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GAZA/075: Waffengang und Widerstand - Gründungsbedingung Demokratie ..., Saleh Zidan im Gespräch (Martin Lejeune)


Ohne palästinensische Einheit keine Friedenslösung

Interview eines Journalisten aus Gaza-Stadt mit Saleh Zidan am 24. Juli 2014

von Martin Lejeune



Saleh Zidan ist Mitglied des Politbüros der Demokratischen Front zur Befreiung Palästinas (DFLP) und deren führender Vertreter im Gazastreifen. Der ehemalige Minister für soziale Angelegenheiten in der palästinensischen Einheitsregierung unter Ministerpräsident Ismail Haniyya, die im März 2007 auf der Grundlage des Vertrags von Mekka gebildet und drei Monate später aufgelöst wurde, ist auch Mitglied im Zentralrat der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO).

Die Fragen des Interviews wurden in englischer Sprache gestellt und von einem Dolmetscher ins Arabische übersetzt, der die Antworten wiederum ins Englische übertrug.

Im Gespräch - Foto: © 2014 by Martin Lejeune

Saleh Zidan
Foto: © 2014 by Martin Lejeune

Martin Lejeune: Herr Zidan, wie viele Widerstandskämpfer gehören der DFLP in Gaza an?

Saleh Zidan: Es gibt mehrere kämpfende Einheiten: die al-Aqsa-Brigaden der Fatah, die Qassam-Brigaden der Hamas, der Islamische Dschihad, die Abu-Ali-Mustafa-Brigaden der PFLP und die Nationalen Widerstandsbrigaden der DFLP. Es ist schwierig, eine konkrete Zahl an Kämpfern anzugeben, weil die DFLP-Brigaden auf sich selbst gestellt sind und keine Unterstützung von anderer Seite erhalten wie etwa der Islamische Dschihad, der vom Iran unterstützt wird, oder die Hamas, deren Mittel aus verschiedenen Quellen stammen.

ML: Wie ist es um die Kampfverbände der Fatah bestellt?

SZ: Wenn Mitglieder der al-Aqsa-Brigaden noch militärisch aktiv sind, dann auf freiwilliger Basis und nicht als eine von der Fatah organisierte Gruppe. Sie handeln inoffiziell. Nachdem Präsident Mahmud Abbas 2007 alle irregulären Militärgruppierungen verboten hat, wurden die al-Aqsa-Brigaden im Westjordanland weitgehend in die regulären Sicherheitskräfte integriert.

ML: Waren Sie selbst als Jugendlicher im Widerstand aktiv?

SZ: Ich war von 1971 im Alter von 20 Jahren bis 1996 aktives Mitglied des militärischen Flügels der DFLP, die von Nayef Hawatmeh gegründet wurde. Später verließ Yasser Abd Rabbo die DFLP und gründete zusammen mit anderen die Palästinensische Demokratische Union (FIDA). Ich habe also eine lange Geschichte durchlaufen, um von der Graswurzelbewegung bis in die höheren Ränge der Partei aufzusteigen. Heute bin ich Politiker und ehemaliger Minister, habe aber lange Zeit im palästinensischen Widerstand gegen die Israelis gekämpft. Meine persönliche Geschichte ist mit der Entstehung der PLO im Libanon verknüpft, deren Kämpfer Beirut 1982 verließen. 1993 etablierte die PLO die Palästinensische Autonomiebehörde (PNA) als politisches Projekt für die Palästinenser, was die Rückkehr nach Palästina ermöglichte.

ML: Haben Sie auch im Gefängnis gesessen?

SZ: Ich habe viel Zeit im Ausland, vor allem im Libanon, verbracht und war anders als die meisten Mitglieder der DFLP nie im Gefängnis. So blieb mir das Schicksal von Omar Kassem erspart, der als einer der Führer der PFLP 1968 verhaftet und bis zu seinem Tod 28 Jahre im israelischen Gefängnis saß. Man nannte ihn den Nelson Mandela Palästinas.

