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ASYL/1409: Verfolgungsfreie Gebiete (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 13. September 2019
german-foreign-policy.com

Verfolgungsfreie Gebiete


BERLIN/KABUL - Trotz der erneuten Eskalation des Krieges in Afghanistan lehnen die Berliner Regierungsfraktionen eine Aussetzung der Abschiebungen an den Hindukusch ab. Es gebe "nach wie vor verfolgungsfreie Gebiete", wird ein CDU-Abgeordneter aus dem Bundestag zitiert; man wolle deshalb auch in Zukunft Afghanen unter Zwang in ihr Herkunftsland zurückbringen. Erst vor wenigen Tagen hatte die Bundespolizei ihre Außenstelle in Kabul nach einem Anschlag aufgegeben und einen Teil des Personals aus Kabul evakuiert; die Lage dort sei viel zu gefährlich, hieß es zur Erklärung. Tatsächlich hatten die Taliban bereits Ende August und Anfang September mit Blitzoffensiven zwei Provinzhauptstädte im Norden des Landes kurzzeitig eingenommen, um ihre Stärke zu demonstrieren. Nach der Beendigung der Gespräche über ein Friedensabkommen durch US-Präsident Donald Trump haben sie nun die Attacken auch in anderen Provinzen intensiviert. Dabei kamen in diesem Jahr erstmals mehr Zivilisten durch Angriffe der Regierung und ihrer westlichen Verbündeten zu Tode als durch Anschläge der Taliban.

Blitzoffensiven

Nach dem Scheitern der Verhandlungen zwischen der Trump-Administration und den Taliban über ein Friedensabkommen für Afghanistan eskalieren die Kämpfe in dem Land erneut. Bereits am 31. August hatten die Taliban mit einem Angriff auf die Provinzhauptstadt Kunduz ihre militärische Stärke deutlich gemacht; sie waren innerhalb weniger Stunden durch mehrere Vororte weit in Richtung auf das Stadtzentrum vorgedrungen und hatten auch das Feldlager Pamir unter Beschuss genommen, in dem sich zu jenem Zeitpunkt über 80 deutsche Soldaten befanden. Die Bundeswehr "berät" dort den Stab der afghanischen 20. Division, der für mehrere Provinzen im Norden des Landes zuständig ist. Die Taliban feuerten laut Angaben der deutschen Streitkräfte acht Geschosse auf das Feldlager ab, von denen vier ihr Ziel trafen; Personen kamen allerdings nicht zu Schaden. Die Angreifer konnten nach heftigen Kämpfen zurückgeschlagen werden. Bereits kurz darauf kam es zu einer zweiten Blitzoffensive der Taliban, dieses Mal in Pul-e Khumri, der Hauptstadt der südlich der Provinz Kunduz gelegenen Provinz Baghlan.[1]

Neue Kämpfe

Stuften Beobachter die jüngsten Taliban-Vorstöße in Kunduz und in Pul-e Khumri noch eher als Machtdemonstrationen ein, die zeigen sollten, dass sogar Provinzhauptstädte nicht sicher sind, so sind seit der Mitteilung von US-Präsident Donald Trump, die Verhandlungen mit den Taliban seien "tot", Kämpfe auch in weiteren Landesteilen entbrannt. Regierungsvertreter räumen ein, es sei zu Gefechten in mindestens zehn Provinzen gekommen, darunter erneut Kunduz und Baghlan. Beide gelten als strategisch wichtig. Die Angriffe der Taliban werden dabei auch als Beginn der vielleicht letzten Offensive vor Beginn des Winters eingestuft, der Kämpfe in Afghanistans Gebirgsregionen nahezu unmöglich macht.[2] Am Mittwoch, dem 18. Jahrestag der Anschläge des 11. September 2001, explodierte zudem eine Rakete bei der US-Botschaft in Kabul. Die Attacke belegte zum wiederholten Mal, dass auch US-Ziele in der afghanischen Hauptstadt verwundbar sind.

Proteste

Bereits zuvor, in der Nacht zum 3. September, hatten die Taliban erneut - wie schon am 31. August in Kunduz - auch deutsche Einsatzkräfte angegriffen. Im Osten der Hauptstadt Kabul sprengte sich ein Attentäter am Eingang eines Lagers in die Luft, in dem die Bundespolizei ihre afghanische Zentrale unterhält. Anschließend drangen mehrere Angreifer in das Lager ("Green Village") ein; es kam zu einem mehrstündigen Gefecht. Insgesamt kamen wohl mehr als 30 Menschen zu Tode, darunter fünf Security Guards aus Nepal und einer aus Rumänien. Zur Zeit des Angriffs befanden sich 22 Bundespolizisten sowie mehrere deutsche Entwicklungshelfer im "Green Village".[3] Die Bundespolizei ist seit 2002 mit der Ausbildung der afghanischen Polizei befasst. Deutsches Personal kam nicht zu Schaden; allerdings wurden mehrere gepanzerte Fahrzeuge zerstört, die von der Bundespolizei und den Entwicklungshelfern genutzt wurden. Nach dem Anschlag kam es zu heftigen Protesten von Anwohnern, die die Verlegung auswärtiger Besatzungseinrichtungen in Gebiete weit außerhalb von Wohnvierteln forderten. Wütende Demonstranten drangen dabei in das "Green Village" ein und setzten noch nicht zerstörte Teile der Anlage in Brand. Die Bundespolizei setzte ihren Einsatz in Afghanistan daraufhin zumindest vorläufig aus; die Mehrheit der Bundespolizisten und Entwicklungshelfer wurde aus Kabul evakuiert.[4]

