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WEITERBILDUNG/161: Vom Recht auf neue Chancen - Digitalisierung verlangt die Neuorganisation von Bildungsphasen (spw)


spw - Ausgabe 2/2019 - Heft 231
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Vom Recht auf neue Chancen - Digitalisierung verlangt die Neuorganisation von Bildungsphasen

von Björn Böhning(1)


Bernd ist Auto-Mechaniker, 46 Jahre alt. Er liebt seinen Beruf. Als junger Mann hatte er einen Opel-Manta, mit Fuchsschwanz. Sein Auto hat er selbst repariert. Mit dem Rücken unter dem aufgebockten Wagen liegend, auch mal in einer Öllache, den Geruch des Öls in der Nase, und den des Benzins. Er liebt es sogar, sich nach getaner Arbeit das Öl mit Kernseife von den Händen zu schrubben, manchmal braucht er fast ein halbes Stück Seife dazu. Sein Hobby hat er zum Beruf gemacht.

Der Opel-Manta wird seit 1988 nicht mehr produziert. Und auch die Arbeit, die Bernd liebt, wird es so irgendwann vielleicht nicht mehr geben. Elektro-Autos riechen nicht. Höchstens nach Duftbäumen. Man macht sich an ihnen auch nicht so die Hände schmutzig. Also hoffen, dass alles gut geht? Dass die Rente schneller kommt als der Fortschritt?

Wie geht die Geschichte weiter? Bernd beantragt eine Weiterbildung zum Mechatroniker. Sie wird ihm genehmigt. Er meistert die Ausbildung mit Erfolg. Seine Zukunft ist gesichert. Alle sind froh. So geht Zukunft.

Nein.

Andere wollen sich vielleicht die Finger nicht verschmieren. Bernd schon. Andere wollen keine öligen Stoffe in der Nase riechen. Bernd schon. Und nun?

Eigentlich müssen es für Bernd ohnehin keine Autos mehr sein. Was bedeuten schon diese SUVs gegenüber einem Manta (mit Fuchsschwanz)? Bernd hat seit frühester Jugend gerne Autos gezeichnet. Mit Kohle, auf Papier. Oder, na klar, mit Ölfarben. Wie wär's also damit, Kunst zu studieren? Kunst? Vielleicht auch Design. Oder sich selbständig zu machen, mit einer Werkstatt für Oldtimer. Oder, oder, oder...

Ok, dann mal los! Mit der neuen Bildungsversicherung! Neben der Kranken-, Renten-, Pflege-, Arbeitslosen- und Unfallversicherung, die neue Säule im sozialen Sicherungssystem des digitalen Zeitalters. Ist gar nicht so kompliziert, wie es sich anhört. Du kannst selbst entscheiden, wie Du Dich weiterbildest. Es steht Dir zu. Ob in Teilzeit neben Deiner Arbeit. Oder Vollzeit. Ob ein, zwei oder drei Jahre.

Schon klar, dass dieses Beispiel nicht die gängigen Erwartungen erfüllt. Schon gar nicht jener, die nur in Kategorien denken wie: "der kann doch einfach umgesetzt werden" - je nachdem was der Markt gerade so braucht. Hätte man nicht mit einer Kassiererin beginnen können, die sich zur Gesundheitskraft umschulen lässt? Und der Bernd, der soll sich mal nicht so anstellen, oder? Der soll sich zum Informatiker ausbilden lassen, die brauchen wir doch dringend.

Schließlich geht es um Dramatisches. Um einen Epochenwandel. Drohen nicht durch die Digitalisierung ganze Berufsgruppen zu verschwinden? LKW-Fahrerinnen, Lokführer, Kassierer, Maklerinnen? Studien überschlagen sich damit, wie viele Jobs verloren gehen und wie viele gleichzeitig neu in anderen Berufsfeldern und Branchen entstehen - Jobs von denen wir heute vielleicht noch nicht einmal ihre Namen und Jobbeschreibungen kennen.

Genau das ist es! Niemand weiß, wie sich die Digitalisierung konkret auf den Arbeitsmarkt auswirken wird. Was wir aber wissen: Selbst wenn es keine Digitalisierung gäbe und keinen Fortschritt nirgendwo, selbst dann wäre es doch gut, wenn wir ein Recht auf (Weiter)Bildung hätten. Und zwar so, wie es jeder einzelne von uns für richtig hält. Erst recht gilt das für einen gesellschaftlichen Umbruch, wie er uns durch Digitalisierung und Künstliche Intelligenz bevorsteht. Denn wir sind mitten in einer dramatischen Transformation, die Millionen Arbeitsplätze kosten wird - während anderswo neue entstehen. Dieser ökonomische Prozess und seine gesellschaftlichen Auswirkungen sind kaum zu überschätzen - mit erheblichen Auswirkungen auf den Einzelnen, wie unsere kleine Geschichte zeigt.

