Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → ERNÄHRUNG

VERBRAUCHERSCHUTZ/1069: Regierungserklärung von Ilse Aigner zum aktuellen Dioxin-Skandal, 19.11.11 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
"REGIERUNGonline" - Wissen aus erster Hand

Regierungserklärung der Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Ilse Aigner, zum aktuellen Dioxin-Skandal vor dem Deutschen Bundestag am 19. Januar 2011 in Berlin

"Verbraucher konsequent schützen - Höchstmaß an Sicherheit für Lebensmittel gewährleisten"


Vielen herzlichen Dank, Herr Präsident. Auch von meiner Seite natürlich ganz persönlich die besten Wünsche für ein gutes neues Jahr. Heute sind wir allerdings aus einem anderen Anlass hier zusammengetreten, der leider nicht so erfreulich ist.

Ich will einen Blick in die Vergangenheit werfen: Fast auf den Tag genau vor zehn Jahren, nämlich am 22. Januar 2001, haben wir in Deutschland ein Bundesministerium für Verbraucherschutz eingerichtet. Damals hatte die BSE-Krise unser Land, aber auch ganz Europa erschüttert. Die Verbraucher waren in Sorge um ihre Gesundheit, und die Landwirte fürchteten um ihre Existenz. Die Politik bekämpfte die Ursachen der Krise und änderte Strukturen: Sie regelte die Bestimmungen für das Tierfutter neu, auf das die Erkrankungen zurückgeführt wurden, und sie verschärfte die Überwachung. Das war die Geburtsstunde des Verbraucherschutzministeriums auf Bundesebene.

Heute, zehn Jahre später und nach wechselnder politischer Verantwortlichkeit, sind wir mit einer ähnlichen Situation konfrontiert: Wieder sind die Verbraucher in Sorge um ihre Gesundheit, und die Landwirte fürchten um ihre Existenz. Ursache sind Dioxinfunde in Futtermitteln und danach auch in Lebensmitteln. Ausgangspunkt war verunreinigtes Futterfett eines Unternehmers: Dort wurden - völlig unverantwortlich - technische Fette, die für die Industrie bestimmt waren, dem Tierfutter beigemischt. Was nur zur Produktion von Schmiermitteln taugt, ist in die Nahrungsmittelkette gelangt. Und das ist ein echter Skandal!

Dioxin gehört nicht in Futtermittel, und Dioxin gehört schon gar nicht in Lebensmittel. Die Beimischung verstößt gegen geltende Gesetze. Ja, mehr noch: Wir müssen zum gegenwärtigen Zeitpunkt davon ausgehen, dass hier schlicht unverantwortlich und mit Vorsatz gehandelt wurde.

Zu den Meldungen in der heutigen Presse, nach denen die kriminellen Machenschaften vermutlich schon vor März 2010 längere Zeit praktiziert worden seien, sagte das federführende Ministerium in Kiel heute Vormittag, dass derzeit keine neuen Erkennt-nisse vorliegen, die eine solche Annahme bestätigen. Ich will den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft nicht vorgreifen. Aus meiner Sicht besteht aber Grund zur Annahme, dass wir es mit einem hohen Maß an krimineller Energie zu tun haben.

Die Täter waren und sind skrupellos. Eines ist klar und war auch damals jedem klar, nämlich, dass sich das belastete Futtermittel mit einer extrem großen Streuwirkung über die Republik verteilen würde. Auf dem Höhepunkt mussten deshalb in unserem Land 4.760 Höfe vorsorglich gesperrt werden, zugunsten des vorsorgenden Verbraucherschutzes. 931 Höfe sind noch immer gesperrt. Eier, Schweine und Legehennen durften und dürfen während der Sperre nicht in die Lebensmittelkette gelangen. Die Sperre gilt, bis die Unbedenklichkeit festgestellt ist.

Zur nüchternen Bestandsaufnahme gehört aber auch, dass in einigen Fällen Lebensmittel, die vor der Sperre erzeugt wurden und vielleicht belastet sein könnten, in die Ladenregale gelangt sind. So etwas darf nicht passieren.

