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ASYL/827: Bundesregierung ignoriert Flüchtlingsprotest (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 42 vom 18. Oktober 2013
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Bundesregierung ignoriert Flüchtlingsprotest
Flüchtlinge im Durst- und Hungerstreik für vollständige Akzeptanz in der Gesellschaft (*)

von Hilmar Franz



Die Friedrichs und Westerwelles in Merkels amtierender Bundesregierung sind taub gegenüber den immer lauter werdenden Forderungen nach einer normalisierten Asylpolitik. Frontex und Eurosur halten die Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer nicht auf, sondern suchen sie abzudrängen. Falls sich die Bundeshauptstadtbehörden und pokernden Koalitionäre nicht endlich gesprächsbereit zeigen, droht die nächste humanitäre Katastrophe direkt am Brandenburger Tor.

"Wir trinken seit zwei Tagen kein Wasser mehr, um unsere vollständige Akzeptanz in der Gesellschaft zu erreichen", erklärten dort am Montag, dem sechsten Tag ihres Hungerstreiks, 28 selbstorganisierte Geflüchtete unterschiedlicher Hautfarbe. Sie tun das im vollen Bewusstsein, dass die Konsequenz daraus eine Überlebenschance von lediglich sechs bis sieben Tagen wäre. "Die deutsche Regierung, die uns ignoriert, ist direkt verantwortlich für unser Leben." Ab jetzt direkt könnte die imperialistische Großmacht in Europa nackt dastehen, falls sie den Geflüchteten im mittlerweile 12monatigen Kampf um ihr Recht auf Asyl nicht schnellstens Zugeständnisse macht.

Am 9. Oktober haben die Protestierenden auf dem Pariser Platz die Form einer Mahnwache im Hungerstreik wiederaufgenommen, die sie schon 2012 praktiziert hatten. Mit der verschärften Form des Hunger- und Durststreiks suchten sie jetzt ihre letzte Chance. Nahezu schutzlos sind sie dabei Dauerregen, Herbstgewittern und nachfolgender Kälte ausgeliefert. Der Gesundheitszustand der meisten von ihnen ist angegriffen bzw. schlecht. Bis Montag mussten sechs von ihnen stationär behandelt werden. Die meisten sind inzwischen zurück. Die deutsche Regierung und die Polizei, so ihre Aussagen heute wie damals, wollen unsere Existenz auf der Grundlage der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte nicht anerkennen. Wir sind in ihrem Land der staatlichen "Rechtssicherheit" keine angesehenen Bürger (Citizens), sondern Non-Citizens. Die Polizei mit ihren nächtlichen schikanierenden Kontrollen duldet auf der Insel unseres essentiellen Streiks keine besondere Abgrenzung, keine Zelte, keine wasserfesten Planen, keine ausgebreiteten Schlafsäcke, keine wasserdichten Unterlagen oder wärmende Utensilien.

"Unsere alltäglichen Lebensbedingungen sind der Grund, weshalb wir kämpfen und diese zu verändern suchen. Diese Verhältnisse sind systembedingt", heißt es in der Empowerment-Erklärung der Non-Citizens gegenüber der Bundesregierung. Mit der Vollversammlung der Streikenden im Rücken verlas sie Ghlam Vali aus Pakistan vor der versammelten Hauptstadt-Presse. "Zuerst ignorieren sie dich, dann lachen sie dich aus, dann bekämpfen sie dich, und dann gewinnst du", heißt es da gleich zu Beginn. Adressiert ist das Schreiben an den CSU-Hardliner Friedrich sowie an Dr. Schmidt, der als Präsident des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge laut über Zugeständnisse bei "beruflich qualifizierten Asylbewerbern" nachdenkt.

Die 28 vor dem Brandenburger Tor, die kollektiv unter Lebenseinsatz jedes einzelnen auf ihre Lage aufmerksam machen, haben eine klare Botschaft: "Ihr habt uns dazu gebracht, die Straße als unsere Festung zu wählen, um unseren systematischen Tod zurückzuweisen und für die Erlangung unserer Rechte zu kämpfen. Wir glauben daran, dass auf diesem Weg der Widerstand die einzige Möglichkeit für alle unterdrückten Menschen dieser Welt ist. Immer noch verlassen viele Menschen aufgrund der durch euch verursachten instabilen Situation in anderen geographischen Regionen ihre Herkunftsländer. Auf dem Weg unser Leben zu finden, welches jede Person verdient, erreichen wir den Endpunkt, wenn wir an den Grenzen Europas ankommen, welche von euch auf verschiedene Art und Weise geschaffen werden. Frontex und die jüngsten Ereignisse bei Lampedusa sind nur ein paar wenige Beispiele von dieser Struktur, von welcher wir glauben, dass sie staatlicher Mord ist. Ignoranz, Terror und die Unterdrückung politischer Kämpfe sind die üblichen Methoden des Systems, wenn es um die Konfrontation mit sozialen Bewegungen geht. Aber der Tod von Menschen kann nicht vor Kameralinsen versteckt werden. Weder in den südlichen Gewässern Europas noch am Brandenburger Tor vor den Augen der wählenden Bevölkerung.

Wir sind Lampedusianer_innen und tausend andere Geflüchtete, die an den europäischen Grenzen sterben. Aber wir haben es bis hierher geschafft und wir verurteilen aufs Äußerste diese Massenhinrichtungen. Wir wollen unsere grundlegenden Menschenrechte, welche sich in den gleichen Lebensbedingungen ausdrücken wie sie Staatsbürger_innen innehaben. Weder ihr noch irgendeine andere Person kann uns davon fernhalten.

Jetzt rufen wir es aus, dass die Verantwortung für die Konsequenzen, welche auch immer geschehen werden, direkt an euch adressiert ist. Dies ist die letzte Möglichkeit für die bestehende Regierung sich in Richtung unserer Forderung zu bewegen, um ein noch viel beschämenderes Ereignis in der Geschichte selbst zu vermeiden."

Viele der jetzt zum Äußersten entschlossenen Aktivisten hatten 2012 den Refugee-Protestmarsch durch die Bundesrepublik mitorganisiert. Ihren damaligen Hungerstreik in Berlin brachen sie ab, als durch Vermittlung der Bundes-Integrationsbeauftragten Gespräche im Reichstagsgebäude zustande kamen. Enttäuscht über deren Ergebnislosigkeit, für die sie noch mit ihrer Gesundheit bezahlten, wanderten sie vorübergehend nach Bayern ab und gründeten im Vorfeld des 'Refugee Struggle Congress' einen selbstbestimmten 'Aktionskreis Unabhängiger Non-Citizen'. Am 22. Juni begann auf dem Münchner Rindermarkt der Hungerstreik von 89 selbstbestimmten Non-Citizens. Eine zugesagte Lösung wurde von der Bayerischen Staatsregierung nicht eingehalten. Als die Polizei räumte und gegen die Hunger- und Trinkstreikenden vorging, bot das DGB-Haus Schutz. Die Forderung bleibt aktuell, den Kampf der Non-Citizens auch gewerkschaftlich zu unterstützen.


(*) Nachtrag der Schattenblick-Redaktion:
Am letzten Samstag haben die Flüchtlinge den Durst- und Hungerstreik abgebrochen und das Protestcamp verlassen. Siehe dazu im Schattenblick:
www.schattenblick.de → Infopool → Medien → Alternativ-Presse →
GLEICHHEIT/4880: Berlin - Flüchtlinge beenden Hungerstreik

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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 45. Jahrgang, Nr. 42 vom 18. Oktober 2013, Seite 5
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Oktober 2013