Allerdings saß ich nach dem Krieg im Libanon 1983 für einige Zeit in einem Gefängnis der schiitischen Amal-Milizen. Ich bin darauf spezialisiert, im Untergrund und unter den Bedingungen einer Belagerung zu überleben. Auch aus diesem Grund war ich für das palästinensische Flüchtlingslager Tel al-Zaatar in Beirut verantwortlich gewesen.

ML: Haben Sie mit Omar Kassem zusammengearbeitet?

SZ: Nein, er arbeitete in Jordanien, ich im Libanon.

ML: Haben sie Familie und Kinder?

SZ: Ich bin verheiratet und habe einen Sohn.

ML: Wie nimmt sich die Situation der DFLP in Gaza aus? Gibt es einen internen Konflikt zwischen ihr und der Hamas?

SZ: Die DFLP entstand 20 Jahre vor der Gründung der Hamas. Sie ist Teil der PLO und der Palästinensischen Nationalbewegung. Tatsächlich wurden die ersten Kontakte zwischen der DFLP und der Hamas nach dem Ausbruch der Ersten Intifada im Dezember 1987 geknüpft. Im Dezember 1992 hat Israel als Vergeltung für die Entführung und Tötung eines Grenzsoldaten mehr als 400 Hamas-Mitglieder, darunter fast die komplette Führung, im südlibanesischen Niemandsland ausgesetzt. Monatelang saßen sie in einem provisorischen Lager an einem Berghang in Marj al-Zohour fest. Damals hielt ich mich im Libanon auf. Ich habe die Hamas-Führer von Beirut aus unterstützt, weil sie zum breiten Strom des Widerstands unseres Volkes gehörten. Seit dieser Episode in Südlibanon habe ich sehr gute Beziehungen zu den führenden Persönlichkeiten der Hamas.

1993 haben die DFLP und die Hamas gemeinsam Position gegen die Unterzeichnung der Oslo-Vereinbarungen mit Israel bezogen. Seinerzeit lehnten beide Parteien den Abschluß eines Friedensvertrags mit Israel ab. Daraus erwuchs die sogenannte Ablehnungsfront, deren Mitgliedsorganisationen Hamas, Islamischer Dschihad, DFLP und PFLP sich gegen den Kurs der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) stellten, weil sie bereit war, alles dem Willen der Israelis zu unterwerfen. Lange Zeit bestand die bewaffnete palästinensische Front in der Hauptsache aus den drei Fraktionen in Bagdad, Syrien und Jordanien. Inzwischen sind alle Bewegungen in der Organisationsstruktur der PLO im Westjordanland bzw. Gazastreifen aufgegangen. Falls sie nicht institutionalisiert wurden, sind die Organisationen auf Beziehungen ihrer Anführer zu äußeren Kräften angewiesen. Wenn solch ein Anführer aus dem Gastland ausgewiesen wird, kollabiert die Organisation, und die Mitglieder schließen sich dem Mainstream an.

Ein gutes Beispiel dafür ist die palästinensische Befreiungsfront (PLF), die Muhammed Zaidan, Nom de guerre Abu Abbas, Ende der siebziger Jahre nach der Spaltung von der PFLP gegründet hat und die vor allem wegen der Kaperung des Kreuzfahrtschiffs Achille Lauro 1985 internationale Bekanntheit erlangte. Nach dem Einmarsch der US-Streitkräfte 2003 in den Irak wurde Abu Abbas in Bagdad festgenommen und starb kurz darauf in Gefangenschaft. Daraufhin sind faktisch alle übriggebliebenen PLF-Mitglieder Jassir Arafats Fatah beigetreten. Ähnliches war bereits der von Saddam Hussein im Irak unterstützten Arabischen Befreiungsfront (ALF) nach dem Tod ihres Anführers Abd al-Rahmin Ahmad 1991 passiert.

