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HUNGER/340: Eine Welt ohne Hunger (Leibniz)


Leibniz-Journal - Das Magazin der Leibniz-Gemeinschaft 3/2015

Eine Welt ohne Hunger

Wie das Menschenrecht auf angemessene Nahrung helfen kann

von Carolin Anthes


Weltweit hungern 795 Millionen Menschen. Addiert man jene, die am "Mikronährstoffmangel" leiden, erhöht sich die Zahl auf mehr als das Doppelte. Selbst leicht sinkende Zahlen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir Zeugen einer skandalösen chronischen Unter- und Mangelernährung fast eines Drittels der Weltbevölkerung sind. Hieran hat auch die "Grüne Revolution" und ihr Fokus auf landwirtschaftliche Produktivitätssteigerung nichts verändert. Denn die chronische Welternährungskrise ist nicht auf einen Mangel an ausreichender und angemessener Nahrung zurückzuführen. Sie ist vielmehr Ergebnis einer strukturellen Marginalisierung von Menschen, die in Armut leben und mit einem erschwerten Zugang zu Nahrung kämpfen.


Technische Lösungen greifen zu kurz

Die überwiegende Mehrheit der Hungernden, 80 Prozent, lebt paradoxerweise in ländlichen Gebieten. Diese Frauen, Männer und Kinder verfügen als arme Kleinbauern, Hirten, Fischer, Jäger, Sammler, landlose Tagelöhner oder Indigene über keinen ausreichenden und sicheren Zugang zu produktiven Ressourcen; zu Land und Wasser, ebenso wenig wie zu Saatgut, Krediten und zusätzlichem Einkommen. Die Ursachen hierfür liegen in Landenteignungen, Vertreibungen, geschlechtsspezifischer Diskriminierung von Frauen, sträflicher Vernachlässigung ländlicher Entwicklung sowie ausbleibender Agrar- und Landreformen. Globale Dynamiken des "Landraubs", etwa zur lukrativen Agrartreibstoffgewinnung, verschärfen das Problem noch.

All diese Faktoren treten keineswegs naturgesetzlich auf, sondern sind Folgen einer Politik, die bestehende globale, nationale und lokale Machtverhältnisse nicht wirklich antastet, sondern stattdessen die großen Agrarunternehmen und Eliten fördert. Um hier Abhilfe zu schaffen, bedarf es keiner "Grünen Revolution 2.0"; überfällig ist vielmehr, dass bestimmte Personengruppen nicht länger marginalisiert werden. Erforderlich sind die Stärkung ihrer Land- und Menschenrechte sowie die Förderung struktureller Lösungsansätze, die anerkennen, dass Hunger im Kern ein Problem politischer, sozialer und ökonomischer Exklusion ist. "Technische" Lösungen zur Produktivitätssteigerung greifen schlicht zu kurz.

Der Menschenrechtsansatz zur Lösung des Welternährungsproblems ist solch ein struktureller Ansatz. Er spielt seit einigen Jahren eine wachsende Rolle in Debatten zur Ernährungssicherung. Die Aufmerksamkeit richtet sich hier auf die Marginalisierung von Kleinbauern und weiterer Gruppen. Im Mittelpunkt stehen die Fragen: Wer wird warum am stärksten benachteiligt (Prinzip der Gleichheit und Nicht-Diskriminierung)? Und wessen Aufgabe ist es, dagegen vorzugehen? Staaten als primäre Pflichtenträger können so durch zivilgesellschaftliche Partizipation und Protestformen sowie administrative und juristische Beschwerdeverfahren von den Rechteinhabern sukzessive in die Verantwortung genommen werden.


