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UNIVERSITÄT/2306: Gießen - Von der Frauenförderung zur Geschlechtergerechtigkeit (idw)


Justus-Liebig-Universität Gießen - 10.02.2009

Von der Frauenförderung zur Geschlechtergerechtigkeit

20 Jahre Gleichstellungspolitik an der Justus-Liebig-Universität Gießen


Vor 20 Jahren, am 15. Februar 1989, wurden an der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU) die ersten Frauenbeauftragten in der Geschichte der Universität bestellt. Dieser Akt war die Geburtsstunde der institutionalisierten Frauenförderung an der JLU und ein wichtiger Schritt für den Emanzipationsprozess der Frauen an der Universität, die bis zu diesem Zeitpunkt auf fast allen Ebenen der Bildungsinstitution - nur die Studentinnen hatten mit den Studenten gleichgezogen - eklatant unterrepräsentiert waren. Zwei Jahre hatte es gedauert, bis die Universität den Erlass der Hessischen Ministerin für Wissenschaft und Kunst, Dr. Vera Rüdiger, in allen hessischen Landesbehörden Frauenbeauftragte zu bestellen, in die Tat umgesetzt hatte. Doch nun war es geschafft und der damalige Präsident Prof. Dr. Heinz Bauer stellte die neuen Frauenbeauftragten, Marion Oberschelp und Gerda Weigel-Greilich, der Presse vor. Sie sollten in einem auf vorerst zwei Jahre begrenzten "Pilot-Projekt" mit jeweils einer halben Stelle ihre Aufgaben als Frauenbeauftragte wahrnehmen. Zwei Jahre später wurde das "Pilot-Projekt" in eine Dauerlösung überführt.

Zu Beginn stützten sich die Frauenbeauftragten auf den von ihnen konzipierten und vom Konvent verabschiedeten Frauenförderplan der JLU, bis 1994 mit dem Hessischen Gleichberechtigungsgesetz (HGlG) eine allgemeinverbindliche Grundlage für die Frauenförderung im öffentlichen Dienst vorlag. Darin wurden die hessischen Hochschulen verpflichtet, verbindliche Zielvorgaben für die Einstellung von Frauen festzulegen, so z.B. für Professorinnen mindestens die Hälfte aller voraussichtlich frei werdenden Professuren. Eine Kernaufgabe der Frauenbeauftragten der Universität war und ist deshalb die Teilnahme an Berufungs- und Einstellungsverfahren, um die Einhaltung dieser Zielvorgaben zu überwachen. Sie werden dabei von ca. 50 Frauenbeauftragten in den Fachbereichen unterstützt. Ab dem Sommersemester 1995 galt zudem der "materielle" Frauenförderplan der Universität, der Themen wie Beurlaubung, Umgestaltung des Arbeitsplatzes, Frauenforschung, Kinderbetreuung oder Schutz vor sexueller Belästigung regelte.

Was auf recht wackligen Füßen begann, entwickelte sich in den folgenden zwanzig Jahren zu einem wichtigen Werkzeug der Universität in ihrem Bemühen Chancengleichheit für Frauen und Männer auf allen Karriereebenen zu erreichen. Heutige Gleichstellungspolitik basiert auf den Erfahrungen der institutionalisierten Frauenförderung der letzten 20 Jahre, sie baut auf den Erfolgen, aber auch auf den Versäumnissen dieser Politik auf. Denn die eingesetzten Mittel der Frauenförderung wie das Gleichberechtigungsgesetz und die Frauenförderpläne konnten das beharrlichste Problem, die Unterrepräsentation von Frauen in führenden Positionen der Wissenschaft und der wissenschaftlichen Gremien und Einrichtungen nicht lösen. In Gießen sind bei einem Frauenanteil von 66 Prozent unter den Studierenden nur 15 Prozent aller Professuren von Frauen besetzt, im Präsidium gibt es keine Frau, in den Dekanaten einen Anteil von 21 Prozent Frauen, in Senat und Fachbereichsräten sind 30 Prozent Frauen und in den Wissenschaftlichen Zentren und Forschungsverbünden sind gerade einmal 13 Prozent der Leitungsfunktionen von Frauen besetzt (Gleichstellungskonzept der Justus-Liebig-Universität Gießen, 2008, Anhang I, Teil E, S. 44 - 46). Problematisch ist auch die geringe Zahl der Frauen bei den Habilitationen, ein Negativtrend, der in den Fachbereichen Recht, Wirtschaftswissenschaften, Naturwissenschaften und Medizin schon bei der Qualifikationsstufe "Promotion" beginnt.