So etwas ist mit der DFLP nicht geschehen. Zwar hat es heftige Auseinandersetzungen um den Kurs und Abspaltungen gegeben. Auch bezüglich des Streits zwischen Fatah und Hamas gibt es innerhalb der Partei unterschiedliche Standpunkte. Dennoch setzt die DFLP bis heute ihre Arbeit innerhalb der PLO fort, um die eigenen politischen Ziele zu verwirklichen. Die PFLP hat keine Massenbasis wie Fatah und Hamas, gleichwohl besitzt sie viele Unterstützer außerhalb der Partei, beispielsweise unter Akademikern und Studenten und der palästinensischen Diaspora im Ausland.

Vor einigen Monaten war die DFLP zusammen mit Fatah, Hamas, PFLP, Islamischem Dschihad und anderen Gruppierungen am Zustandekommen der neuen palästinensischen Einheitsregierung beteiligt, um gegenüber den Israelis wieder geschlossen auftreten zu können. Das ist eine demokratische Koalition aus insgesamt 13 Parteien mit dem Ziel der Schaffung eines palästinensischen Staates innerhalb der Grenzen von 1967. Bis dahin gab es seit 1987 immer nur eine punktuelle Zusammenarbeit zwischen DFLP und Hamas. Beide schlossen sich zu kurzfristigen spezifischen Bündnissen zusammen, um zum Beispiel von Israel die Freilassung von Gefangenen zu fordern. Auf den Gebieten Kultur und Soziales vertreten DFLP und Hamas ganz unterschiedliche Positionen. In der Frage des Widerstands gegen die israelische Besatzung herrscht dagegen weitreichende Einigkeit.

Nach dem Tod Jassir Arafats 2004 und dem Rückzug der israelischen Truppen aus Gaza 2005 fanden 2006 in den palästinensischen Gebieten Parlamentswahlen statt, aus denen die Hamas bekanntlich als Siegerin hervorgegangen ist. Vorausgegangen war das bahnbrechende Konsens-Abkommen zwischen den in israelischen Gefängnissen inhaftierten Anführern der fünf größten palästinensischen Parteien. 2007 hat die Hamas dennoch in die Bildung einer Einheitsregierung eingewilligt, an der auch die DFLP beteiligt war. Etwas später kam es in Gaza zwischen der Fatah und Hamas zum bewaffneten Konflikt. Bis zum Juni dieses Jahres regierte die Hamas allein in Gaza und die PLO allein im Westjordanland. Durch die neue Einheitsregierung soll dieser Bruderzwist endlich beigelegt werden.

ML: Welche Rolle spielt die DFLP heute? Nimmt sie aktiv am Kampf gegen die laufende Militäroffensive Israels gegen Gaza teil?

SZ: Vor dem Hintergrund der Koalition aller palästinensischen Parteien kämpfen Mitglieder der DFLP-Brigaden in Gaza gegen die Streitkräfte Israels und nehmen unter anderem an Gefechten gegen die israelischen Bodentruppen teil.

ML: Am heutigen Tag ist es zu einem weiteren Massaker in einer Schule in Beit Hanoun gekommen. Was kann man angesichts der katastrophalen Situation im Gazastreifen gegen solche Kriegsgreuel unternehmen?

SZ: Man kann keine Lösung für die aktuelle Lage finden, ohne vorher den Auslöser der jüngsten militärischen Auseinandersetzung zu verstehen. Die Hamas hat jede Beteiligung an der Entführung und Ermordung der drei Torah-Schüler bei Hebron bestritten. Bis dato gibt es auch keine Beweise für eine Verstrickung der Hamas in den Vorfall. Ungeachtet dessen haben die israelischen Behörden im Verlauf der wochenlangen Suche nach den drei Vermißten auf der Westbank mehr als 15 unschuldige Palästinenser getötet, Dutzende verletzt und Hunderte festgenommen.

