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ASYL/575: Interview mit Elias Bierdel (IPPNWforum)


IPPNWforum | 114 | 09
Mitteilungen der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.

Botschafter der Ungerechtigkeit

Interview mit Elias Bierdel, Vorsitzender von borderline europe


FORUM: Herr Bierdel, Sie haben im Jahr 2004 gemeinsam mit dem Kapitän der Cap Anamur Stefan Schmidt 37 afrikanische schiffbrüchige Flüchtlinge nach Italien gebracht. Daraufhin wurden Sie wegen Beihilfe zur illegalen Einreise angeklagt. Seit Ende 2006 läuft der Prozess. Welchen Ausgang erwarten Sie?

ELIAS BIERDEL: Wir erwarten natürlich einen Freispruch. Der Vorwurf der Schlepperei in einem besonders schweren Fall ist rein politisch motiviert um zu verhindern, dass weitere Menschen den Flüchtlingen helfen. Man wollte an uns ein Exempel statuieren, aber jetzt machen wir ein Exempel daraus und legen diese Kriminalisierung der internationalen Hilfe offen. Vor derselben Kammer sind im Moment auch sieben tunesische Fischer wegen Schlepperei angeklagt. Sie haben vor Lampedusa 44 Menschen an Bord genommen, deren Boot gesunken war. Das ist ein zynisches Vorgehen, das sich gegen jeden richtet, der wagt sich einzumischen. Das macht mich wütend und traurig, denn die Behörden erreichen ihren Zweck ja auch. Kein tunesischer Fischer wird zukünftig noch eingreifen. Die Boote der sieben Fischer sind beschlagnahmt, sie sind ohne Einkommen. Zudem gibt es im italienischen Recht keine Entschädigung.

Das Recht wird auf den Kopf gestellt wird. Bis zum heutigen Tage ist keine einzige Klage gegen unterlassene Hilfeleistung eingegangen. Dabei berichten Flüchtlinge uns immer wieder von Schiffen, die nicht gehalten haben. Teilweise konnten sie sogar deren Namen lesen.

FORUM: Seit dem Frühjahr 2007 hat die europäische Grenzschutzagentur Frontex in Zusammenarbeit mit EU-Anrainerstaaten begonnen, mit schnellen Eingreiftruppen Flüchtlinge mit militärischen Mitteln zum Umkehren zu zwingen. Seitdem schnellen die Zahlen der Toten in die Höhe. Welche Informationen haben Sie über diese Einsätze?

ELIAS BIERDEL: Was Frontex unternimmt, unterliegt der striktesten Geheimhaltung. Die Aktionen bleiben der Öffentlichkeit und sogar den Abgeordneten der Parlamente verborgen. Frontex ist eine Agentur, die niemandem Rechenschaft schuldig ist. Ihr Auftrag ist es, die Boote ohne Anwendung von Gewalt zu stoppen und zur Umkehr zu bewegen. Doch ein Kriegsschiff ist ungeeignet, einem Flüchtlingsboot zu begegnen. Diese Menschen sind bereits Tage unterwegs. Sie sind physisch am Ende: dehydriert, von der Sonne verbrannt, gleichzeitig aber auch unterkühlt klar sein, dass dieser Auftrag per se nicht gewaltfrei ablaufen kann. Für diese Flüchtlinge gibt es keine Umkehr, sie sind nicht mehr zu rationalem Verhalten in der Lage. Wer dort aufgegriffen wird, ist unbedingt rettungsbedürftig.

FORUM: Frontex ist also eine Art Abwehr-Armee?

ELIAS BIERDEL: Erst kürzlich hat sich der Chef der italienischen Guarda di Finanza gegenüber einem deutschen Journalisten verplappert. Er sagte, dass es vor allem die deutschen Kollegen seien, die seine Jungs zu immer härterem Vorgehen animieren. Sie brüsteten sich damit, dass man Leuten Nahrungsmittel und Benzin wegnehmen müsse, um sie davon abzuhalten, nach Europa zu kommen.

Nach einem Ratsbeschluss der EU-Minister unter deutscher Ratspräsidentschaft aus dem letzten Jahr ist zudem die Aufstellung einer Sondereinsatztruppe RABIT beschlossen, die am Ende 600 Polizisten umfassen soll. Diese Truppe, die zur Zeit im rumänisch-moldawischen Grenzgebiet trainiert, soll nicht nur bewaffnet sein, sondern ist erstmals ausdrücklich befugt, Gewalt auszuüben. Das würde bedeuten, das sich den Flüchtlingen erstmals eine europäische Grenzarmee entgegenstellt.

FORUM: Für Amnesty International ist das, was sich im Mittelmeer abspielt, "ein einseitiger, unerklärter Krieg der EU gegen die Flüchtlinge". Sehen Sie das genauso?

ELIAS BIERDEL: Ich habe mich lange geweigert, das so zu nennen. Aber wir erleben, dass sich die EU angesichts eines Menschheitsphänomens - nämlich der Migration - entschlossen hat, sich den Flüchtlingen mit Waffengewalt und verschiedenen Tötungsinstrumenten entgegenzustellen. Dazu gehört u.a. der Minengürtel am Grenzfluss Evros zwischen Griechenland und der Türkei. Da liegen über eine Million Sprengfallen vergraben, 150 Meter hinter dem Flußufer. Dort sind kürzlich erst wieder vier junge Männer aus Georgien ums Leben gekommen. In den letzten 10 Jahren gab es dort 270 Opfer.