Zugang zu Nahrung für jeden

Das zugrunde liegende "Recht auf angemessene Nahrung" ist ein völkerrechtlich verankertes Menschenrecht. Es ist in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) enthalten und wurde 1976 mit dem Inkrafttreten des bindenden Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte gestärkt. In jüngerer Zeit ist es durch die Arbeit mehrerer Sonderberichterstatter und UN-Gremien ausbuchstabiert worden: Jeder Staat muss das Recht seiner Bürger respektieren, sich ernähren zu können - so darf er etwa Selbstversorgern (Subsistenzbauern) nicht den Zugang zu bewirtschaftetem Land verwehren (Achtungspflicht). Zudem müssen Staaten negative menschenrechtliche Folgen etwa bei der Rohstoffförderung durch privatwirtschaftliche Akteure verhindern (Schutzpflicht). Schließlich bedarf es geeigneter Gesetze und Programme, die den Zugang eines jeden zur Nahrung sicherstellen, etwa durch wirksame Landreformen (Gewährleistungspflicht). Das Recht auf Nahrung weist somit klare Rollen zu und stellt die Ernährungssicherung auf rechtlichen Boden - weit weg also von Wohltätigkeit und kurzfristiger Nahrungsmittelhilfe.

Das Umdenken, das sich hierin ausdrückt, findet jedoch noch keinen ausreichenden Eingang in die Handlungspraxis der Staaten. Noch haben die lobbystarken Interessen der Agrarindustrie, die gesellschaftlichen Eliten und Großgrundbesitzer das Sagen, wie mehrere Initiativen zur Hungerbekämpfung zeigen (siehe die "New Alliance" der G8 oder die "German Food Partnership"). Das überrascht kaum, denn der Menschenrechtsansatz versucht unpopulär an den strukturellen Ursachen von Ernährungsunsicherheit und tief verwurzelten Machtverhältnissen zu rütteln. Das stößt auf Widerstand. Doch gibt es Beispiele, die zeigen, dass das Recht auf Nahrung und der damit einhergehende normative Wandel in den vergangenen Jahren bereits deutliche Spuren hinterlassen haben.


Handlungsbedarf für deutsche Politik

Generell haben mehr Staaten das Recht auf Nahrung in ihre Verfassung aufgenommen (zum Beispiel Bolivien, Ecuador, Nepal, Kenia) - ein erster Schritt zur Implementierung in nationale Politik. Auch werden inzwischen in einigen Projekten der Entwicklungszusammenarbeit Menschenrechte zum Maßstab erhoben. Grundsätzlich hilft der Fortschritt "auf dem Papier" zivilgesellschaftlichen Organisationen, Medien und UN-Akteuren, Handlungsdruck auf Staaten aufzubauen und damit eine nachhaltige Ernährungssicherung voranzutreiben. Hieran geht kein Weg vorbei.

Selbst wenn chronischer Hunger meist "woanders" geschieht - Handlungsbedarf für die deutsche Regierung gibt es ausreichend. Die politische Agenda hierzulande hat große Auswirkungen auf das Schicksal der marginalisierten Kleinbauern und weiterer Gruppen im globalen Süden, wie die Beispiele Agrarsubventionen und -treibstoffe zeigen. In der Entwicklungszusammenarbeit, aber auch in der Außenwirtschaftsförderung, muss daher Deutschland eine Politik verfolgen, die das Recht auf Nahrung aller Menschen in der Praxis stärkt. Die massive Ungleichverteilung von Land, Ressourcen und Lebenschancen darf nicht durch den Schutz deutscher Wirtschafts- und Konsuminteressen und das Schielen nach reiner Produktivitätssteigerung verschärft werden. Vielmehr muss der Missstand unter anderem durch die Förderung umverteilender Agrar- und Landreformen abgebaut werden. Dies ist nicht mehr nur eine Frage der Humanität mit Blick auf ein Drittel der Weltbevölkerung, sondern immer mehr auch eine Frage von Recht und Gerechtigkeit.


Carolin Anthes ist Mitarbeiterin am Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt am Main. Dort befasst sich die Politikwissenschaftlerin unter anderem mit Fragen der Menschenrechte in den Vereinten Nationen und der Welternährung. Von September bis Dezember 2015 arbeitet sie als Fellow für das Global Soil Forum am Institute for Advanced Sustainability Studies in Potsdam.

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Quelle:
Leibniz-Journal - Das Magazin der Leibniz-Gemeinschaft, Nr. 3/2015, Seite 36-37
Herausgeber: Der Präsident der Leibniz-Gemeinschaft
Matthias Kleiner
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Dezember 2015

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