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ASYL/1029: Speedway to deportation - Schnellstraße zur Abschiebung (Der Schlepper)


Der Schlepper Nr. 75/76 - Winter 2015/2016
Magazin für Migration und Flüchtlingssolidarität in Schleswig-Holstein

Speedway to deportation

Vom "Ziel integrationsorientierter Aufnahme" zur "jemals schärfsten Asylgesetzgebung" - in nur sechs Monaten!

von Martin Link, Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein


Zum Zeitpunkt, dass diese Zeilen geschrieben werden, sind im laufenden Jahr bis Anfang Dezember schon 46.523 Asylsuchende in Schleswig-Holstein zugewandert. Bei dieser Bruttozahl muss allerdings berücksichtigt werden, dass eine große Zahl in andere für die Durchführung des Asylverfahrens zuständige Bundesländer weiter verteilt werden. Netto bleiben 31.912 Asylsuchende in Schleswig-Holstein.


Außerdem sind allein seit September weit über 120.000 Menschen nur im Transit durch unser Bundesland gekommen, weil sie ihr Ziel in Skandinavien sehen. Seit Schweden im November Grenzkontrollen ankündigte, erschweren Reedereien den Transport. Die dänische Polizei versucht von Durchreisenden die Registrierung zu erzwingen. In der Folge stellen doch einige Transitflüchtlinge ihr Asylgesuch hier in Schleswig-Holstein.

Seit September kamen insgesamt täglich 400 bis 500, in der ersten Dezemberwoche täglich nur mehr 240 Menschen in den schleswig-holsteinischen Erstaufnahmeeinrichtungen an.

"Eine Lawine", warnten noch unlängst Finanzminister Wolfgang Schäuble und andere Propagandisten des Unmöglichen und schwärmen weiter von für Flüchtlinge - ggf. mit Militärgewalt - geschlossenen Grenzen. Doch - laut Kiels Minister für Inneres Stefan Studt - beschweren sich derzeit sogar einzelne Kommunen, dass ihnen keine Flüchtlinge zugewiesen würden. Ein Szenario, dass noch vor wenigen Wochen kaum vorstellbar gewesen wäre.


25.000 Plätze in Erstaufnahmeeinrichtungen

Wie kommt's? Ende November standen im Bundesland 13.931 Plätze in Erstaufnahmeeinrichtungen zur Verfügung. Der bis dahin sehr kurzfristige - manchmal nur tageweise - Verbleib der Flüchtlinge in der Erstaufnahme ist inzwischen Geschichte. Derzeit kann es schon einige Wochen bis zur dezentralen Weiterverteilung für die neu eingereisten Asylsuchenden dauern. Stolz zählte der Minister in seinem wöchentlichen Lagebericht am 7. Dezember die bis dato bestehenden und zeitnah entstehenden 21 Landeseinrichtungen auf.

Bis Jahresende 2015 sollen gar 25.000 Plätze in Erstaufnahmeeinrichtungen in Schleswig-Holstein zur Verfügung stehen. Bis zu 60.000 Asylsuchende finden geschätzt 2015 Aufnahme. Das heißt auch, dass bis Jahresende ca. 35.000 Flüchtlinge zur Aufnahme in die Kreise und kreisfreien Städte weiterverteilt sein werden.

Diesen Menschen schien bis in den Sommer 2015 fast sämtlich eine gute Zukunft in Schleswig-Holstein beschieden. Der bei der Flüchtlingskonferenz am 6. Mai von der Landesregierung und u.a. von Bildungs- und anderen gesellschaftlichen Institutionen, von Arbeitsmarktakteuren; Gesundheitskassen; Wohnungsunternehmen; Kammern und Unternehmensverbänden; Gebietskörperschaften und Integrationsfachdiensten verabredete Flüchtlingspakt versprach's:

"Die Flüchtlingskonferenz dient als sichtbarer Ausdruck für die konstruktive Zusammenarbeit zwischen Land, Kommunen und gesellschaftlichen Akteuren wie der Wirtschaft, der Kirchen und der Sozial- und Flüchtlingsverbände. Unser gemeinsames Ziel ist die integrationsorientierte Aufnahme von Flüchtlingen; wir wollen den Asylsuchenden von Anfang an einen guten Start bieten."

Allen, wie wir glaubten.


