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AUSSEN/633: Schweigegeld statt Entschädigung (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 11. November 2022
german-foreign-policy.com

Schweigegeld statt Entschädigung (II)

Herero- und Nama-Organisationen bereiten eine Klage gegen eine Vereinbarung vor, mit der Berlin die uneingeschränkte Anerkennung des Genozids an ihren Vorfahren und Entschädigungen umgehen will.


WINDHOEK/BERLIN - Organisationen der Herero und Nama bereiten in Namibia eine Klage gegen eine Vereinbarung zwischen Berlin und Windhoek zur Beilegung des Streits um Entschädigung für den Genozid in den Jahren 1904 bis 1908 vor. Die sogenannte Versöhnungsvereinbarung ist im Mai 2021 von den Regierungen beider Länder paraphiert, aber von der namibischen Seite nie unterzeichnet worden. Ursache ist der heftige Protest von Nachfahren der Opfer. Diese bestehen zum einen darauf, dass Berlin den Genozid uneingeschränkt anerkennt. Dies ist bis heute nicht der Fall: Die Bundesregierung will nicht einmal die Genfer Konvention von 1864 oder die Haager Landkriegsordnung von 1899 anwenden - unter anderem, weil diese nach damaliger Rechtsauffassung nur für "zivilisierte" Bevölkerungen gegolten hätten, nicht hingegen für Einwohner afrikanischer Kolonien. Zum anderen bestehen die Organisationen der Herero und Nama darauf, förmlich Entschädigungen für den Genozid zu erhalten. Die Bundesrepublik ist nur zu einer freiwilligen Zahlung in etwa in Höhe der üblichen Entwicklungshilfe bereit. Die "Versöhnungsvereinbarung" soll nun in Namibia vor Gericht überprüft werden.

Aussitzen und tricksen

Um die Anerkennung des Genozids an ihren Vorfahren und um eine Entschädigung für das Massenverbrechen durch den Rechtsnachfolger der Täter - die Bundesrepublik Deutschland - kämpfen die Herero und Nama bereits seit den 1990er Jahren. Lange Zeit setzten sie dabei auf Überzeugungsarbeit und Verhandlungen; später versuchten sie es auf dem Rechtsweg, indem sie vor US-Gerichten klagten. Die Bundesregierung wehrte die Forderungen stets mit einer Mischung aus stumpfem Aussitzen und unwürdigen Tricksereien ab. So suchte die damalige Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) 2004 den Herero und Nama den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem sie "im Sinne des gemeinsamen 'Vater unser' um Vergebung" bat. Dies täuschte tätige Reue nur vor: Religiöse Bekenntnisse haben keine Rechtsfolgen.[1] Im Jahr 2017 weigerte sich der verfahrenstechnisch dafür zuständige Berliner Justizsenator Dirk Behrendt (Bündnis 90/Die Grünen), eine Vorladung zu einem Prozess in New York an die Bundesregierung zu überstellen: Er behauptete, Staaten dürften "vor ausländischen Gerichten nicht wegen ihrer hoheitlichen Tätigkeit, also zum Beispiel dem Handeln ihrer Soldaten", zur Rechenschaft gezogen werden.[2] Ein US-Gericht sprach Deutschland im März 2019 tatsächlich "Staatenimmunität" zu.[3]

