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ASYL/1313: Illegale Zurückweisung an deutscher Grenze durch Bundespolizei (Pro Asyl)


Pro Asyl - Pressemitteilung vom 23. Oktober 2018

Illegale Zurückweisung an deutscher Grenze durch Bundespolizei

PRO ASYL kritisiert Zahlendebatte und politische Reaktionen als absurd


PRO ASYL kritisiert die Debatte um Zurückweisung von Asylsuchenden an Deutschlands Grenzen als absurd. Die Öffentlichkeit und die Opposition gehen fälschlicherweise von minimalen Zahlen aus. PRO ASYL sieht die Gefahr eines Umbaus des Rechtsstaats, der zunächst über einzelne Einzelfälle erfolgt. Strukturell soll der Rechtsstaat ausgehebelt werden und verbindliches Europarecht umgangen werden. Es ist inakzeptabel, dass die Bundespolizei ermächtigt wird, an der deutschen Grenze Asylsuchende zu packen, um sie nach Griechenland zu verfrachten, ohne dass eine sorgfältige Prüfung durch das Bundesamt erfolgt, ob dort ein rechtsstaatliches Verfahren in menschenwürdigen Verhältnissen gegeben ist.

Als »Umgehung rechtsstaatlicher Verfahrensgarantien« bezeichnet PRO ASYL-Geschäftsführer Günter Burkhardt die Abschiebungen ohne die Möglichkeit effektiven Rechtsschutzes: »Das Bundesinnenministerium (BMI) bereitet ein Parallelsystem unter Ausschaltung rechtsstaatlicher Garantien vor und politisch wird von »Scheindebatte« geredet oder sogar die zu geringen Rückführungszahlen kritisiert, die »selbst hinter pessimistischen Prognosen zurückblieben« (Lischka, SPD)«.

PRO ASYL weist darauf hin, dass das Bundesverfassungsgericht und viele deutsche Gerichte Überstellungen von Asylsuchenden oder bereits Anerkannten nach Griechenland gestoppt haben. Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und die Dublin-Verordnung verlangen entsprechend der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte eine sorgfältige Einzelfallprüfung, die so nicht mehr gegeben ist. »Jeder Asylsuchende hat das Recht auf ein faires und rechtsstaatliches Verfahren, in dem Behördenhandeln effektiv durch Gerichte überprüft wird. Es ist ein Trauerspiel von Rechtsstaat und Demokratie, wenn dieser Systemumbau verkannt wird und ohne politische und öffentliche Debatte vonstatten geht«, kritisiert Burkhardt.

Nur wenige Einzelfälle?

Am Sonntag, 26. August 2018 fand die erste Zurückweisung an der deutsch-österreichischen Grenze statt: Der Betroffene wurde in einem Zug nahe Rosenheim von der Bundespolizei aufgegriffen. Da diese Person einen Asylantrag in Griechenland gestellt habe und dort registriert sei (EURODAC 1-Treffer), hat die Bundespolizeiinspektion Rosenheim scheinbar ohne weitere Prüfung entschieden, diese Person unmittelbar zum Münchener Flughafen zu bringen, von wo aus sie nach Griechenland geschickt wurde. Die Bundespolizei berief sich dabei auf das - unbekannte - Abkommen zwischen Deutschland und Griechenland. Es gab für die betroffene Person scheinbar keinerlei Gelegenheit, rechtliche Schritte einzuleiten. Nachträglich diese Person ausfindig zu machen, ist unter den herrschenden Umständen in Griechenland äußerst problematisch.

Anfang Oktober ist ein weiterer Fall an PRO ASYL herangetragen worden, dem wir gegenwärtig nachgehen, bei dem Vieles auf das gleiche Muster hindeutet. Die Bundespolizei verweigert die Einreise, da »Anhaltspunkte dafür vorliegen«, dass ein anderer EU-Mitgliedstaat zuständig sei. Auch wenn es bisher nur um einige wenige bekannt gewordene Fälle geht: Dies ist alles andere als eine Bagatelle. Die Mehrzahl derer, die nach Deutschland über Griechenland oder Italien einreisen, wurde dort bereits registriert. Das BMI schafft sich ein Instrumentarium, das so angelegt ist, dass potentiell eine hohe Zahl von Asylsuchenden ohne rechtsstaatliches Verfahren nach der Dublin-Verordnung abgefertigt werden kann.

Zum Hintergrund

Der Koalitionsausschuss hat am 5. Juli 2018 vereinbart, dass Schutzsuchende, die an deutsch-österreichischer Grenze aufgegriffen werden und in einem anderen EU-Mitgliedstaat als Asylsuchende registriert wurden (EURODAC 1-Treffer) direkt in das »zuständige« Land zurückgewiesen werden, sofern mit diesem Mitgliedstaat ein »Verwaltungsabkommen« abgeschlossen sei. Daraufhin wurden Abkommen mit Griechenland und Spanien zu Zurückweisungen an der deutsch-österreichischen Grenze abgeschlossen, ein ebensolches mit Italien steht bevor. Dabei sollen diese Abkommen scheinbar außerhalb der verbindlichen europäischen Dublin-III-Verordnung stehen, die genau solche Fälle regelt. Dies ergibt sich aus öffentlichen Äußerungen (Interview des Bundesinnenministers mit dem Handelsblatt vom 26. September 2018, »Horst Seehofer im Gespräch«) sowie aus der Bundestagsdrucksache 19/4152 (Antwort der Bundesregierung zu Frage 9).

