsfähiges und international anerkanntes Bildungssystem mit vielfältigen Schulen, herausragender dualer Berufsausbildung und hochkarätigen Universitäten. Dieses Bildungssystem ist die Grundlage dafür, dass wir zu den politisch und wirtschaftlich führenden Industrienationen und zu einer der stabilsten Demokratien geworden sind.

Dennoch ist die Chance auf Erfolg und Anerkennung in unserem Bildungssystem nicht für alle Kinder gleich. Zu oft entscheidet Herkunft heute noch über den Schulabschluss, den Start in den Beruf oder den Erfolg im Leben. Zu viele Schülerinnen und Schüler in Deutschland können am Ende ihrer Schulzeit nur unzureichend lesen und rechnen. Ihnen fehlen die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten, um den steigenden Anforderungen in der Berufswelt gerecht zu werden.

Deshalb gibt uns Melanchthon einen Auftrag: Wir müssen es schaffen, dass der Zusammenhang zwischen Herkunft und Bildung aufgebrochen wird. Wir dürfen uns mit Bildungsarmut nicht abfinden. Bildung für alle - das ist auch Auftrag für uns heute. Denn gute Bildung ist der entscheidende Schlüssel zu Selbstvertrauen und persönlichem Erfolg, auch im 21. Jahrhundert. Sie ist ein Gebot der Gerechtigkeit und eine entscheidende Grundvoraussetzung für Demokratie, Wohlstand und Zusammenhalt der ganzen Gesellschaft.

Man kann es vielleicht noch einfacher sagen: Bildungschancen sind letztlich Lebenschancen. Dieser Zusammenhang wurde von allen großen Bildungsreformern unserer Geschichte aufgegriffen: vom Reformator Melanchthon, der sich für Bildung stark machte; von den Jesuiten, die für die katholische Kirche Schulen und andere Bildungsstätten einrichteten; vom Pietisten August Hermann Francke und seinen Franckeschen Stiftungen, die Kindern aus sozial schwierigsten Verhältnissen neue Perspektiven eröffneten; und auch von den aufgeklärten Gebrüdern von Humboldt. Sie alle wussten um die Bedeutung von Bildung. Genauso wie sie sind auch wir aufgefordert, diesem Credo nachzukommen.

Ich habe deshalb mit Bedacht anlässlich des 60. Jahrestages der Einführung der Sozialen Marktwirtschaft formuliert: "Wir müssen die Bildungsrepublik Deutschland werden". Dazu ist ein Konsens über den Wert der Bildung in den Familien nötig. Dazu benötigen wir Lehrende, die Schülern das nötige Rüstzeug vermitteln, aber auch Begabungen fördern. Und dazu müssen öffentlich die richtigen Voraussetzungen geschaffen werden.

In Deutschland gibt es oft Streit über die Kompetenzen in der Bildung. Ich glaube aber, dass sich die Menschen für diesen Streit nicht interessieren. Sie wollen vielmehr, dass wir die gleichen Bildungschancen für alle umsetzen. Deshalb ist es gut, dass Bund und Länder über die Ziele jetzt im Gespräch sind und dass wir uns zwischen Bund und Ländern auf gemeinsame Zielsetzungen verständigt haben und zehn Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts bis 2015 für Bildung und Forschung ausgeben wollen.

Wir wissen, dass wir die vorschulische Sprachförderung verbessern müssen. Denn Sprache ist der Schlüssel für Bildung. Wir müssen benachteiligten Jugendlichen mehr Chancen eröffnen. Wir müssen dafür sorgen, dass Universitäten in Deutschland weiter eine führende Stellung in der Welt haben. Wir müssen die Bedingungen dafür schaffen, dass niemand aus finanziellen Gründen auf ein Studium verzichtet. Wir müssen die Qualität und den Bildungserfolg vor die herkömmlichen Strukturdebatten stellen. Bildungsqualität ist das Ziel, Schulstrukturen sind das Mittel dazu, nicht umgekehrt. Wir brauchen insgesamt mehr Durchlässigkeit, mehr Übergänge und Schnittstellen. Das Bildungssystem darf keine Türen verschließen, sondern muss Türen öffnen - für jedes Kind.

Ebenso wichtig sind engagierte Lehrkräfte. Das wusste schon Philipp Melanchthon. Wenn wir heute sein Werk würdigen, dann auch stellvertretend für die Lehrer, die heute ihren Dienst mit großem Engagement versehen. Sie leisten einen harten Job, wie man heute sagt. Das ist heute nicht anders als damals.

Deshalb klingt die Rede Melanchthons über die Leiden der Lehrer ganz aktuell: "Wir sind von allen Sterblichen am übelsten dran", sagte er. Denn die Lehrer hätten die härteste Arbeit, lebten in kümmerlichen Verhältnissen und müssten sich auch noch mit Verachtung behandeln lassen, nicht nur von den Schülern, sondern auch von ihren Eltern. Das ist sicherlich sehr zugespitzt formuliert, wie die klare Sprache damals überhaupt ein Zeichen der Zeit gewesen zu sein scheint. Aber ich glaube, wir sind uns einig: Lehrer leisten eine unverzichtbare Arbeit, die oft über das, was bezahlt wird, hinausgeht. Deshalb ist an dieser Stelle auch ein Dankeschön an die Lehrer unserer Zeit angebracht.

Wir diskutieren derzeit viel über Verfehlungen von Pädagogen an Schulen, Internaten oder in Kinderheimen. Erschütternde Fälle wurden in den vergangenen Wochen bekannt. Da ist Aufklärung gefragt, schonungslos und offen. Da sind Konsequenzen zu ziehen. Und da ist Vorsorge gegen künftigen Missbrauch oberstes Gebot. Fest steht aber auch: Die große Mehrzahl der Pädagogen arbeitet ehrbar und verantwortungsbewusst. Sie haben das Vertrauen von Schülern und Eltern verdient und verdienen es auch weiter. Wir brauchen auch weiterhin engagierte und verantwortungsbewusste Lehrerinnen und Lehrer. Denn so, wie sich zur Reformationszeit die Welt wandelte, weil mehr Personen Zugang zur Bildung und zu Informationen hatten, so wandelt sich auch heute die Welt aufgrund einer neuen, einzigartigen Vernetzung von Wissen und Information.

Wir befinden uns mitten in einem globalen Wissensschub. Wissen ist in ganz anderen Dimensionen zugänglich. Neue Technologien erschließen ungeahnte Möglichkeiten. Wir müssen die Chancen, die daraus erwachsen, nutzen. Die erste Voraussetzung dafür ist Bildung, und zwar Bildung für alle. Wir dürfen keine einzige Begabung verschenken.

Oder, um es mit den Worten Melanchthons zu sagen: "Kein Bollwerk und keine Befestigung macht eine Stadt stärker als gebildete, kluge und mit anderen Tugenden begabte Bürger." 450 Jahre nach seinem Tod bleibt dieses Vermächtnis Philipp Melanchthons weiterhin gültig. Es sollte uns Auftrag sein, einen Teil dessen, was ihn geprägt hat, auch im öffentlichen Bereich umzusetzen.


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Quelle:
Bulletin Nr. 40-1 vom 20.04.2010
Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel beim Festakt zum
450. Todestag von Philipp Melanchthon am 19. April 2010 in Wittenberg
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. April 2010