Zivile Todesopfer

Den Offensiven und Anschlägen der Taliban war am Hindukusch schon ein überaus blutiges erstes Halbjahr 2019 vorausgegangen, in dem laut Angaben der Vereinten Nationen erstmals mehr Zivilisten bei Angriffen westlicher Streitkräfte und der afghanischen Regierungstruppen zu Tode kamen als bei Attacken und Anschlägen der Taliban und des IS. Wie die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) mitteilt, verloren von Januar bis Juni 2019 1.366 Zivilisten im Verlauf von Kampfhandlungen ihr Leben. 531 von ihnen fielen den Taliban und dem IS zum Opfer, 717 hingegen den Regierungstruppen, den westlichen Streitkräften oder anderen bewaffneten Kräften, die auf Seiten der Regierung kämpfen. Die UNAMA schreibt dies vor allem der Zunahme von Luftangriffen zu, bei denen regelmäßig Personen umgebracht werden, die in keiner Weise in Kampfhandlungen verwickelt sind. Bei solchen Bombardements wurden allein von Januar bis Juni 363 Menschen getötet, darunter 89 Kinder.[5] Hinzu kommen allerdings zunehmend auch tödliche Operationen afghanischer Spezialkräfte, die von der CIA trainiert wurden und für ihre brutalen Überfälle auf Wohnungen tatsächlicher oder angeblicher Aufständischer berüchtigt sind. Dies trifft zum Beispiel auf eine Sondereinheit des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security) zu, die vor kurzem in ein Gebäude in Jalalabad eindrang, dort vier Brüder im Alter zwischen 24 und 30 Jahren fesselte, "verhörte", schlug und anschließend erschoss.[6] Es habe sich um einen IS-Finanzier und drei seiner Kumpane gehandelt, behauptete anschließend - ohne jeden Beweis - der NDS. Der Mord schlug so hohe Wellen, dass NDS-Direktor Mohammad Masoom Stanekzai vor einigen Tagen zurücktreten musste. Meist bleiben Übergriffe der afghanischen Spezialkräfte jedoch ungesühnt und entfremden die Bevölkerung von der Regierung.

Sammelabschiebungen

Weder die katastrophale Lage in Afghanistan noch die jüngste Eskalation der Kämpfe halten die zuständigen staatlichen Stellen in Deutschland allerdings davon ab, Afghanen in ihr Herkunftsland abzuschieben. Ende August wurden in der bisher 27. Sammelabschiebung aus der Bundesrepublik nach Afghanistan 31 Männer zwangsweise dorthin ausgeflogen. Rund 50 Menschen protestierten am Flughafen in Frankfurt am Main, wo der Flug startete, gegen die Maßnahme. Insgesamt sind damit seit der ersten Sammelabschiebung im Dezember 2016 676 Männer an den Hindukusch zwangsverbracht worden.[7] Forderungen, die Abschiebungen endlich einzustellen, zumal ja die Situation im Land es laut der Einschätzung des Bundesinnenministeriums sogar erfordert, die Tätigkeit der Bundespolizei in Kabul zumindest auszusetzen, prallen wie gehabt an der Regierung und den Regierungsfraktionen im Bundestag ab. "Es gibt nach wie vor verfolgungsfreie Gebiete", behauptete der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Johann Wadephul (CDU): "Wir schieben nur nach genauer Prüfung ab."[8] Daran werde man festhalten.


Anmerkungen:

[1] Obaid Ali, Thomas Ruttig: Taleban attacks on Kunduz and Pul-e Khumri: Symbolic operations. afghanistan-analysts.org 11.09.2019.

[2] Fighting picks up in Afghanistan after talks collapse. reuters.com 11.09.2019.

[3] Matthias Gebauer: Bundespolizei stellt Afghanistan-Mission vorerst ein. spiegel.de 08.09.2019.

[4] Bundespolizei setzt Mission in Afghanistan aus. welt.de 08.09.2019.

[5] UN urges parties to heed call from Afghans: zero civilian casualties. unama.unmissions.org 30.07.2019.

[6] Shereena Qazi: Afghans seek justice for men killed 'in cold blood' by spy agency. aljazeera.com 06.09.2019.

[7] 31 Afghanen müssen Deutschland verlassen. n-tv.de 28.08.2019.

[8] Grüne fordern Abschiebestopp für Afghanistan - Union widerspricht. 10.09.2019.

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. September 2019

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