Die bisher ermittelten Dioxingehalte bei Eiern und Fleisch liegen bei einigen wenigen Proben über dem Grenzwert. Dies stellt nach Einschätzung unserer Experten zwar keine unmittelbare gesundheitliche Gefährdung für Verbraucher dar, trotzdem gilt: Dioxin ist ein Umweltgift, dessen Eintrag in Lebensmittel, egal woher und egal in welcher Konzentration, soweit wie möglich begrenzt werden muss.

Gerade weil jede zusätzliche Belastung unterbunden werden muss, sage ich den Verbraucherinnen und Verbrauchern: Dieser Skandal wird Konsequenzen haben.

Wir wissen, dass wir ein föderales System haben. Aber egal wer zuständig ist: Die Verbraucherinnen und Verbraucher wollen Entscheidungen für ein Höchstmaß an Sicherheit bei Lebensmitteln. Ich sage ganz klar: Vorsorgender Verbraucherschutz liegt im gemeinsamen Interesse aller, vor allem im Interesse der 82 Millionen Verbraucherinnen und Verbraucher in Deutschland. Vorsorgender Verbraucherschutz muss deshalb unser gemeinsames Interesse sein. Dieses gemeinsame Interesse muss über allen Einzelinteressen stehen. Die Sicherheit unserer Lebensmittel geht uns alle an.

Nach der gestrigen Sitzung mit den Verbraucher- und Agrarministern der Länder kann ich sagen: Wir ziehen an einem Strang und auch in dieselbe Richtung. Das hat Kraft gekostet - das ist wohl wahr -, aber wir stehen zusammen. Von dem gestrigen Tag ist ein Signal der Geschlossenheit und der Entschlossenheit ausgegangen. Das ist eine gute Botschaft für die Verbraucherinnen und Verbraucher.

Vorsorgender Verbraucherschutz muss vor allen wirtschaftlichen Interessen stehen. Der Schutz der Gesundheit hat die höchste Priorität. Das gilt und galt auch bei der Aufarbeitung dieses Falles. Das galt und gilt auch weiter bei den Untersuchungen in den noch gesperrten Betrieben. Erst wenn alles untersucht und geklärt ist, dürfen ge-sperrte Betriebe und deren Produkte wieder freigegeben werden. Sicherheit geht vor Schnelligkeit. Und Gründlichkeit geht auch vor Schnelligkeit.

Ich habe die Lage von Anfang an ernst genommen. Ich habe einen Krisenstab eingerichtet, ein Bürgertelefon eingerichtet, mich eng mit der EU abgestimmt, mich um die internationalen Märkte gekümmert, und ich habe täglich mit den Ländern die aktuelle Lage geklärt. Ich habe zudem parallel an den Konsequenzen gearbeitet, damit sich so ein Fall in Zukunft nicht wiederholt. Das ist ein solides Vorgehen, und das ist das Gegenteil von blindem Aktionismus.

Ergebnis der soliden Arbeit in meinem Haus ist ein Aktionsplan für Sicherheit und Transparenz, der die wichtigsten Maßnahmen bündelt. Er ist umfassend, konkret und konsequent, und er stellt die gesamte Futtermittelkette auf den Prüfstand: vom Stall bis auf den Teller.

Wir werden die Zulassungspflicht für Futtermittelbetriebe verschärfen. Strenge Auflagen müssen her, und die Länder müssen diese umfassend und regelmäßig kontrollieren.

Wir werden die Produktionsströme trennen. Es darf künftig nicht mehr sein, dass Stoffe für Futter und Stoffe für die industrielle Produktion in derselben Anlage verarbeitet werden.

Wir werden vorschreiben, dass die Futtermittelkomponenten auf die Gesundheit gefährdende Stoffe untersucht werden.

Und schließlich: Alle Prüfungsergebnisse müssen nicht nur den Futtermittelherstellern mitgeliefert, sondern auch den Behörden zur Verfügung gestellt werden. Als weitere Sicherheitsmaßnahme müssen die Labore den Behörden Grenzwertüberschreitungen von sich aus melden.

Die Kontrollen vor Ort müssen funktionieren. Die Verbraucher müssen sich auch darauf verlassen können. Deshalb sind Verbesserungen in der Kontrollpraxis für mich ein elementarer Punkt dieses Aktionsplans. Hundertprozentige Sicherheit kann es zwar nicht geben. Aber das Sicherheitsnetz muss so eng geknüpft sein, dass allein die Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden, abschreckt. Nur so können wir für Sicherheit sorgen, Transparenz schaffen und das Vertrauen der Verbraucher wiedergewinnen.