Krieg ist es insofern, dass hier nach strategischen Erwägungen und mit militärischen Mitteln gegen die Flüchtlinge vorgegangen wird und insofern, als dass es zunehmend Opfer gibt, wobei die Höhe der Opfer nicht bekannt ist. Keine EU-Behörde interessiert sich dafür, es gibt nur zwei Nichtregierungsorganisationen Fortress europe und united in Holland, die seit 1988 ca. 13.000 Tote gezählt haben; allein im letzten Jahr 1.862 Opfer, wobei die Dunkelziffer natürlich um ein Vielfaches höher liegt. Wenn sich Frontex brüstet, dass man die Zahlen der illegalen Migranten halbiert habe, kann das nur erkauft worden sein, indem sich die Todeszahlen verdoppelt haben. Um die Sperrriegel der Kriegsschiffe vor den kanarischen Inseln zu umfahren, nehmen die Leute immer gefährlichere Routen in Kauf. Die Schlepper sitzen nicht mehr selber im Boot, die Flüchtlinge tuckern alleine los. Das ist ein schrecklich gefährliches Seegebiet mit gefährlichen Wetterwechseln. Wer keine Ahnung von der Seefahrt hat, verliert sich in den Weiten des Atlantiks. Nach amtlichen Schätzungen der Inselregierung der Kanarischen Inseln sind allein im Jahr 2006 und nur vor den Kanaren 6.000 Menschen verschwunden. Das Rote Kreuz geht im gleichen Zeitraum von 7.000 Menschen aus.

FORUM: Europa entwickelt sich also zunehmend zur Festung?

ELIAS BIERDEL: Ja, die Länder stehen unter einem enormen Druck, ihre Grenzen dicht zu halten. Die Griechen machen das u. a. mit Minen übrigens mit Unterstützung von Deutschland, die ihnen Minenwerfer vom Typ Skorpion verkauft haben. Aber ich will hier nicht einzelne Länder an den Pranger stellen. Nehmen wir z.B. Malta, das kleinste Land der europäischen Union. Wenn dort plötzlich 2.800 Leute landen, ist das bei einer Einwohnerzahl von 400.000 Einwohnern dramatisch. Wir müssen die Migration endlich als europäisches Problem begreifen

FORUM: Was wollen Sie mit Ihrem gemeinnützigen Verein "borderline Europe" erreichen?

ELIAS BIERDEL: Wir versuchen das Schweigen von Regierungen durch Aufklärungsarbeit zu durchbrechen. Und wir versuchen die Journalisten für die Problematik zu sensibilisieren. Wir wollen eine Form von Gegenöffentlichkeit erzeugen. Unsere Arbeit wird durch Spenden finanziert. Anfangs waren wir skeptisch, weil wir ja eine Organisation sind, die eine äußert düstere Botschaft verbreitet. Daher waren wir ganz überrascht, dass die Leute sehr interessiert sind an unserer Arbeit, vor allem junge Menschen. Es geht offensichtlich um Fragen, die den Menschen auf der Seele liegen.

FORUM: Wird das Ausmaß der Katastrophe und die Mitverantwortung Europas in der deutschen Öffentlichkeit verschleiert?

ELIAS BIERDEL: Die Politik hat kein Interesse an dem Thema und die Medien versagen schmählich. Ich habe häufig Diskussionen mit Kollegen, inwiefern der Tod von Menschen kein Thema sein soll. Ich bin an der Berliner Mauer aufgewachsen. Da stand genau diese Schandmauer, die Europa jetzt an seinen Außengrenzen errichtet hat. Den an der Berliner Mauer getöteten Menschen gesteht man zu, dass sie ja nur ein Leben in Freiheit und Würde suchten. Doch darum geht es bei den Menschen in den Booten ja auch. Nur das es sich in ihrem Fall nicht um ein paar Hundert, sondern um Tausende von Toten handelt.

FORUM: Und wie reagiert die deutsche Politik?

ELIAS BIERDEL: Die deutsche Politik vermischt die Abwehr illegaler Migration gezielt mit dem Kampf gegen den Terror. So hat Angela Merkel in ihrer Berliner Rede, in der sie die Migration nur in einem einzigen Satz erwähnt, gesagt: "Wir werden den Terrorismus und die organisierte Kriminalität und die illegale Einwanderung gemeinsam bekämpfen." Wie im Kampf gegen den Terror soll nicht über die Ursachen gesprochen werden. Denn die Ursachen liegen in der europäischen Politik. Wir vertreiben die Menschen schon heute mit unserer Politik. EU-Agrarsubventionen zerstören die heimischen Märkte, hohe Zölle verhindern die Ausfuhr afrikanischer Produkte nach Europa und europäische Fangflotten fischen die Meere leer. Jetzt kommt der Klimawandel hinzu, der die Menschen in großer Zahl dazu zwingen wird, ihre Heimat zu verlassen. Wer trägt dafür die Verantwortung? Ich denke, dass Europa schon heute militärische Vorbereitungen ergreift für den Fall, dass immer mehr Menschen versuchen sollten, nach Europa zu kommen. Die Bevölkerung soll vorbereitet werden, hinzunehmen, dass Menschen getötet werden. Der katholische Pfarrer und Mitbegründer von Pro Asyl Herbert Leuninger hat die illegalen Migranten "Botschafter der Ungerechtigkeit" genannt. Möglicherweise geht es gar nicht darum, die Menschen im physischen Sinne abzulehnen, sondern darum, dass wir ihre Botschaft nicht hören wollen: "Ihr vertreibt uns aus unserer Heimat!".


Das Interview führte Angelika Wilmen.


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Quelle:
IPPNWforum | 114 | 09, S. 14-15
Herausgeber:
Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), Sektion Deutschland
Anschrift der Redaktion:
IPPNWforum
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. März 2009