Wenn die Hamas nichts mit dem Tod der drei jugendlichen Siedler zu tun hatte, muß man sich die Frage stellen, warum Israel die angebliche Verwicklung der Hamas als Vorwand für eine Militäroffensive gegen Gaza nimmt. Das Ganze ist politisch. Zuvor waren die Friedensverhandlungen zwischen dem palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas und der israelischen Regierung von Premierminister Benjamin Netanjahu unter der Schirmherrschaft der USA, speziell Außenminister John Kerry, gescheitert. Währenddessen hat sich die politische Lage in der Region zugunsten Israels verschoben. Mit dem Sturz Präsident Mohammed Mursis von der Moslembruderschaft sind in Ägypten wieder die Militärs an die Macht gekommen. Syrien ist aufgrund des seit 2011 andauernden Bürgerkrieges, der auch die libanesische Hisb-Allah-Miliz bindet, außenpolitisch lahmgelegt. Das Motiv Israels bestand also darin, die günstigen Bedingungen für einen Krieg gegen die Hamas in Gaza nicht ungenutzt verstreichen zu lassen. Den Israelis geht es hierbei um das uralte Ziel, den Widerstandswillen der Palästinenser zu brechen. Daher haben sie zunächst diese gigantische Sicherheitsoperation im Westjordanland durchgeführt und Wochen später Gaza mit Krieg überzogen, wohl wissend, daß keiner der Nachbarstaaten den Palästinensern zu Hilfe kommen würde. Die Absicht der Netanjahu-Regierung bestand darin, die Hamas militärisch auszuschalten und die Versöhnung zwischen ihr und der Fatah, allem voran die neue Regierung der nationalen Einheit, zu torpedieren.

Im Grunde genommen sollte der Widerstandswille der Palästinenser soweit geschwächt werden, daß sich die Israelis bei der nächsten Runde der Friedensverhandlungen mit ihren Vorstellungen durchsetzen können. Denn die Siedlungen auf der Westbank sollen bestehen bleiben bzw. zu einem Teil des israelischen Staatsterritoriums erklärt werden. Auch soll Ostjerusalem weiterhin unter israelischer Hoheit stehen. Israel will die Kontrolle über die Palästinenser behalten, selbst dann, wenn irgendwann einmal ein palästinensischer Staat entstehen sollte. Falls das nicht durchzusetzen ist, kann Israel immer noch auf die Hilfe Jordaniens bauen. Gaza würde man am liebsten Ägypten überlassen, denn auf diese Weise könnte sich Israel seines Palästinenser-Problems entledigen.

Unter dem Vorwand, Vergeltung für die drei getöteten Jugendlichen zu üben, haben die Israelis einen Krieg entfacht, bei dem es nach drei Wochen bereits zu 44 Massakern unter der Zivilbevölkerung des Gazastreifens gekommen ist. Während die israelischen Streitkräfte überwiegend Zivilisten umbringen, töten die palästinensischen Widerstandskämpfer bei Gefechten fast ausschließlich Soldaten. Der Zivilist, der in Israel durch eine Rakete aus Gaza getötet wurde, war kein Jude, sondern ein Palästinenser. Israel kann es sich erlauben, so viele Zivilisten zu töten, weil sich Tel Aviv der Unterstützung der USA und deren europäischer NATO-Partner Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Niederlande sicher sein kann. Dieser Umstand hat die Israelis dazu ermutigt, den Gazastreifen anzugreifen. Die Menschen in Gaza fallen so einer grenzenlosen Aggression zum Opfer, wie dies auch der Präsident des UN-Menschenrechtsrats Baudelaire Ndong Ella aus Gabun in Genf gestern festgestellt hat.

Ungeachtet der ungezählten Tragödien hat der Krieg den Willen vieler Bewohner Gazas, sich gegen die israelische Offensive zur Wehr zu setzen, ungemein gestärkt. Die Israelis sollen zu spüren bekommen, daß sie die Grenzen Gazas nicht überschreiten können, ohne dabei Verluste zu erleiden. Wenn Kämpfer fallen, sind es meistens Israelis, aber wenn Zivilisten getötet werden, sind es meistens Palästinenser. Die Zahlen sprechen für sich. Achtzig Prozent der getöteten Zivilisten sind Frauen und Kinder.

