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WESTSAHARA/037: Antrag Bündnis 90/Die Grünen - Menschenrechtslage in Westsahara (DIP)


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Antrag BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Menschenrechtslage in Westsahara

Deutscher Bundestag, 17. Wahlperiode / Drucksache 17/4440 - 19.01.2011


Antrag
der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Tom Koenigs, Marieluise Beck (Bremen), Viola von Cramon-Taubadel, Ulrike Höfken, Thilo Hoppe, Uwe Kekeritz, Katja Keul, Ute Koczy, Agnes Malczak, Kerstin Müller (Köln), Claudia Roth (Augsburg), Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt, Hans-Christian Ströbele und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN


Menschenrechtslage in Westsahara

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Im Gebiet Westsahara findet einer der letzten kolonialen Konflikte auf der Welt statt. Seit über 30 Jahren leben mittlerweile etwa 160 000 Flüchtlinge in den Flüchtlingslagern auf algerischem Boden. Die saharauische Bevölkerung in Westsahara wird von Marokko nicht nach menschenrechtskonformen und rechtsstaatlichen Grundsätzen behandelt. Das Referendum um eine Unabhängigkeit Westsaharas, das in der Resolution 690 der Vereinten Nationen (VN) am 29. April 1991 gefordert wurde, wurde bislang noch nicht durchgeführt. Zum Konflikt um Westsahara und den damit verbundenen Problemen agiert die Bundesregierung sowohl bilateral als auch im Rahmen der EU sehr zögerlich und zurückhaltend.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung deshalb auf,

1. sich innerhalb der EU für eine einheitliche Position zu Marokko und Westsahara einzusetzen, bei der die Lage der Menschenrechte und die humanitäre Situation in Westsahara und für die saharauische Bevölkerung im Vordergrund steht;

2. sich innerhalb der EU dafür einzusetzen, das Fischereiabkommen mit Marokko so lange nicht zu verlängern, bis einzelne Regelungen des Abkommens sicherstellen, dass die Bewohner Westsaharas einen gerechten Anteil an den Fangquoten erhalten;

3. bilateral gegenüber der marokkanischen Regierung eine Verbesserung der Lage der Menschenrechte und der humanitären Situation in Westsahara und für die saharauische Bevölkerung deutlicher als bislang anzumahnen;

4. sich selbst und im Rahmen der EU stärker als bislang bei den Vereinten Nationen für eine dauerhafte Lösung des Konflikts einzusetzen und sich für die Durchführung des 1991 in der VN-Resolution 690 avisierten Referendums stark zu machen oder aber sich im VN-Sicherheitsrat für eine neue Resolution einzusetzen;

5. sich dafür einzusetzen, dass bei der nächsten Mandatsverlängerung die Beobachtung der Menschenrechtssituation in Westsahara Teil des Mandats der MINURSO (United Nations Mission for the Referendum in Western Sahara) wird.

Berlin, den 18. Januar 2011

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion


Begründung

Das Gebiet der Westsahara, seit 1884 spanisches Protektorat, wurde 1963 von den Vereinten Nationen in die Liste der Hoheitsgebiete ohne Selbstregierung aufgenommen. Nach Abschluss des Vertrags von Madrid 1975 über vorübergehende Übertragung der Verwaltung des Gebiets an Marokko und Mauretanien ohne Souveränitätsübertragung zog sich Spanien im Rahmen der Dekolonisierung überstürzt aus der Westsahara zurück. Laut eines Gutachtens des Internationalen Gerichtshofes aus dem Jahr 1975 handelte es sich bei dem Gebiet weder um ein staatsrechtliches Niemandsland (terra nullius) noch bestanden zum Zeitpunkt der Kolonisierung des Gebiets durch Spanien territoriale Souveränitätsbeziehungen zu Marokko oder Mauretanien.

Nach Veröffentlichung des Gutachtens ließ König Hassan II. von Marokko am 6. November 1975 einen "Grünen Marsch" von 350 000 unbewaffneten Zivilisten in die Westsahara organisieren. 1976 rief die Frente Polisario (kurz: Polisario) die "Demokratisch Arabische Republik Sahara" aus und begann sich der marokkanischen Verwaltungsmacht gewaltsam zu widersetzen. Im Zuge des Konflikts flohen etwa 160 000 Saharauis aus Westsahara nach Algerien, wo sie nunmehr zum Teil seit mehr als 30 Jahren in Flüchtlingslagern leben. Der offene Kampf wurde 1991 durch einen Waffenstillstand beendet, der seitdem von den Vereinten Nationen durch die in der VN-Resolution 690 mandatierte Mission MINURSO ("United Nations Mission for the Referendum in Western Sahara") überwacht wird. Das im Namen der Mission genannte Referendum wurde bis heute nicht durchgeführt. Zuletzt wurde MINURSO durch die UN-Resolution 1920 am 30. April 2010 erneut um ein Jahr verlängert. Das Mandat enthält keine Bestimmungen zur Beobachtung der Menschenrechtssituation. Der völkerrechtliche Status der Westsahara ist umstritten und eine Lösung des Westsaharakonflikts ist nicht in Sicht. Es herrscht weder Krieg noch Frieden. Die Polisario tritt - mit Unterstützung Algeriens - für die Schaffung eines unabhängigen Staates ein. Marokko betrachtet die Westsahara hingegen als Teil seines Staatsgebiets und bietet eine Autonomieregelung an. Fast 20 Jahre nach der VN-Resolution 690 zu einem Referendum über die Unabhängigkeit der Westsahara blockiert Marokko dessen Umsetzung und versucht zunehmend, Westsahara als Rückzugsgebiet des islamistischen Terrorismus zu bezeichnen um hierdurch Zustimmung im Kampf gegen die Polisario zu gewinnen. Zudem weichen die internationalen Interessen stark voneinander ab.