Flüchtlingspolitischer Paradigmenwechsel

Dem voraus gegangen war auch auf Bundesebene ein flüchtlingspolitischer Paradigmenwechsel. Bundestag und Bundesrat haben im Januar Erleichterungen im Asyl- und Aufenthaltsrecht beschlossen. Die Residenzpflicht wird - nachdem Schleswig-Holstein diesbezüglich schon vor Jahren in Vorleistung gegangen war - jetzt auch bundesweit gelockert. Asylbewerber und geduldete Ausländer können sich im Bundesgebiet freier bewegen. Hürden bei der Jobsuche für Asylsuchende und geduldete Flüchtlinge wurden zwar nicht geschliffen, aber gesenkt:

  • Verkürzung des Arbeitsverbots auf drei Monate
  • Verkürzung der Zeit der Vorrangprüfung auf 15 Monate
  • BAFöG und BAB immerhin für geduldete Ausländer/innen
  • Zugang für Flüchtlinge zu ESF-Sprachkursen

Ehrenamtliche Initiativen

Überall im Bundesland sind derweil ehrenamtliche Flüchtlingsinitiativen entstanden. Erklärtermaßen geht es ihnen um eine gute Aufnahme mit dem Ziel eines gedeihlichen Miteinanders und einem von gegenseitigem Respekt und Wertschätzung getragenen Zusammenlebens im gemeinsamen Einwanderungshaus Deutschland.

Diese Perspektive fest im Blick recherchieren autochthone und migrationshintergründige Bürgerinnen und Bürger privaten Wohnraum für Flüchtlinge, helfen beim sich einrichten im privaten Glück, unterstützen bei der schnellen Integration der Kinder in KiTa, Schule und Sportverein, geben Sprachunterricht oder vermitteln in Sprachförderangebote, begleiten bei Behördengängen und Arztbesuchen, laden ein in Kirchen und Moscheen, besuchen sich gegenseitig, kochen gemeinsam und organisieren Ausflüge.


Komplexe und andere Fragen - wer gibt Antwort?

Und sie bemühen sich immer wieder um Antworten auf nur auf den ersten Blick einfach zu erklärende Fragen: Warum kann man im Supermarkt unter 30 Sorten Zahnpasta, 20 Nudelarten und 10 Kartoffeltypen wählen? Wo aber finden wir Pita und Hoummus? Warum ist abends niemand auf der Straße? Warum gilt als heiß wenn das Thermometer nur 25° anzeigt? Warum sind Eure Familien so klein und leben Eure Alten allein?

Andere Fragen sind noch komplexer: Was wird von mir im Asylverfahren erwartet? Warum dauert die Entscheidung bei mir so lang und passiert bei anderen so schnell? Wie kann ich meine Familie hierher bringen? Wann darf ich arbeiten? Was taugt hier meine Qualifikation? Wohin mit meiner Angst?

Bisweilen ist es gut, nicht jede Frage selbst beantworten zu müssen. Ehrenamtliche Initiativen sind gut beraten, sich über den eigenen Wissensvorhalt hinaus zu vernetzen. Und sie tun das gern, wenn man ihnen auf Augenhöhe begegnet. Jeden Tag schlagen sie Brücken für die Flüchtlinge, wenn sie deren ohne Fachkompetenz oder zumindest langjährige Erfahrung nicht einfach zu klärende Informationsbedarfe an Beratungsstellen, Fachdienste und, wenn es im Interesse der betroffenen Flüchtlinge sinnvoll erscheint, an zuständige Behörden vermitteln.

Wenn das Labyrinth der Paragraphen allzu undurchdringlich wird, fehlen allerdings ausreichend Fachanwaltskanzleien und überhaupt spezialisierte Asylberatungsstellen im Bundesland. Denn noch gibt es trotz der bei Politik und in den zuständigen Verwaltungen durchaus bekannten diesbezüglichen Bedarfslage nach wie vor keine durch die öffentliche Hand geförderte dezentrale Verfahrensberatung für Asylsuchende und andere Flüchtlinge in Schleswig-Holstein. Immerhin aber sollen Migrationssozialberatungsstellen in Kreisen und kreisfreien Städten nun bald besser ausgestattet und konzeptionell auch für die Beratung von Flüchtlingen zuständig sein.


Integrationsnetzwerke und andere Unterstützungen

Das vom Asylum-Migration-Integration Funds der EU geförderte Netzwerk zur "Verbesserung der Aufnahmebedingungen für Flüchtlinge in Schleswig-Holstein" hält schon seit Jahresbeginn Unterstützungsangebote für besonders schutzbedürftige Gruppen bereit - insbesondere für unbegleitete minderjährige, traumatisierte und nicht zuletzt weibliche Flüchtlinge. Ein Teilprojekt in Trägerschaft des Flüchtlingsrates widmet sich der Stärkung zivilgesellschaftlicher Hilfestrukturen. Hier werden u.a. landesweit Schulungen für die in der gruppen- und einzelfallorientierten Flüchtlingshilfe Engagierten angeboten und Informationsangebote für Flüchtlinge umgesetzt.