Bei allen Vorteilen des Föderalismus: Es kann doch nicht sein, dass heute zwar die EU die Befugnis hat, in einzelnen Bundesländern zu prüfen, der Bund aber bisher außen vor bleibt. Wir haben gestern beschlossen, dass wir eine gemeinsame Auditierung der Überwachungsbehörden vornehmen und sich alle zusammen die Qualität der Kontrollen anschauen. Ich freue mich, dass wir damit einen Paradigmenwechsel eingeleitet haben. Das ist ein großer Schritt für die Verbrauchersicherheit.

Es ist wichtig, dass wir diesen Plan schnell in die Tat umsetzen. Vieles wird noch in diesem Jahr geschehen; das kündige ich an. Ein konkreter Zeitplan liegt vor. Mit Ihrer Unterstützung, der des Parlaments und des Bundesrates, werden wir diesen Plan umsetzen.

Es ist in jeder politischen Debatte ein normaler Vorgang, dass man sich ein Ziel setzt, es ankündigt und dann auch umsetzt. Das machen wir jetzt auch; das ist ganz normal.

Übrigens setzen wir auf das, was Deutschland in Branchen wie dem Maschinenbau und der Automobilindustrie stark gemacht hat: Wir wollen hohe Qualität gewährleisten. Das Qualitätssiegel "Made in Germany" muss auch hier gelten.

Am morgigen Tag steht die Eröffnung der Internationalen Grünen Woche auf der Tagesordnung. Die weltgrößte Ernährungsmesse begrüßt hier in Berlin Hunderttausende Besucher. Ich werde bei der diesjährigen Messe den Wert von Lebensmitteln in den Mittelpunkt stellen; denn es geht um einen verantwortlichen Umgang mit unseren Lebensmitteln. Lebensmittel sind Mittel zum Leben; Lebensmittel sind keine Industriegüter. Deswegen müssen wir hier den Anfang machen. Deswegen müssen hier die Anforderungen an die Sicherheit und Qualität ganz besonders hoch sein.

Wir sind zu besonderer Sorgfalt verpflichtet, und wir sind zu Transparenz verpflichtet. Der Verbraucher muss wissen und verstehen können, was er isst. Vor diesem Hintergrund habe ich die Initiative "Klarheit und Wahrheit" gestartet, und gestern ist eine überarbeitete Fassung des Verbraucherinformationsgesetzes in die Ressortabstimmung gegangen, ein Verbraucherinformationsgesetz, das Sie, Frau Künast, nicht zustande gebracht haben, das von der Großen Koalition umgesetzt wurde und das wir nun im Sinne der Verbraucher noch besser und verbindlicher gestalten werden. All das gehört zur umfassenden Verbraucherinformation dazu.

Fünf Millionen Beschäftigte gibt es in der Land- und Ernährungswirtschaft. Wenige Einzelne haben offensichtlich mit hoher krimineller Energie gehandelt und gegen alle gesetzlichen, aber auch moralischen Regeln verstoßen. Es trifft die ganze Branche und ganz besonders unsere Landwirte. Sie sind diejenigen, die von harter und ehrlicher Arbeit leben. Sie sind unverschuldet Opfer in diesem ganzen Skandal geworden. Auch für sie wollen wir schnell das Vertrauen der Verbraucher zurückgewinnen, indem wir an der politischen Aufarbeitung arbeiten, aber auch, indem wir den Wert von Lebensmitteln hochhalten.

In diesen Tagen steht die Landwirtschaft besonders im Fokus der Öffentlichkeit. Ich sehe darin auch eine Chance für eine breite gesellschaftliche Debatte um die Rolle der Landwirtschaft. Die Ansprüche und Wünsche der Verbraucher sollen dabei die Richtschnur sein. Es geht darum, unterschiedliche Zielvorstellungen miteinander in Einklang zu bringen: das Streben nach Nahrungssicherheit, die verstärkte Produktion nachwachsender Rohstoffe und den Schutz unseres Klimas und der Umwelt. Das sind die großen Zukunftsthemen, die diskutiert werden müssen. Ich habe deshalb einen Prozess in meinem Haus angestoßen. Am Ende soll eine Charta für Landwirtschaft und Verbrauchervertrauen stehen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie die heutige moderne Landwirtschaft funktioniert, weiß in der breiten Bevölkerung leider eigentlich niemand so recht. Da herrschen Vorstellungen von einem Idyll, und da kursieren allerhand Klischees. Was aber hat die Land- und Ernährungswirtschaft in den vergangenen Jahrzehnten nicht alles geleistet? Jeder achte Arbeitnehmer in Deutschland arbeitet heute in dieser Branche. Produktivität, Ertrag und Nachhaltigkeit sind mithilfe moderner Technik enorm gestiegen. Auch die Verbraucherinnen und Verbraucher in Deutschland haben davon profitiert. Hier hat sich also viel getan.