Frankreich betrachtet sich als traditioneller Fürsprecher Marokkos, spricht sich für eine Autonomieregelung unter marokkanischer Souveränität aus und unterstützt den 2007 in Manhasset in Gang gesetzten Verhandlungsprozess zwischen den Konfliktparteien. Spanien agiert als ehemalige Kolonialmacht vorsichtig, verweist aber auf die Resolutionen der Vereinten Nationen. Nicht minder vorsichtig agiert die Bundesregierung, sie übt sich in vornehmer Zurückhaltung. Das US-Außenministerium erklärte eine Unabhängigkeit der Westsahara für unrealistisch und sprach sich für eine Autonomieregelung aus. Algerien unterstützt die Polisario, sieht den Westsaharakonflikt nach wie vor offiziell als Problem der Dekolonialisierung, bezeichnet sich selbst jedoch nicht als Konfliktpartei.

Die EU und Marokko schlossen 2005 ein Fischereiabkommen, das von der EUKommission selbst als eines der für die EU wichtigsten Fischereiabkommen erachtet wird. Dem Abkommen zufolge dürfen Schiffe aus elf Mitgliedstaaten der EU in den marokkanischen Hoheitsgewässern und dabei insbesondere in den Gewässern vor der Westsahara fischen. Die Fischbestände in den Gewässern vor der Küste der Westsahara gehören jedoch nicht Marokko. Die natürlichen Schätze der Westsahara gehören den Saharauis, die dementsprechend ein Mitbestimmungsrecht bezüglich der Erkundung und Ausbeute ihrer natürlichen Ressourcen haben, das von Seiten der EU beim Abschluss des Fischereiabkommens jedoch nicht beachtet wurde.

Die Menschenrechtslage in Westsahara und für die saharauische Bevölkerung ist schlecht. Das Recht auf freie Meinungsäußerung in Bezug auf den Ruf nach Selbstbestimmung ist stark eingeschränkt. Saharauische Menschenrechtsverteidigerinnen und Menschenrechtsverteidiger, Aktivistinnen und Aktivisten sowie andere Personen waren ständigen Schikanen ausgesetzt. Sie wurden streng überwacht, bedroht und von Sicherheitskräften angegriffen. Politisch motivierte Anklagen sollten sie davon abhalten oder sie dafür bestrafen, ihre Meinung zu äußern und Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren. Zudem wird etwa durch das Einziehen von Ausweispapieren ihre Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt, um sie davon abzuhalten, Gerichtsverhandlungen zu verfolgen, Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren und sich mit Ausländerinnen und Ausländern zu treffen. Sieben saharauische Aktivistinnen und Aktivisten, die die Flüchtlingslager in Algerien besucht hatten, wurden bei ihrer Rückkehr nach Marokko festgenommen und vor ein Militärgericht in Rabat gestellt. Unter den Gefangenen befinden sich die Menschenrechtsverteidiger Brahim Dahane und Ali Salem Tamek sowie Dakja Lashgar, ein früheres Opfer des "Verschwindenlassens". Zahlreiche Saharauis werden wegen gewalttätigen Verhaltens in Verbindung mit Demonstrationen strafrechtlich verfolgt. Die Prozesse entsprechen Berichten zufolge nicht den internationalen Standards für faire Gerichtsverfahren.

Zur Situation in den von der Polisario betriebenen Flüchtlingslagern in Algerien stehen nur wenige unabhängige Informationen zur Verfügung. Die humanitären Bedingungen sind jedoch seit mehr als drei Jahrzehnten äußerst schlecht. Die etwa 160 000 Flüchtlinge sind vollständig von Hilfsgeldern abhängig.

Aus Protest gegen ihre Lebensbedingungen errichteten saharauische Bürgerinnen und Bürger Anfang Oktober 2010 ein Zeltlager in der Nähe der Stadt Laayoune. Es wuchs mit etwa 20 000 Bewohnerinnen und Bewohnern jedoch bald zu einer Zeltstadt heran, welche daraufhin von marokkanischen Truppen umstellt wurde. Ausländischen Journalistinnen und Journalisten wurde wiederholt die Reise in die Westsahara verweigert. Das galt auch für europäische Parlamentsabgeordnete. Am 8. November 2010 rissen marokkanische Sicherheitskräfte das Lager nieder. Bei diesen schwersten Unruhen seit dem Waffenstillstand sind nach offiziellen Angaben zwölf Menschen ums Leben gekommen, unter ihnen zehn Polizisten. Die Polisario spricht dagegen von Dutzenden Toten, mehr als 700 Verletzten und über 150 Verschwundenen. Die Auseinandersetzungen ereigneten sich just an dem Tag, da sich Vertreter Marokkos und der Polisario gemeinsam mit dem Persönlichen Gesandten des Generalsekretärs der Vereinten Nationen für die Westsahara, Christopher Ross, in New York zu informellen Gesprächen treffen wollten, um Wege aus der politischen Sackgasse zu sondieren. Diese wurden trotz der gewaltsamen Zusammenstöße vorerst weitergeführt.


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Quelle:
Dokumentations- und Informationssystem für Parlamentarische Vorgänge
Deutscher Bundestag, 17. Wahlperiode
Drucksache 17/4440 - 19.01.2011
Internet: http://dipbt.bundestag.de/dip21.web/bt


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Januar 2011