Nach dieser Offensive muß mit der Blockade, unter der Gaza seit acht Jahren leidet, endlich Schluß sein. Man kann 1,8 Millionen Menschen nicht auf diese Weise behandeln. Eine Blockade dieser Art hat es niemals zuvor auf der Welt gegeben. Vor dem Ausbruch dieses jüngsten Krieges waren 43 Prozent der Erwerbsfähigen im Gazastreifen arbeitslos. Seit acht Jahren sind 80 Prozent der Bevölkerung des Gazastreifens zum Überleben von ausländischen Hilfslieferungen abhängig. Nach dem Ende des jetzigen Krieges dürften die Verhältnisse in Gaza um ein vielfaches schlimmer sein als vorher.

Wir haben mehrere Forderungen. Die erste und vordringlichste lautet: Aufhebung der Blockade von Gaza und Beendigung des Wirtschaftsembargos. Unsere Fischer sollen ungehindert aufs Meer fahren können, um zu fischen. Die von Israel verhängte Pufferzone entlang des nördlichen und östlichen Teils der Grenze des Gazastreifens soll aufgehoben werden, damit die Bauern wieder ihre Parzellen erreichen und Landwirtschaft betreiben können. Auch die Palästinenser, die nach der Entführung der drei jugendlichen Siedler auf der Westbank inhaftiert wurden, müssen freigelassen werden, denn sie hatten mit dem Vorfall nichts zu tun. Viele der Gefangenen waren 2012 im Austausch gegen den israelischen Soldaten Gilad Shalit entlassen worden. Damit hat Israel gegen frühere Vereinbarungen verstoßen. Wir fordern deshalb, daß der Status quo ante wiederhergestellt wird.

Man darf nicht vergessen, daß noch während des sogenannten Friedensprozesses mehr als 15.000 Palästinenser von den Israelis inhaftiert wurden - häufig ohne nennenswerte Gründe oder Anklage. Eigentlich sah der Friedensprozeß die Freilassung aller palästinensischen Gefangenen vor. Israel ist dem aber nicht nachgekommen und tritt damit nicht nur die Menschenrechte zahlreicher Palästinenser mit Füßen, sondern weigert sich zudem, seine Verpflichtungen uns gegenüber einzuhalten. Benjamin Netanjahu möchte "Ruhe gegen Ruhe", doch gleichzeitig setzt die israelische Armee ihre Offensive fort. Das bedeutet für uns, daß die Israelis es mit den Verhandlungen nicht ernst meinen und kein echtes Interesse an einem dauerhaften Frieden mit den Palästinensern haben.

ML: Wie stellt sich die DFLP eine Lösung des Nahost-Konfliktes im Idealfall vor?

SZ: Das ist die zentrale Frage, denn die aktuelle Gaza-Krise ist nur Teil einer viel größeren Problematik, nämlich des Umgangs Israels mit der palästinensischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten. Die Aufhebung der Blockade wäre schon wichtig, aber sie würde dennoch nur einen Schritt in Richtung der staatlichen Souveränität Palästinas darstellen. Es muß eine Gesamtlösung gefunden werden, die beiden Konfliktparteien Frieden bringt. Nach der Aufhebung der Belagerung Gazas könnte man über eine internationale Schutzgarantie für die Palästinenser nachdenken. Darüber hinaus muß die internationale Anerkennung des palästinensischen Staates ausgebaut werden, zum Beispiel durch den Beitritt Palästinas zu weiteren UN-Unterorganisationen bzw. durch die Anerkennung der Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs.

Das Wichtigste ist jedoch, daß das Thema Palästina, einschließlich Gaza, in der Wahrnehmung der Weltöffentlichkeit erhalten bleibt. Ohne eine dauerhafte, tragfähige Lösung bleiben Israel und Palästina ein internationaler Krisenherd. Die Unfähigkeit der USA, eine Lösung des Problems herbeizuführen, zeigt die Grenzen der Macht Washingtons und die Unzulänglichkeit des internationalen Systems im Rahmen der Vereinten Nationen auf. Von daher folgen die Palästinenser der Doppelstrategie des bewaffneten Widerstands und der politisch-diplomatischen Verhandlungen. Auf militärischer Ebene müssen die Palästinenser die Kosten der Besatzung für die Israelis derart in die Höhe treiben, daß sie für Israel nicht mehr tragbar werden. Auf der politischen Ebene muß alles unternommen werden, um die internationale Anerkennung des Staates Palästina zu erhöhen und weiter auszubauen. So muß der Beobachterstatus Palästinas bei den Vereinten Nationen so schnell wie möglich durch eine volle Mitgliedschaft ersetzt werden. Dazu könnte das Ausrichten internationaler Konferenzen zum Thema Palästina beitragen.