Das Spaltungsabkommen

Seit geraumer Zeit ist die Bundesregierung bemüht, unter die Forderungen der Herero und Nama, die ihr lästig sind, aktiv einen Schlussstrich zu ziehen. Dazu hat sie im Jahr 2015 Verhandlungen mit der Regierung Namibias aufgenommen, die im Mai 2021 mit der Einigung auf eine sogenannte Versöhnungsvereinbarung zum Abschluss kamen. Im Verlauf der Verhandlungen ist es Berlin gelungen, die namibische Seite zu spalten: Während die Gespräche mit Regierungsvertretern geführt und nur einzelne Herero und Nama einbezogen wurden, wurden Zusammenschlüsse, die allgemein für die beiden Bevölkerungsgruppen sprechen - die Ovaherero Traditional Authority (OTA) und die Nama Traditional Leaders Association (NTLA) -, ausgegrenzt. Entsprechend kam es nach der Einigung auf die "Versöhnungsvereinbarung" zu heftigem Protest. Das sei "zu erwarten gewesen", wurde im September 2021 Ruprecht Polenz, der Verhandlungsführer auf deutscher Seite, zitiert.[4] Jürgen Zimmerer, der an der Universität Hamburg zur deutschen Kolonialgeschichte und zu ihren Auswirkungen forscht, konstatierte damals, die Vereinbarung sei "kein Versöhnungs-, sondern ein Spaltungsabkommen"; nach der Einigung auf sie überlasse Berlin es "der namibischen Regierung", die Widerstände zu unterdrücken.[5]

Kolonialer Rassismus

Die Widerstände dauern bis heute an, weil die angebliche Versöhnungsvereinbarung weder den Genozid uneingeschränkt anerkennt noch tatsächliche Entschädigungen in Aussicht stellt. Sie basiert auf der deutschen Behauptung, der Massenmord an den Herero und Nama in den Jahren 1904 bis 1908 müsse zwar "aus heutiger Perspektive" eindeutig als Genozid eingestuft werden.[6] Historisch und juristisch sei das aber nicht der Fall. Die deutsche Rechtsposition lautet, die Völkermordkonvention von 1948 dürfe nicht rückwirkend angewandt werden. Auch auf die Genfer Konvention von 1864 und auf die Haager Landkriegsordnung von 1899 könnten die Herero und Nama sich nicht berufen, da ihre Vorfahren nicht zu deren Vertragsstaaten gehört hätten und der Massenmord an ihnen kein regulärer Krieg im Sinn der Landkriegsordnung gewesen sei.[7] Freilich trifft all dies auch auf den Genozid an den Armeniern im Osmanischen Reich zu, den die Bundesrepublik mittlerweile anerkannt hat.[8] Auch deshalb wird zur Verteidigung der deutschen Rechtsposition gelegentlich darauf verwiesen, dass "nach herrschender Meinung" zu Beginn des 20. Jahrhunderts die genannten Rechtskonventionen nur für "zivilisierte" Bevölkerungen gegolten hätten - etwa für die christlichen Armenier -, nicht aber für die Einwohner afrikanischer Kolonien.[9]

Entwicklungshilfe statt Entschädigung

Der Rückgriff auf den alten kolonialen Rassismus stößt bei den Herero und Nama heute auf Empörung, ebenso wie die Tatsache, dass die Bundesregierung - ausgehend davon, dass nach ihrer Auffassung kein unverjährbarer Genozid vorliegt - nicht bereit ist, Entschädigungen zu zahlen, sondern lediglich eine freiwillige Leistung in Aussicht stellt. Diese soll sich in etwa in Höhe der bisher gezahlten Entwicklungshilfe bewegen, wird aber, um Eindruck zu schinden, nicht mit einem Jahresbetrag angegeben, sondern mit der Summe, die im Verlauf der kommenden 30 Jahren zustande kommen wird: 1,1 Milliarden Euro. Ausgegeben werden soll der Betrag explizit für Zwecke, die üblicherweise im Rahmen von Entwicklungshilfe finanziert werden - für Bildung, das Gesundheitswesen und Infrastruktur.