Dass diese Zahlen überhaupt erreicht wurden, ist nicht zuletzt der Arbeit der Frauenbeauftragten zu verdanken, deren Aufgabe es war und ist, auch gegen Widerstände und/oder Unverständnis die Einhaltung der gleichstellungspolitischen Regeln zu überwachen und notfalls einzufordern. Hierbei erwiesen sich die vom Hessischen Gleichberechtigungsgesetz bestimmte Verpflichtung zur Festsetzung von Zielvorgaben und das Widerspruchsrecht der Frauenbeauftragten als recht erfolgreiche Instrumente um Frauenanteile im wissenschaftlichen Bereich zu steigern. So hat sich z.B. der Anteil der Frauen unter den wissenschaftlichen MitarbeiterInnen an der JLU bis heute verdoppelt, der der Professorinnen sogar verdreifacht bei weiter steigender Tendenz.

Trotzdem können die Zahlen nicht zufrieden stimmen. Bundesweit leidet die Gleichstellungspolitik der Hochschulen an der mangelnden kulturellen Implementierung gleichstellungspolitischer Grundsätze. Schon auf landespolitischer, noch mehr aber auf Hochschulebene werden die Maßnahmen zu wenig kommuniziert, sie werden nicht in allen Punkten umgesetzt, nicht evaluiert und bei Nichtbeachtung nicht oder kaum sanktioniert. Die tatsächliche Durchsetzung von Gleichstellung an den Universitäten liegt vor allem an der Entschlossenheit der Personen, die in den Leitungen und akademischen Gremien der Selbstverwaltung der Universitäten sitzen. Dort sind Frauen jedoch in der Minderheit, und die Erfahrung zeigt, dass die männliche Mehrheit sich mit der Entwicklung erfolgreicherer Strategien zur Durchsetzung von Gleichstellung an ihren jeweiligen Hochschulen schwer tut.

Umso erfreulicher ist es, dass im letzten Jahr über den "Umweg" des Professorinnenprogramms des Bundes und der Länder vom Präsidium der Justus-Liebig-Universität unter Leitung des Präsidenten, Prof. Dr. Stefan Hormuth, ein ambitioniertes Gleichstellungskonzept verabschiedet wurde, dessen tatsächliche Umsetzung in die Praxis eine Vorausbedingung für die Vergabe der Gelder sein wird. Mit dem Professorinnenprogramm werden für die Universitäten von staatlicher und Länderseite Anreize gesetzt, um die ganze Universität mehr als zuvor in den Prozess der Herstellung von Geschlechtergerechtigkeit einzubinden. Denn Chancengleichheit ist nicht mehr nur wie in den letzten 20 Jahren eine Zielvorgabe der Politik, die die Hochschulen zur Einhaltung der demokratischen Gerechtigkeitsnorm verpflichten wollte. Sie wird heute vielmehr zum Qualitätsmerkmal moderner Universitäten, die sich im nationalen wie internationalen Vergleich behaupten müssen, und damit zu ihrer ureigensten Aufgabe. Diesen Zusammenhang betonen auch die deutschen Forschungseinrichtungen wie die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die im Sommer 2008 die "Forschungsorientierten Gleichstellungsstandards" formulierte, die auf die Erhöhung des Frauenanteils in Wissenschaft und Forschung drängen und Frauenförderung als zentrale Aufgabe der Hochschul- und Institutsleitungen festschreiben. In Gießen soll nun das Qualitätsmerkmal der Chancengleichheit deutlich stärker als bisher im Leitbild und der Organisationsstruktur der Universität im Sinne einer Querschnittsaufgabe verankert werden.

Für die Frauenbeauftragte, Marion Oberschelp, bedeutet das Gleichstellungskonzept eine Erweiterung ihrer Zuständigkeiten. Mit dem durch das Gleichstellungskonzept eingeleiteten Perspektivenwechsel der Universität von der Frauenförderpolitik zur Implementierung von Geschlechtergerechtigkeit wird sie immer mehr zur Impulsgeberin der Hochschulleitung. Ein großer Fortschritt im Vergleich zu den Anfangsjahren, der trotz aller Rückschläge den Willen zur Durchsetzung des Gleichheitsgedankens für Frauen und Männer an der Universität und in der Wissenschaft signalisiert. Ob das endgültige Ziel der tatsächlichen Geschlechtergerechtigkeit erreicht wird, bleibt abzuwarten.

Weitere Informationen unter:
http://www.uni-giessen.de/frauen

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/pages/de/institution217


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Justus-Liebig-Universität Gießen, Caroline Link, 10.02.2009
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E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Februar 2009