Eine Lösung des Problems kann nur auf der Basis bisheriger UN-Resolutionen erfolgen, also mit der Schaffung eines souveränen palästinensischen Staates innerhalb der Grenzen von 1967 mit Ostjerusalem als Hauptstadt. Ferner ist eine Regelung des Schicksals der palästinensischen Flüchtlinge auf der Basis der UN-Resolution 194 erforderlich. Unsere Kampfstrategie läuft also auf die größtmögliche Mobilisierung des palästinensischen Widerstands gegen die israelische Besatzung hinaus. Für einen Erfolg der Doppelstrategie ist die Einigkeit der Palästinenser zwingend erforderlich. Dazu gehört der Ausbau des demokratischen Systems im Westjordanland und in Gaza, damit sich alle gesellschaftlichen Kräfte einbringen können. Eine echte Partnerschaft zwischen den palästinensischen Parteien kann es nur auf demokratischer Basis geben.

Wichtig wäre auch eine Reform der Institutionen, damit diese nicht von den Parteien dominiert werden, sondern auch den einfachen Menschen und gesellschaftlichen Gruppen die Möglichkeit zur Gestaltung bieten. Das soziale und wirtschaftliche Programm der palästinensischen Regierung muß danach ausgerichtet werden, die sozioökonomischen Probleme der Bevölkerung zu lösen und Mißstände wie Armut und Arbeitslosigkeit zu beheben. Es muß soziale Gerechtigkeit und Kohäsion geschaffen werden. Nur so kann es eine wirtschaftliche Entwicklung geben, die von den Graswurzeln kommt und allen nützt. Derzeit liegt die palästinensische Ökonomie weitestgehend brach. Wegen der israelischen Besatzung sind die meisten Palästinenser zu Hilfsempfängern degradiert worden. Wir brauchen auch ein Steuersystem, das die Reichen mehr als die Minderbemittelten zur Kasse bittet.

Die Politik der Isolation seitens Israels und der internationalen Gemeinschaft gegenüber Hamas muß aufgebrochen werden. Das einstige Projekt der Hamas und der Moslembruderschaft, in der gesamten Region Nahost eine Revolution herbeizuführen, um in Ägypten, Syrien und anderswo die Macht zu übernehmen, ist gescheitert. Die Hamas ist inzwischen ein so bedeutender Faktor innerhalb des palästinensischen Widerstands geworden, daß es allen Palästinensern nutzen würde, wenn Vertreter der Partei wie Chalid Meshal und Ismail Haniyya international als Gesprächspartner akzeptiert und nicht mehr boykottiert würden. Vor dem Hintergrund der Einheitsregierung wäre die Anerkennung der Hamas als Akteur in Sachen Palästina dienlich und bei der Suche nach einer Lösung des Nahost-Konflikts auch hilfreich.

ML: Herr Zidan, vielen Dank für dieses Gespräch.

Portrait - Foto: © 2014 by Martin Lejeune

Martin Lejeune
Foto: © 2014 by Martin Lejeune
Martin Lejeune ist freier Journalist und arbeitet unter anderem für ARD, dpa, Neues Deutschland und taz.

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Quelle:
Martin Lejeune
Freier Journalist, Gaza-Stadt / Berlin
Das Interview mit Saleh Zidan erscheint mit der freundlichen Genehmigung von Martin Lejeune
in einer Übersetzung der Redaktion Schattenblick aus dem Englischen.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. August 2014