Ist es aber nicht geradezu ein Menschenrecht, alte Wege neu beschreiten zu können? Gänzlich neue Wege zu gehen? Uns auszuprobieren, uns zu entwickeln, zu entfalten. Nicht als Produktionsfaktor, sondern als Mensch. Denn darum geht es doch schließlich bei allem, was wir unternehmen: Unser Schicksal in die eigenen Hände nehmen zu können, um selbstbestimmt ein gutes, unser Leben zu führen. Und dabei die beste Unterstützung und Rahmensetzung zu bekommen, die wir als Gesellschaft leisten können.

Ist das etwa der altbekannte sozialdemokratische Groove? Vielleicht nicht. Es soll hier auch nicht um Erwartbares gehen. Es geht um nicht weniger als etwas, was es bisher so noch nie gegeben hat. Es geht um etwas Kühnes, um etwas, was ähnlich verheißungsvoll ist, ja, wie es zum Beispiel Facebook und Co mal waren. Mit dem großen Unterschied, dass es nicht um unternehmerisches Interesse geht, um Gewinnstreben, sondern um das Wohl des Einzelnen, das Wohl der Gesellschaft. Es geht um ein lebenslanges Recht auf Weiterbildung. Ein Recht. Für jede und jeden.

Ja, dieses Recht soll es auch deshalb geben, weil die Digitalisierung dazu führen wird, dass Arbeitsplätze verloren gehen. Ja, auch deshalb, weil ganze Berufsgruppen verschwinden werden. Ja, um Arbeitslosigkeit zu verhindern. Ja, um Menschen sozial abzusichern. Ja, um die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands zu erhalten und zu steigern. Aber eben auch: Weil es uns Menschen guttut. Und weil wir in dieser hoch komplexen Welt eben nur durch eine nochmalige Bildungsphase im Erwachsenenalter die Chance auf sozialen Aufstieg wahren können. Zum Beispiel für jene, die durch ihre Erstausbildung vor 20 oder 25 Jahren im hier und heute keine Möglichkeit mehr haben, mit dieser Ausbildung voranzukommen bzw. noch einmal neu zu beginnen. Das organisieren wir neu: durch die Kombination aus den Erfahrungen der ersten Ausbildung, dem alten Job und dem neu erlangten Wissen - state of the art - abgesichert durch die Bildungsversicherung. Und wenn wir dabei erreichen, dass wir nicht nur kreativer und besser gelaunt sind, sondern auch produktiver - und das ist unter dem Strich sehr wahrscheinlich - dann um so besser.

Eine Bildungsversicherung also. Aber es geht um mehr, als um eine Versicherung. Eine Sozialversicherung deckte bisher nur gegen Schaden ab. Wir aber wollen dazu beitragen, dass ein Schaden der "fehlenden Anschlussverwendung" gar nicht erst eintritt. Nicht durch mahnen oder drohen. Nicht durch Vorgaben oder Forderungen. Wir wollen Chancen ermöglichen, wir wollen Autonomie fördern, es dabei aber den Einzelnen überlassen, wie sie sich entwickeln wollen.

Wir streben keine neue Behörde an, mit neuen Präsidenten und neuen Abteilungsleitern. Der Staat kann nicht organisieren, wer sich wie am besten fortbilden sollte. Wir wollen die Emanzipation des Einzelnen stärken. Und lediglich die Bedingungen dafür schaffen, dass Weiterbildung frei von zeitlichen und finanziellen Zwängen gelingt. Denn durch die Marktwirtschaft allein gelingt es nicht.

Die Realität sieht so aus, und das belegen Studien immer wieder: Eine große Mehrheit der Beschäftigten wünscht sich Fortbildung, wird aber durch die Arbeitgeber ausgebremst. Und selbst die öffentliche Hand tut viel zu wenig und sogar immer weniger.

Versicherung nennen wir unser Projekt deshalb, weil es den Einzelnen einen Anspruch gibt. Und weil es zu einem Verständnis der Sozialversicherung passt, die niemanden hängen lässt. Und so organisiert auch bezahlt werden soll. Wir denken an einen Mix aus Steuergeldern und Beiträgen, letztere eingezahlt zu gleichen Teilen von Arbeitgebern und Beschäftigten. Am Ende fördern wir damit Investitionen in die Fähigkeiten des Einzelnen und die Zukunftsfähigkeit unserer gesamten Gesellschaft - und werden so wirtschaftlich erfolgreicher sein als Andere. Und das allerbeste: Das Ganze ist für weniger als zwei Flugzeugträger der Typklasse Gerald-R.-Ford zu haben!

Jeder zahlt ein. Jeder bekommt etwas heraus. Auch diejenigen, die gut oder sehr gut verdienen. Es geht eben nicht nur darum, Not zu verhindern. Sondern auch darum, zum Anstrengen zu ermuntern, dem Leben eine neue Bahn zu geben, seinen eigenen Weg zu finden. Wir wollen zwar schützen, aber vor allem unterstützen. Wir versichern die zweite, dritte und vielleicht auch vierte Chance im Rahmen einer ganzen Erwerbsbiografie. Und davon profitieren natürlich auch die Unternehmen, die händeringend gute Leute suchen.

