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DEMOGRAPHIE/318: Von der Ost-West-Kluft zum Flickenteppich (idw)


Max-Planck-Institut für demografische Forschung - 22.09.2015

Von der Ost-West-Kluft zum Flickenteppich

Süd-Nord-Gefälle löst Ost-West-Kluft bei Lebenslänge der Frauen ab. Ruhrgebiet und Saarland fallen zurück. Wirtschaftliche Entwicklung immer wichtiger.


Rostock. 25 Jahre nach der Wiedervereinigung haben sich die ehemals großen Unterschiede in der Lebenserwartung zwischen Ost- und Westdeutschland bei den Frauen fast angeglichen. Die ostdeutschen Männer haben ebenfalls stark profitiert, liegen gegenüber dem Westen aber weiterhin zurück. Deutschlandweit hat sich ein deutliches Süd-Nord-Gefälle herausgebildet und das historische Nord-Süd-Gefälle zu Beginn des 20. Jahrhunderts umgekehrt. Einzelne Regionen fallen zunehmend zurück; zu den Räumen mit der niedrigsten Lebenserwartung gehören inzwischen das Ruhrgebiet und das Saarland. Forscher des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock haben regionale Trends in der Lebenserwartung in Deutschland seit 1910 flächendeckend analysiert. Ihre Untersuchung veröffentlichten die MPIDR-Forscher Sebastian Klüsener und Rembrandt Scholz jetzt zusammen mit Eva Kibele von der Universität Groningen in der "Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie".


Regionen im Nordosten sind die großen Gewinner

"Die Lebenserwartung hat überall zugelegt und steigt überall weiter - momentan durch Gewinne von Jahren in der zweiten Lebenshälfte", sagt Demograf Sebastian Klüsener, "aber die Regionen profitieren extrem unterschiedlich." (Siehe Karten auf der nächsten Seite.) So schwanken die Zugewinne bei den Frauen von 1996 bis 2010 zwischen einem halben Jahr und über sechs Jahren. "Den größten Anstieg sehen wir im Osten", sagt MPIDR-Forscher Rembrandt Scholz. Die Frauen hätten ihren Rückstand seit der Wiedervereinigung quasi aufgeholt: 1996 lebten Frauen in den alten Bundesländern im Mittel noch über ein Jahr länger als in den neuen (West: 80,2 Jahre; Ost: 79,0). Dieser Vorsprung ist auf wenige Monate geschmolzen (West: 82,8 Jahre; Ost: 82,6).

Bei den Männern liegt der Westen zwar noch über ein Jahr vor dem Osten (2010: West: 78,0 Jahre, Ost: 76,6), dennoch haben die neuen Bundesländer stark aufgeholt. Der große Gewinner ist der Nordosten. Zugelegt haben vor allem östliche Gebiete Mecklenburg-Vorpommerns und der Osten Brandenburgs mit Zuwächsen von etwa neun Prozent. Spitzenreiter ist der Landkreis Rostock mit einem Plus von sechseinhalb Jahren zwischen 1996 und 2010. Auch Kreise wie Dahme-Spreewald oder Uckermark in Brandenburg haben über sechs Jahre gewonnen.

Karten und Daten aller 396 Kreise inklusive Gebietsgrenzen (Shape-Dateien) zum Download unter
www.demogr.mpg.de/go/lebenserwartung


Flickenteppich mit Süd-Nord-Gefälle

Am längsten ist das Leben im Süden: Top-Bundesland bei der Lebenserwartung der Frauen ist Baden-Württemberg mit 83,6 Jahren, gefolgt von Sachsen, Bayern und Hessen. "Ob eine Region abgehängt wird, ist aber immer weniger eine Frage der Himmelsrichtung", sagt Sebastian Klüsener. Vielmehr gleiche der Atlas der Lebenserwartungen immer mehr einem Flickenteppich mit bundesweit einzelnen starken und schwachen Regionen, da auch im Westen Gebiete mit strukturellen ökonomischen Problemen zurückfallen.