Die Bundes- und EU-finanzierten landesweit operierenden Projekte des Netzwerks Mehr Land in Sicht! lichten die Nebel bzgl. der Zugänge zu Berufsbildung und Arbeitsmarkt für bleiberechtsungesicherte Flüchtlinge. Aber sie sind längst nicht bedarfsdeckend. Ob das Land Schleswig-Holstein diese Bundesförderung mit eigenen Förderangeboten sekundieren wird? Die Mehr Land in Sicht!-Projekte kooperieren derweil im Rahmen ihrer Möglichkeiten mit Arbeitsverwaltungen und Bildungsträgern, vermitteln Regel- oder Projektangebote zur Unterstützung einer gelingenden Bildungs- und Arbeitsmarktintegration.

Das ebenfalls Bundes- und EU finanzierte Netzwerk Integration durch Qualifizierung (IQ) Schleswig-Holstein und seine strategischen PartnerInnen mit ihren Angeboten zur erfolgreichen Anerkennung ausländischer Zeugnisse und zur ergänzenden beruflichen Qualifizierung wendet sich inzwischen ausdrücklich auch an Flüchtlinge und hält für sie spezielle Informations- und Qualifizierungsangebote vor.

Derweil investiert das Bundesland in Stellen zur Koordination der Aufnahme- und Integrationsaktivitäten in den Kommunen und verlangt von den Ausländerbehörden, sie sollten sich zu Willkommensbehörden verändern und auf mehr Abschiebungen einstellen. Städte und Gemeinden schaffen Personalstellen mit dem besonderen Auftrag sich bei der Betreuung der Asylsuchenden u.a. eng mit den ehrenamtlichen Initiativen zu vernetzen. Es wird viel darüber gesprochen, dass Sprachförderung mehr und Kurse schneller für Asylbewerberinnen und Asylbewerber zugänglich sein sollen. Auch eine Gesundheitskarte für Flüchtlinge soll kommen - eine den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts genügende Gesundheitsversorgung lässt allerdings auch sie nicht erwarten.


Willkommenskultur und rassistische Gewalt

Und es spricht sich herum, dass eine nachhaltige Integration der Flüchtlinge nicht nur von deren Bemühen abhängt: Unternehmen öffnen ihre Betriebe und Belegschaften für Flüchtlinge. Kommunal-, Arbeits- und Sozialverwaltungen, Verbände und gesellschaftliche Institutionen machen sich auf den - zugestanden bisweilen mühseligen - Weg der interkulturellen Öffnung - und fangen an diskriminierende Strukturen innerhalb der eigenen Institutionen zu identifizieren.

Und seit September 2015 galt selbst für diejenigen, die hier bei uns nicht ihre Zukunft sahen, diejenigen die es zu Angehörigen und Landsleuten anderenorts - insbesondere im Norden Europas - weiterzieht, faktisch der freedom of choice und damit eine von ordnungsbehördlichen Zugriffen weitgehend unbehelligte Transitmöglichkeit durch unser Bundesland.

Das alles hört es sich unter dem Strich doch nach einem weitgehend gut bestellten Feld einer nachhaltigen Willkommensstruktur für Flüchtlinge in Schleswig-Holstein an. Doch diffundiert auch Wasser durch den Wein. In Nachbarschaften geplanter Unterkünfte organisieren die von Ressentiments Getriebenen den demonstrativen Widerspruch. Und mit mindestens fünf Brandanschlägen nicht nur auf auf unbewohnte Flüchtlingsunterkünfte und einer beträchtlichen Zahl an Angriffen auf Geflüchtete und deren UnterstützerInnen in Schleswig-Holstein - gegenüber bundesweit allerdings weit über 820 solcher Gewalttaten bis Anfang Dezember - sind auch hierzulande die Menschenfeinde durchaus aktiv. Da bleibt erhöhte Aufmerksamkeit und widerständiges Engagement Bürgerpflicht!


Und welche Menschen kommen?