Breite Proteste

Bereits umgehend nach der Bekanntgabe der "Versöhnungsvereinbarung" haben die OTA und die NTLA scharf protestiert; in einer Stellungnahme erklärten sie noch im Mai 2021, bei der Einigung zwischen Berlin und Windhoek handle es sich lediglich um "einen PR-Coup Deutschlands und einen Akt des Verrats der namibischen Regierung".[10] Als Namibias Nationalversammlung am 21. September 2021 die parlamentarische Debatte über die Vereinbarung begann, sprachen sich nicht nur die Opposition und Teile der Regierungspartei SWAPO gegen sie aus; es kam zudem zu Demonstrationen vor dem Parlamentsgebäude. Am 2. Dezember 2021 wurde die Debatte eingestellt, ohne dass ein Konsens erzielt worden wäre. Aufgrund des heftigen Widerstands hat Namibias Regierung die Vereinbarung noch nicht unterschrieben. Ende Oktober hat sie Berlin gebeten, die Gespräche wiederaufzunehmen, um vielleicht doch noch zu einer Einigung unter Berücksichtigung der Forderungen von OTA und NTLA zu gelangen.[11] Die Bundesregierung lehnt dies aber bislang kategorisch ab.[12] Weil Berlin sich nicht bewegt, bereiten OTA und NTLA inzwischen eine Klage in Namibia vor. Sie richtet sich gegen die "Versöhnungsvereinbarung", die - so heißt es - Namibias Verfassung ebenso bricht wie das Völkergewohnheitsrecht.[13]

Grüne Lügen

Für Ernüchterung gesorgt hat bei OTA und NTLA nicht zuletzt das Vorgehen von Bündnis 90/Die Grünen. Politiker der Partei hatten sich, nachdem diese 2005 aus der Bundesregierung ausgeschieden war, stets demonstrativ auf die Seite der Herero und Nama gestellt; noch im September 2021 hatte der Grünen-Bundestagsabgeordnete Ottmar von Holz verlangt, die sogenannte Versöhnungsvereinbarung "so schnell wie möglich und unter Beteiligung aller Opfergruppen" nachzuverhandeln.[14] Seit Bündnis 90/Die Grünen wieder an der Regierung beteiligt sind, ist davon keine Rede mehr. Wie Sima Luipert von der NTLA berichtet, habe man Außenministerin Annalena Baerbock nach ihrem Amtsantritt "einen Brief geschickt, ihr zur Wahl gratuliert und höflich um einen Austausch gebeten"; Baerbock jedoch habe alles verweigert. "Die Grünen haben mit uns Wahlkampf gemacht, wollten progressive Wählerstimmen einsacken", stellt Luipert trocken fest: "Sie haben uns und ihre Wählerschaft angelogen." "Sie sollten sich schämen, uns und unser Leid zu benutzen."


Anmerkungen:

[1] Wieczorek-Zeul bittet um Vergebung. tagesschau.de 14.08.2004.

[2] S. dazu Nicht zustellbar.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7355/

[3] Felicia Jaspert: Setback for the descendants of the Nama and Ovaherero indigenous peoples. voelkerrechtsblog.org 08.05.2019.

[4], [5] Paul Starzmann: Herero und Nama protestieren gegen Deutschland. tagesspiegel.de 22.09.2021.

[6] Außenminister Maas zum Abschluss der Verhandlungen mit Namibia. auswaertiges-amt.de 28.05.2021.
S. auch Die Berliner Reparationsvereinbarung (II).
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8712

[7] S. dazu Billiges Erinnern.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7178/

[8] S. dazu Der deutsche Beitrag zum Genozid.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/6992

[9] Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste: Der Aufstand der Volksgruppen der Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika (1904-1908). Völkerrechtliche Implikationen und haftungsrechtliche Konsequenzen. WE 2-3000-112/16. Berlin 2016.

[10] Charmaine Ngatjiheue: Ngavirue confirms 'fruitful' genocide talks. namibian.com.na 17.05.2021.
S. dazu Schweigegeld statt Entschädigung.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8600

[11] Philip Littleton: Namibia asks Germany to negotiate genocide deal. enca.com 27.10.2022.

[12] Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Sevim Dagdelen, Ali Al-Dailami, Dr. Gregor Gysi, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Die Linke. Deutscher Bundestag, Drucksache 20/3236. Berlin, 31.08.2022.

[13] Ulrike Wagener: "Nur weil wir Schwarz sind". nd Der Tag 09.11.2022.

[14] Paul Starzmann: Herero und Nama protestieren gegen Deutschland. tagesspiegel.de 22.09.2021.

[15] Mohamed Amjahid: "Die deutsche Grausamkeit beginnt nicht mit dem Holocaust, sie gipfelt darin". spiegel.de 22.06.2022.

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 11. November 2022

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