Natürlich sehen wir die Gefahren durch Digitalisierung und Künstliche Intelligenz. Volkswagen hat gerade verkündet, aufgrund der zunehmenden Automatisierung 5000 bis 7000 Stellen zu streichen. Im Gegenzug werden 2000 neue Stellen geschaffen für die Bereiche Software und IT. Unter dem Strich eine schlechte Bilanz. Umso wichtiger ist es, sich für die neuen Anforderungen zu qualifizieren. Diese Transformation muss solidarisch gestaltet werden - und nicht auf dem Rücken des Einzelnen.

Unser Modell ist soziales Bürgerrecht: Deshalb sollen alle Bürgerinnen und Bürger zusätzlich und als Teil der Bildungsversicherung ein Chancenkonto erhalten. Wer das 18. Lebensjahr erreicht, bekommt im Sinne eines Sozialerbes ein Startguthaben. Frei verfügbar: für Weiterbildung, Qualifizierung oder Gründung.

Einst waren Abitur und Studium den sogenannten Eliten vorbehalten. Inzwischen ist die Zahl der Abiturienten und Studenten so gewaltig gestiegen, dass schon Stimmen laut werden, es seien zu viele. Das finden wir nicht. Wir wollen nicht zurück zum alten Elitarismus. Und wir finden uns nicht damit ab, dass Menschen lebenslang benachteiligt sind, weil sie keine Ausbildung abgeschlossen haben. Die Bildungsversicherung gibt daher auch einen Anspruch darauf, einen Berufsabschluss nachzuholen.

Die Weiterbildung muss hochwertig sein. Sie soll sich aber nicht nur nach den vermeintlichen Bedürfnissen der Wirtschaft ausrichten. Wir denken nicht in Kategorien von Geld und Beförderung. Wir wollen nicht messen, ob sich die Weiterbildung in Euro und Cent gelohnt hat. Wir wollen gerade in einer Zeit, in der Maschinen fast alles Austauschbare schneller erledigen als der Mensch, dazu beitragen, dass wir eben nicht austauschbar sind. Es geht um unsere Würde.

Alle bekommen für die Weiterbildung was sie brauchen, nicht was sie eingezahlt haben. Sonst wäre es ungerecht. Die Kassiererin einer Möbelkette, deren Arbeitsplatz durch automatisierte Kassen bedroht ist, hat ja nicht weniger finanzielle Verpflichtungen als zuvor. Sie braucht mehr Geld, als ihr aufgrund ihrer Beiträge zustünde. Sonst würde sie vielleicht auf die Weiterbildung verzichten, ihr Job ist ja nur bedroht, aber noch nicht weg. Genau das würde die Chancenungleichheit verschärfen. Weil sich die Gutverdiener leisten können, sich weiterzubilden, andere aber nicht.

Die Bildungsversicherung ist also solidarisch organisiert. Das klingt nicht neu, eher vertraut sozialdemokratisch. Und das soll auch so sein. Denn diese neue sozialstaatliche Säule knüpft an etwas zutiefst Sozialdemokratisches an: Die stetige Verbesserung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse unter den Bedingungen des ständigen Wandels. Im Übrigen wird die solidarische Gestaltung der Transformation zur Überlebensfrage sozialdemokratischer Politik!

Bildungsinvestitionen sind gesamtgesellschaftliche Investitionen, deren Nutzen jedem klar ist. Erst recht, wenn man die Kosten des Nichtstuns dagegenhält, wie es die OECD aufzeigt. Der Mismatch an vorhandenen und benötigten Kompetenzen kann ein Prozent der heutigen Wirtschaftsleistung kosten, mithin knapp 34 Milliarden Euro 2018 für Deutschland. Und nicht zu beziffern - weil noch nie dagewesen - ist der neue wirtschaftliche wie gesellschaftliche Mehrwert, der sich aus der Kombination von Erstausbildung, Berufs- und Lebenserfahrung sowie einer zweiten Aus- bzw. Weiterbildungsphase im Erwachsenenalter ergibt.

Mit der Bildungsversicherung erneuern wir im digitalen Zeitalter glaubwürdig das Versprechen, Bildungs-, Entfaltungs- und Beschäftigungschancen zu schaffen. Unsere Zukunft kann mit diesem Instrument anders gezeichnet werden, als jene, die wir momentan anbieten. Die Zukunft liegt in der kollektiven Bildung! Wohin das führt? Wer weiß, wohin das führt. Aber es ist unsere Verantwortung, dass Bernd dem Wandel nicht alleingelassen begegnen muss.


(1) Björn Böhning ist Staatssekretär im Arbeitsministerium und plädiert für eine Bildungsversicherung.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 2/2019, Heft 231, Seite 36-39
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Mai 2019

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