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LANDWIRTSCHAFT/1509: Industrielle Tierhaltung - Ein krankes System (UBS)


Unabhängige Bauernstimme, Nr. 351 - Januar 2012
Die Zeitung von Bäuerinnen und Bauern

Ein krankes System

Ohne Antibiotika ist industrielle Tierhaltung nicht möglich.
Dies jedenfalls legt deren standardmäßiger Einsatz nahe

von Marcus Nürnberger


Immer wieder wird vor multiresistenten Keimen gewarnt. Es gibt Berichte aus Intensivmast-Regionen, in denen Tierhalter, wenn sie ins Krankenhaus kommen, unter Quarantäne gestellt werden, bis geklärt ist, ob sie Träger multiresistenter Stämme sind.

In Deutschland sterben nach Angaben des Robert-Koch-Instituts jährlich 15.000 Menschen an den Folgen einer Infektion mit multiresistenten Keimen. Die Ursachen für die Resistenzen sind eindeutig geklärt. Sie entstehen, wenn Bakterienstämme antimikrobiellen Substanzen, z.B. Antibiotika, ausgesetzt werden, diese aber aufgrund ihrer Wirkstoffkonzentration bzw. Anwendungsdauer nicht zur vollständigen Abtötung aller Bakterien führen. Bei den die Behandlung überlebenden Bakterien steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie Resistenzen gegen das eingesetzte Antibiotika entwickeln. Darüber hinaus ist es Bakterien möglich, Erbinformationen wie z.B. erworbene Resistenzen untereinander durch Weitergabe von Erbinformation auszutauschen.


Resistenz aus dem Stall

Dass auch der Einsatz von Antibiotika in der Tierzucht die Ausbreitung derartiger Keime vorantreibt, ist schon seit langem bekannt. Schon 1998 wurden vom Europäischen Rat vor allem in der Schweinemast als Leistungsförderer eingesetzte Antibiotika wegen möglicher Resistenzbildung unter dem Verweis auf den Schutz der öffentlichen Gesundheit verboten. 2006 kam es zu einem endgültigen Verbot aller antibiotischen Leistungsförderer.


Antibiotika-Gaben standardmäßig

In Nordrhein-Westfalen hat man von März bis Juni 2011 den Einsatz von Antibiotika in der Hähnchenmast untersucht. Erfasst wurden in diesem Zeitraum, in mehreren Mastdurchgängen, 15,9 Millionen Tiere in 182 Betrieben. 96,4 Prozent der Tiere bekamen während dieser Zeit Antibiotika verabreicht. Vor dem Hintergrund einer möglichen Resistenzbildung besonders bedenklich ist, dass bei über der Hälfte (53 Prozent) aller Behandlungen die vorgeschriebene Anwendungsdauer unterschritten wurde. Derartige Fälle kämen immer dann vor, so Dr. Thorsten Arnold, Fachtierarzt für Tierhygiene, Bestandsbetreuung und Wirtschaftsgeflügel, wenn nach Therapiebeginn aufgrund eines Resistenztests der Einsatz eines anderen Antibiotikums notwendig wird. In einer Stellungnahme zum Antibiotika-Einsatz stellt der Bundesverband praktizierender Tierärzte, dem auch Dr. Arnold angehört, jedoch fest, dass ein Einsatz von Tierarzneimitteln "stets nach einer gesicherten tierärztlichen Diagnose und nach den Vorgaben der Antibiotika-Leitlinien" stattfindet. In Bezug auf die verkürzte Anwendung von Antibiotika in über 50 Prozent der Behandlungen muss die Frage nach der fachlichen Kompetenz der behandelnden Tierärzte gestellt werden, wenn man eine vorsätzliche, anderen Bedürfnissen als der Krankheitsbehandlung genügenden, Antibiotika-Gabe ausschließt.


Mastkälber immer betroffen

Untersuchungen in Niedersachsen zeichnen ein ähnliches Bild. Hier werden bei 82 Prozent der Masthuhnbetriebe, bei 77 Prozent der Mastschweinebetriebe und 100 Prozent der Mastkalbbetriebe Antibiotika eingesetzt. Vergleichbar auch die Anzahl der nur ein- bis zweitägigen Anwendungen. Bei Mastschweinen immerhin 22, bei Mastkälbern 27 Prozent und bei Masthühnern mit 37 Prozent ein Wert, der fast an den in NRW heranreicht.