Und welche Menschen kommen da auf der Suche nach Frieden zu uns? Bis September kamen die meisten Schutz und Asyl Suchenden aus Syrien, Afghanistan, Albanien, dem Kosovo, dem Irak und aus Eritrea. Die größte Teilgruppe ist zwischen 18 und 25 Jahren alt. Über 2.500 gehören zu den unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen - unter ihnen selbst kleinste und zunehmend jüngere Kinder. Im ersten Halbjahr kamen noch 1/5 der Asylsuchenden aus den inzwischen sämtlich für sicher erklärten Herkunftsländern des Westbalkans - und gelten pauschal als Asyl-chancenlos. 13.883 Personen - mithin ein Anteil von 60,76 % am o.g. Gesamtzugang - hätten allerdings eine "sichere Bleibeperspektive", erklärt das Ministerium für Inneres und Bundesangelegenheiten. 76 % der 2015 aufgenommenen Asylbewerber seien Männer. Wenige Frauen und Familien.

Doch die Trends und damit die Zahlen verändern sich. Im November 2015 kamen die meisten AsylantragstellerInnen aus Afghanistan, Syrien, Irak, Iran, Armenien und der Russischen Föderation. Nur noch 0,31 % aus den vermeintlich sicheren Herkunftsländern. Ein spürbar höherer Anteil an Frauen und Familien ist zu verzeichnen. Aber 60,78 % des monatlichen Gesamtzugangs hätten eine "sicherer Bleibeperspektive".

Eine solche "sichere Bleibeperspektive" wird inzwischen nur noch Asylsuchenden aus den Staaten Syrien, Irak, Iran und Eritrea zugesprochen. Welche sachbezogene Definition hinter dieser Festlegung steht, bleibt unklar. Die Auswahl erscheint mit Blick auf andere Weltenorte eher willkürlich. So hat z. B. das Auswärtige Amt in einem aktuellen Lagebericht Abschiebungen nach Afghanistan wegen dort aufgrund aktueller und weiter absehbarer Aufstandsgewalt für nicht zumutbar eingeschätzt.


Seit Herbst gilt restriktive Linie bei Asyl und Abschiebung

Aber in beeindruckender Einhelligkeit haben sich inzwischen Bund und alle Länder auf eine restriktive Linie bei Asylaufnahme und Aufenthaltsbeendigung eingeschworen. In atemberaubendem Tempo - und eingebettet in eine beispiellose Unkultur kaltschnäuziger Debattenbeiträge nicht allein von Seiten des Bundesinnenministers - wurden wesentliche Rechtsverbesserungen rückgängig gemacht und Verschärfungen durchgesetzt. Zielsetzung ist nun nicht mehr eine flüchtlingsfreundliche Integrations-, sondern eine - von vielen als überwunden geglaubte - ordnungspolitisch intendierte Flüchtlingspolitik zu etablieren.

So ersannen Bund und Länder im Juni 2015 mit dem sogenannten Asylpaket 1

  • die faktische Rücknahme des liberalisierten Arbeitsmarktzugangs nach drei Monaten durch Verbot der Beschäftigung während des Aufenthalts in EAE,
  • ein erweitertes absolutes Arbeitsverbot für Menschen aus sogenannten sicheren Herkunftsstaaten - ab Einreise nach dem 31.08.2015,
  • den regelmäßigen Ausschluss von Menschen ohne gute Bleibeperspektive aus integrationsfördernden Maßnahmen,
  • die Internierung unerwünschter Flüchtlinge.

Doch nicht genug. Seit dem 25. Oktober gilt das so genannte Asylpaket 2 u.a. mit

  • der Einrichtung so genannter Aufnahmezentren,
  • der Erweiterung der Liste so genannter sicherer Herkunftsstaaten um Kosovo, Albanien und Montenegro,
  • der Forcierung und Ausweitung von Abschiebung, insbesondere auf Grundlage der Dublin-Verordnung,
  • der Festlegung so genannter "befriedeter Zonen" in den Herkunftsstaaten, um Rückführungen zu rechtfertigen,
  • der Negation einer Schutzberechtigung bei Einreise aus einem sicheren Drittstaat.

Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen sehen es als höchst problematisch an, dass mit dem Asylpaket 2 künftig "befriedete Zonen" als Fluchtalternativen etwa für Flüchtlinge aus Afghanistan, Pakistan oder Bangladesch ausgerufen werden können. Darüber hinaus könnte das Konstrukt der "Sicherheit im Drittland" dazu dienen, regelmäßig auch Asylanträge von Flüchtlingen aus Syrien oder dem Irak - "sichere Bleibeperspektive" hin oder her - für "unzulässig" zu erklären, wenn sie sich z.B. längere Zeit in Serbien oder der Türkei aufgehalten haben.


