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HUNGER/228: Fressen - mit und ohne Moral (Ingolf Bossenz)


Fressen - mit und ohne Moral

Von Ingolf Bossenz


»Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral«, heißt es in Brechts »Dreigroschenoper«. Friedrich Engels nannte es eine »einfache Tatsache, dass die Menschen vor allen Dingen zuerst essen, trinken, wohnen und sich kleiden müssen«. Hilfsorganisationen sprechen von der Schlüsselfunktion der Ernährung, deren Realisierung das Erreichen anderer Ziele wie die Senkung der Mütter- und Kindersterblichkeit maßgeblich beeinflusst.

Von der Anerkennung einer solchen Schlüsselfunktion sind die reichen Staaten indes weiter entfernt als je zuvor. Nach Ansicht des Welternährungsprogramms der UNO (WFP) ist die internationale Aufmerksamkeit für das Hungerproblem »dramatisch gesunken und hat einen Tiefpunkt erreicht«. Das zeigte deutlich der G8-Gipfel Ende Juni in Toronto, auf dem das Thema Ernährungssicherung unter »ferner liefen« abgehandelt wurde, wie WFP-Deutschland-Chef Ralf Südhof kritisierte.

Hatten Anfang der 90er Jahre gut 800 Millionen Menschen nicht genug zu essen, sind es mittlerweile mehr als eine Milliarde. Dass dennoch gebetsmühlenartig das Vorhaben beschworen wird, bis 2015 die Zahl der Hungernden auf 410 Millionen zu senken, gehört mittlerweile ebenso zur politischen Liturgie wie das verbale Abwatschen sogenannter Spekulanten. »Wir alle haben genug vom Treiben gewissenloser Finanzakrobaten«, tönte erst dieser Tage Joachim Gauck, als er noch Punkte für einen möglichen Einzug in Bellevue sammelte.

Gewissenlos? Dem Fressen, mag es noch so üppig sein, folgt die Moral natürlich nicht automatisch. Dass es allerdings heute genug Nahrung gibt, die sich aber Millionen dennoch nicht leisten können, hat System. Ein System, dass sich erst seit gerade mal 20 Jahren global so richtig austoben kann.


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Quelle:
Ingolf Bossenz, Juli 2010
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.
Erstveröffentlicht in Neues Deutschland vom 6.7.2010
http://www.neues-deutschland.de/artikel/174592.fressen-8211-mit-und-ohne-moral.html


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Juli 2010