Antibiotische Leistungsförderung

Die Untersuchung aus Nordrhein-Westfalen lässt erkennen, dass vor allem große Betriebe mit einer geringen Mastdauer vermehrt Antibiotika einsetzen. Die ohne Antibiotika auskommenden Betriebe haben mit einer durchschnittlichen Mastdauer von 48,8 Tagen im Vergleich zu einem Gesamtdurchschnitt aller Betriebe von 37,8 eine um 9 Tage längere Mastperiode. "Dies legt den Schluss nahe, dass hier eine versteckte Leistungsförderung vorliegt", bewertet Friedrich Wilhelm Graefe zu Baringdorf, Bundesvorsitzender der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft, die Ergebnisse. Die Frage lässt sich aufgrund der erhobenen Daten nicht klären. Die Aussagen der niedersächsischen Studie: "Ein missbräuchlicher Einsatz der Arzneimittel lässt sich allein aufgrund dieser Daten nicht ableiten, da eine Bewertung des verantwortungsvollen Antibiotika-Einsatzes in Verbindung mit einer Kontrolle des Gesundheitszustands der Tiere nur im Betrieb erfolgen kann" erwecken dennoch den Eindruck, man wolle die Ergebnisse relativieren.

Ein weiteres Problem bei der Medikamentierung resultiert aus den großen Beständen. Eine gezielte Separierung von einzelnen kranken Tieren ist zumindest im Geflügelbereich mit Beständen von über 10.000 Tieren nicht durchführbar. In der Schweinemast ist dies zumindest nicht vorgesehen. Daraus folgt, dass bei den ersten Anzeichen einer möglicherweise ausbrechenden Krankheit, auch bei nur einzelnen Tieren, behandelt werden muss, um den Krankheitsstress zu nehmen bzw. den Zusammenbruch der gesamten Herde zu vermeiden. "Industrielle Tierhaltung führt zu Stress. Antibiotikaprophylaxe ist der Versuch Stress zu minimieren", kritisiert zu Baringdorf. Wie die gezielte Leistungsförderung ist auch der vorbeugende Einsatz von Antibiotika in Deutschland verboten. Erlaubt ist allerdings die Methaphylaxe, die Behandlung der gesamten Tiergruppe aufgrund einzelner kranker Tiere.


Kein Überblick

Bisher muss jeder Antibiotika-Einsatz vom Tierarzt gemäß der tierärztlichen Hausapothekenverordnung (TÄHAV) durch einen Abgabebeleg dokumentiert werden. Neben der Tierzahl, der behandelten Tierzahl, der Diagnose, der Art des eingesetzten Arzneimittels und der Dosierung werden die Anwendungsdauer, die Wartezeit und die abgegebene Menge festgehalten. Darüber hinaus ist der Tierhalter verpflichtet, die Anwendung eines Antibiotikums nochmals mit den gleichen Angaben in seinem Bestandsbuch zu erfassen.

Zusätzlich werden beim Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) die Anwendungen von Tierarzneimitteln erfasst und überwacht. Unter anderem mit der Vorgabe, eine unkontrollierte, permanente Antibiotika-Vergabe zu vermeiden. Für Geflügeltierhalter allerdings besteht eine Sonderregelung. Die Erfassung von Antibiotika, die ausschließlich beim Geflügel eingesetzt werden können, wurde Anfang des Jahres von einer Erfassung auf Ebene der Postleitzahlen mit dem Hinweis auf datenschutzrechtliche Bedenken ausgenommen. Hintergrund ist die hohe Konzentration sowohl auf der Ebene der Tierärzte als auch auf der der Tierhalter, die Rückschlüsse auf einzelne Praxen bzw. Betriebe zuließen. In einer ersten Reaktion bekunden die im BpT zusammengeschlossenen Tierärzte: "Die Geflügeltierärzte im BpT sprechen sich ausdrücklich für eine einheitliche Erfassung auch der geflügelspezifischen Antibiotika aus."

Das BMELV hat inzwischen ein Maßnahmenpaket zu Antibiotika in der Tierhaltung verabschiedet, in dem es eine Änderung der DIMDI-Verordnung ankündigt und für Mitte 2012 erstmals die Veröffentlichung genauer Daten verspricht.


Auf Kosten der Tiere

Die derzeitige Diskussion um eine breitere Datengrundlage verschleiert allerdings das eigentliche Problem: Den routinemäßigen Antibiotika-Einsatz. Für diesen gibt es zwei mögliche Erklärungen. Wenn nur Tiere bzw. Tiergruppen behandelt werden, die tatsächlich krank sind, dann stellt ein Antibiotika-Einsatz in über 80 Prozent der Betriebe die Haltungsbedingungen als solche in Frage. Eine andere mögliche Erklärung für den Antibiotika-Einsatz in fast allen Mastdurchgängen ist eine vorsätzliche Leistungssteigerung, um wirtschaftlich profitabel zu arbeiten. In beiden Fällen steht das System industrielle Tierhaltung mit seinen Auswirkungen auf die Tiergesundheit und die Lebensmittelsicherheit zur Diskussion.


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Quelle:
Unabhängige Bauernstimme, Nr. 351 - Januar 2012, S. 3
Herausgeber: Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft - Bauernblatt e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. März 2012