Und noch ein das Asyl bekämpfender Gesetzentwurf

Doch dem Bundesinnenministerium ist es der Restriktionen längst noch nicht genug. Am 19. November legt das BMI einen Gesetzentwurf vor (siehe Kasten auf Seite 8), dessen behauptetes Ziel, das Asylverfahren weiter zu beschleunigen, offenbar ausschließlich durch den Abbau von Flüchtlingsrechten und diverse bürokratische Fallenstellereien erreicht werden soll:

Ein zweijähriges Moratorium beim Familiennachzug soll den durch Krieg, Flucht und Trennung ohnehin schwer belasteten Familien zusätzliche Hürden aufbürden und treibt absehbar Frauen und Kinder in die Schlauchboote.

Bei traumatisierten und in anderer Weise kranken Ausreisepflichtigen soll künftig regelmäßig eine unabhängige ärztliche Begutachtung durch behördlich bestellte Abschiebungsärzte unterlaufen werden.

Schon ein Verstoß gegen eigens reanimierte Verwaltungsrestriktionen, z.B. die Residenzpflicht, soll regelmäßig dazu führen, dass der Asylantrag als zurückgenommen "gilt" und Abschiebungen - zudem unangekündigte - den Asylsuchenden ins Haus stehen.

Vor diesen Hintergründen erklärt sich möglicherweise, was der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer meinte, als er schon die bisherigen Bund-Länder-Einigungen als "schärfste Asylgesetzgebung, die es je gab in diesem Land" feierte.


Wirtschaft klagt - Integrationsverweigerung greift

Derweil bleiben - zumindest dieser Tage - regelmäßige Warnungen aus Wirtschaft und Forschung, dass eine solche Politik im diametralen Widerspruch zur demographischen und mittelfristigen Arbeitskräftebedarfsentwicklung steht, aber auch Mahnungen von Geschichts- und Sozialwissenschaftlern, die neue restriktive Flüchtlingspolitik würde antidemokratischen und rassistischen Interessensgruppen zuarbeiten, kaum gehört.

Stattdessen wird im Vorfeld einer regelmäßigen Umsetzung der auf eine selektive Integrationsförderung ausgerichteten Pläne bereits geübt, wie das gehen könnte: Das BMAS fordert Träger von Förderangeboten auf, nur mehr einzelne Herkunftsgruppen - Syrer, Iraker, Iraner, Eritreer - als TeilnehmerInnen bei Sprachförderangeboten zu berücksichtigen. In der Überlegung sei darüber hinaus, regelmäßig keine AfghanInnen in bundesfinanzierte Qualifizierungsmaßnahmen zu integrieren. In einigen Bundesländern wurden rechtswidrig Beschäftigungserlaubnisse von geduldeten Flüchtlingen aus den Westbalkanstaaten widerrufen oder Unternehmen aufgefordert, die geschlossenen Arbeitsverträge zu kündigen. Durchaus relevante Verfolgungstatbestände werden ignoriert, indem Herkunftsstaaten, wie etwa Afghanistan, Pakistan, Nigeria, usw., gar nicht mehr in Länderlisten auftauchen, die einen Zugang in Maßnahmen frühzeitiger Integration ermöglichen. In Lübeck und anderenorts wird afghanischen und anderen von der politischen Klasse als bleibe-chancenlos erklärten Asylsuchenden der Zugang zu Sprachförderung verwehrt.

Es wird als Trost nicht ausreichen, dass sich historisch mehrfach gezeigt hat, dass ordnungspolitische Restriktion nur selten die flüchtlingspolitisch intendierten Erfolge bzgl. Abschreckung und Externalisierung hatten. Folgen solcher Strategien waren jahrelange und teuer zu finanzierende Ausgrenzungen, Menschen in administrativ erzwungener Abhängigkeit von Leistungen der öffentlichen Hand, ohne Arbeit und Teilhabechancen, die am Ende - im Zuge z. B. mühsam erkämpfter Alt- und Härtefallregelungen - dennoch in unsere Gesellschaft zu re-integrieren waren.


Gegen Selektion und Ausgrenzung!

Machen wir also diesen Fehler nicht erneut und engagieren wir uns für eine sich selektiver Chancenvergabe verweigernde Integrationsförderung und machen wir unmissverständlich deutlich, dass jeder sich zu uns wegen politischer Verfolgung, Krieg oder überlebensgefährdender Diskriminierung Flüchtende und von Angst vor der Rückkehr Geschüttelte Anspruch auf unsere bedingungslose Solidarität hat und auch künftig haben wird.