Übrigens würde heute niemand mehr im Haushalt so arbeiten wie vor 50 Jahren. Niemand nimmt heute noch den Teppichklopfer, wenn der Staubsauger zur Verfügung steht, und die wenigsten brauchen im Garten noch den eigenen Obstbaum, um Marmelade einzumachen.

Landwirtschaft geht nun auch einmal mit der Zeit. Moderne Technik und eine stärkere Spezialisierung gehören auch hier dazu. Der Weg zwischen Acker und Teller ist heute länger: Futterwirtschaft, Landwirtschaft, Verarbeitung und Handel arbeiten in einer Wertschöpfungskette. Die Dioxinfunde haben es deutlich gemacht: Allein Futtermittel gehen einen langen und komplizierten Weg.

Natürlich wäre es wünschenswert, wenn unsere Landwirte das Futter wieder mehr auf den eigenen Höfen oder in der eigenen Region produzieren würden; das will ich auch befördern. So sind Eiweißstrategie und regionale Wertschöpfungsketten in Ordnung, jedoch weiß auch ich: Wir können uns nicht zu 100 Prozent unabhängig von Zukäufen machen. Deshalb müssen auch diese Produkte allerhöchsten Sicherheitsmaßstäben gerecht werden und in der Qualität unantastbar sein.

Damit nicht genug: Es ist auch wichtig, dass wir die regionale Herkunft stärken und "Region" zur Marke machen. Deshalb will ich ein regionales Herkunftskennzeichen befördern.

Ich will eine unternehmerische bäuerliche Landwirtschaft, damit Landwirtschaft bei uns dauerhaft leistungsfähig sein kann.

Ich will auch in Zukunft eine flächendeckende Landwirtschaft. Deshalb wird in Deutschland nur noch die Bewirtschaftung der Fläche gefördert und nicht mehr die Produktion. Deshalb bekommt nach der jetzt laufenden Umstellungsphase bei den Direktzahlungen ein Betrieb, der keine Fläche mehr bewirtschaftet und zum Beispiel ausschließlich mästet - auch wenn es Hunderte Tiere sind -, ab 2013 keinen einzigen Eurocent Förderung mehr.

Das System verändert sich. Auch sonst hat sich viel verändert. Auch wenn vieles immer noch fälschlicherweise in den Köpfen der Menschen ist: Die Butterberge sind abgeschmolzen, die Milchseen sind ausgetrocknet, und ich bin mir mit dem zuständigen EU-Kommissar Ciolos vollkommen einig: Wir setzen auf eine Landwirtschaft, die für Mensch, Tier und Umwelt gleichermaßen Verantwortung übernimmt und Wissen und Können mit Sicherheit und Qualität zusammenbringt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Landwirtschaft gehört in die Fläche. Sie schafft dort Arbeitsplätze, sie produziert unser täglich Brot, sie belebt den ländlichen Raum. Ja, sie gehört in die Mitte der Gesellschaft. Dafür braucht sie Akzeptanz. Landwirte und Verbraucher sind natürliche Verbündete. Für all das lohnt es sich zu kämpfen.


*


Quelle:
Bulletin Nr. 04-1 vom 19.01.2011
Regierungserklärung der Bundesministerin für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz,
Ilse Aigner, zum aktuellen Dioxin-Skandal
vor dem Deutschen Bundestag am 19. Januar 2011 in Berlin
Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
Dorotheenstr. 84, D-10117 Berlin
Telefon: 01888 / 272 - 0, Telefax: 01888 / 272 - 2555
E-Mail: InternetPost@bundesregierung.de
Internet: http://www.bundesregierung.de/


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Januar 2011