Dies bedeutet, dass die Zurückweisungsentscheidung an der Grenze durch die Bundespolizei erfolgt und nicht durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), das zuständig für die Entscheidung über die Zulässigkeit eines Asylantrages ist. Auch eine Möglichkeit, ein Rechtsmittel einzulegen, wird faktisch nicht gegeben.

Zugang zum Rechtsschutz verwehrt

Dieses Vorgehen ist rechtswidrig: Die verbindliche Dublin-III-Verordnung (siehe VO (EU) 604/2013), die gerade solche Fälle regelt, verlangt zunächst eine Prüfung durch die zuständige Behörde sowie die effektive Möglichkeit, Rechtsmittel gegen diese Entscheidungen einzulegen.

Zunächst hat überhaupt eine Prüfung zu erfolgen, welcher Staat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist (Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 ff. Dublin-VO). Diese Prüfung kann nicht durch einen EURODAC-Treffer ersetzt werden. Die Dublin-III-Verordnung enthält einen ganzen Kriterienkatalog, nach welchem Deutschland oder ein anderer Staat zuständig sein könnte (Art. 8 ff Dublin-VO), es ist gerade kein »5- Minuten-Verfahren«. Außerdem schreibt die Verordnung ganz klar die Möglichkeit vor, Rechtsmittel gegen eine solche Entscheidung der Überstellung einlegen zu können, währenddessen keine Abschiebung erfolgen darf (Art. 27 Dublin-VO). Auch dies fußt auf dem menschenrechtlich garantierten Recht auf einen effektiven Rechtsbehelf (Art. 13 EMRK).

Selbst eine angedachte »Fiktion«, dass diese Person gar nicht eingereist sei, steht der Anwendung der Dublin-III-Verordnung nicht entgegen. Der Staat kann sich nicht den Anwendungsbereich einer europäischen Verordnung aussuchen. Die Dublin-Verordnung ist ganz unstrittig rechtsverbindlich, selbstverständlich auch für Deutschland, Österreich, Griechenland, Spanien und Italien. Es können zwar bestimmte Verfahrensmodalitäten wie verkürzte Überstellungsfristen vereinbart werden (Art. 36 Dublin-VO) - nicht aber kann die Dublin-Verordnung per se ausgehebelt werden.

Doch nicht nur die Kriterien der Dublin-III-Verordnung müssen geprüft werden, ebenso gelten die EU-Grundrechtecharta, die Europäische Menschenrechtskonvention und das Grundgesetz. Dies gilt auch bei der »Fiktion einer Nichteinreise« nach Deutschland und für sog. »Transitverfahren«. Aufgrund dieser Rechtsgrundlagen wurde schon mehrfach klar entschieden: Es ist zu prüfen, ob im zu überstellenden Staat - wie z.B. Griechenland (!) - eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (Art. 3 EMRK, Art. 4 EU-GrCharta) - siehe dazu den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 31.Juli 2018. Das zu prüfen ist ebenfalls zwingendes Recht und steht nicht im Belieben der deutschen Regierung.

Gerichtlich entschieden: Überstellungen und Abschiebungen ohnehin oft rechtswidrig

Bis heute haben viele deutsche Gerichte Überstellungen von Asylsuchenden oder auch bereits Anerkannten z.B. nach Griechenland, Italien, Bulgarien oder Ungarn zwischenzeitlich gestoppt wegen der drohenden unmenschlichen bzw. erniedrigenden Situation, in die sich die Betroffenen begeben würden. Vor dem EuGH sind derzeit mehrere Verfahren aus Deutschland anhängig, die die Frage der Gewährleistung erforderlicher Rechte in diesen Ländern zum Gegenstand haben.

Erst am 31. Juli 2018 hat das BVerfG entschieden, dass nicht pauschal davon ausgegangen werden kann, dass ein in Griechenland Anerkannter wieder dorthin zurückgeschickt werden kann. Stattdessen müssen Behörden und Verwaltungsgerichte prüfen, ob eine Überstellung im individuellen Fall möglich ist und tatsächlich in Griechenland der Zugang zu Unterkunft, Lebensmittel und medizinischer Versorgung für die Betroffenen besteht. Das Verfassungsgericht verweist ausdrücklich auf die Berücksichtigung des Berichts von PRO ASYL zur Situation von Anerkannten in Griechenland (Legal Note: »Rights and effective protection exist only on paper: The precarious existence of beneficiaries of international protection in Greece«, 23.Juni 2017).

Diese Gerichtsverfahren bezeugen: Der grund- und menschenrechtlich verbriefte Rechtsschutz muss zwingend gewährleistet sein. Hier drohen letztlich Menschenrechte verletzt zu werden, und damit mehr als nur »reine« Zuständigkeitskriterien. Auch der Rechtsstaat wird ausgehebelt, wenn die Behörden sich jeglicher gerichtlicher Kontrolle entziehen.

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Quelle:
Pro Asyl - Pressemitteilung vom 23. Oktober 2018
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Telefon: +49 069 - 23 06 88, Fax: +49 069 - 23 06 50
E-Mail: proasyl@proasyl.de
Internet: www.proasyl.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Oktober 2018

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