*

Flüchtlingsrat Schleswig Holstein
 
Stellungnahme zum Entwurf des Bundesinnenministeriums (BMI) vom 19.11.2015
 

Keine Zustimmung zu neuerlichen Asylrechtsverschärfungen!

Mit großer Sorge verfolgt der Flüchtlingsrat, dass die Asylbedingungen in Deutschland immer weiter verschlechtert werden. Auch der Gesetzentwurf des BMI vom 19. November [1] dient nicht wie behauptet einer "Beschleunigung von Asylverfahren". Stattdessen sollen offensichtlich Flüchtlingsrechte demontiert und Asylsuchende bürokratisch ausgetrickst werden:


1. "Aussetzung" des Familiennachzugs ist verfassungswidrig

Die geplante Aussetzung des Rechts auf Familienzusammenführung für Flüchtlinge mit sog. subsidiärem Schutz stellt eine zentrale Schutznorm des Grundgesetzes in Frage: "Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung", heißt es dort in Artikel 6 Abs. 1. Wenn ein Familienleben wegen akuter Gefahren für Leib und Leben im Heimatland nicht möglich ist sowie mit Blick auf durch lange Verfahrensdauer ohnehin jahrelange Familientrennungen, ist die Verweigerung des Familiennachzugs ein Verfassungsverstoß.

Die Pläne des BMI bürden den ohnehin schwer belasteten Familien zusätzliche Hürden auf und zwingen v.a. Frauen und Kinder auf den gefahrvollen Fluchtweg.


2. Kranke Flüchtlinge sollen zur Zwangsbegutachtung

Mit Blick auf die Fluchthintergründe, wundert es kaum, wenn ein Teil der Flüchtlinge gesundheitliche Gründe gegen Aufenthaltsbeendigungen geltend machen. Im Gesetzesentwurf wird allerdings dekretiert: "Es wird vermutet, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen." Erkrankungen sollen nur berücksichtigt werden, wenn der Ausländerbehörde fachärztliche Diagnosen "unverzüglich" vorgelegt werden. Daraufhin angeordneten amtsärztlichen Untersuchungen hat der Betroffene Folge zu leisten. Bereits früher schon wurde versucht, eine unabhängige ärztliche Begutachtung durch amtliche Zwangsbegutachtung zu unterlaufen (siehe Gefällige Gutachter - Das Beispiel des Dr. V. [2]). Gerade traumatisierte Flüchtlinge müssen aber geschützt und dürfen nicht amtlich bestellten Abschiebungsärzten ausgeliefert werden.


3. Abschiebung wegen Residenzpflichverstoßes?

Die Bundesregierung will nicht nur überwunden geglaubte Schikanen (Residenzpflicht, Leistungskürzungen, Sachleistungen, Arbeitsverbote etc.) reanimieren. Das BMI plant darüber hinaus, Verstöße gegen behördliche Auflagen empfindlich zu sanktionieren: Schon ein Verstoß gegen die Residenzpflicht soll dazu führen, dass der Asylantrag als zurückgenommen "gilt". Schafft der/die Betroffene es nicht, die "Wiedereinsetzung in den vorigen Stand" zu beantragen - weil er/sie nicht weiß wie und z.B. keine Beratung erhält - droht im schlimmsten Falle die Abschiebung. Diese Verknüpfung eines Verstoßes gegen ordnungspolitische Auflagen mit empfindlichen asylrechtlichen Konsequenzen ist unverhältnismäßig und rechtsstaatlich unhaltbar.

Der Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein appelliert an die Landesregierung, sich der Beteiligung an dieser weitergehenden Strategie zur Entkernung zentraler Flüchtlingsrechte zu widersetzen und im Gesetzgebungsverfahren gegen den Entwurf zu stimmen.

Kiel, 6.12.2015
Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e.V.


[1] http://www.fluechtlingsinfo-berlin.de/fr/pdf/AsylGneu_191115.pdf
[2] http://www.nds-fluerat.org/3596/aktuelles/gefaellige-gutachter-dasbeispiel-des-prof-dr-theo-vogel/

*

Quelle:
Der Schlepper Nr. 75/76 - Winter 2015/2016, Seite 4 - 9
Magazin für Migration und Flüchtlingssolidarität in Schleswig-Holstein
Herausgeber: Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Januar 2016

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