Lagen die Kreise mit der kürzesten Lebensspanne der Frauen 1996 noch im Osten, häufen sie sich jetzt im Ruhrgebiet. "Diese Teile des Ruhrgebiets sehen zwar auf der Karte klein aus, haben aber ähnlich viel Bevölkerung wie ein ostdeutsches Bundesland", sagt Demograf Rembrandt Scholz. Das Schlusslicht unter den Bundesländern bei der Lebenserwartung der Frauen, das Saarland, liegt ebenfalls im Westen.


Wirtschaftliche Entwicklung bestimmt Lebenslänge immer starker

Zu der großen Ost-West-Kluft war es während der DDR-Zeit gekommen, weil das dortige Gesundheitssystem hinter dem in der Bundesrepublik zurück blieb. Mit den Unterschieden in der medizinischen Versorgung und bei den Renten verschwanden seit der Wende auch die Differenzen bei der Lebenserwartung mehr und mehr. "Heute liegen deutschlandweit vor allem hoch entwickelte Regionen vorne", sagt Rembrandt Scholz. Das hänge auch mit Wanderungsströmen zusammen. "Hoch entwickelte Regionen ziehen Menschen mit hohem Bildungsgrad an, die deutlich länger leben."

"Viele Studien belegen, dass der wirtschaftliche Entwicklungsstand für Trends in der regionalen Lebenserwartung in den letzten Jahrzehnten immer wichtiger geworden ist", sagt Sebastian Klüsener. Dies sei das Ergebnis eines Jahrhunderttrends, in dem Umweltfaktoren und kulturelle Traditionen an Einfluss verloren haben. Früher reduzierten Umweltbelastungen und unhygienische Bedingungen in hoch entwickelten Großstädten und Industrieregionen stark die Lebenserwartung. Beides spielt dank technischem Fortschritt heute kaum mehr eine Rolle. Das gilt auch für regionale Unterschiede im Stillverhalten: Um 1910 war es besonders in Bayern weit verbreitet, Babys mit Mehlbrei zu füttern, statt sie zu stillen. Da das Wasser häufig mit Keimen kontaminiert war, starben viele Säuglinge an Durchfall, was wesentlich zum früheren Nord-Süd-Gefälle der Lebenserwartung beitrug.

Allerdings gab es für die Vorreiterstellung des Nordens zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch damals schon ökonomische Gründe: Die nördlichen Regionen waren reicher, denn dort gab es mehr florierende Industrie und Überseehäfen, die einen guten Zugang zu den Weltmärkten sicherten. So konnte der Norden früher von der Globalisierung profitieren als der Süden.

Für ihre Analyse nutzten die Demografen unter anderem historische Daten des Statistischen Reichsamtes und die Geburtenstatistiken der Statistische Ämter des Bundes und der Länder bis zum Jahr 2010. Um trotz Gebietsreformen zeitlich gleichbleibende Regionen vergleichen zu können, fassten die Forscher einige Kreise in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt zu größeren Regionen zusammen. Daher untergliedern sich die Regionalergebnisse in 396 Gebiete anstatt der momentan existierenden 402 Stadt- und Landkreise. Die Lebenserwartungen gelten jeweils zum Zeitpunkt der Geburt und über einen Zeitraum von drei Jahren bzw. näherungsweise für das mittlere Jahr (Bezeichnung "für 2010" statt "für 2009/2011").


Original-Veröffentlichung:
Eva U.B. Kibele, Sebastian Klüsener, Rembrandt D. Scholz:
Regional Mortality Disparities in Germany: Long-Term Dynamics and Possible Determinants,
Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie,
DOI 10.1007/s11577-015-0329-2


Über das MPIDR
Das Max-Planck-Institut für demografische Forschung (MPIDR) in Rostock untersucht die Struktur und Dynamik von Populationen: von politikrelevanten Themen des demografischen Wandels wie Alterung, Geburtenverhalten oder der Verteilung der Arbeitszeit über den Lebenslauf bis hin zu evolutionsbiologischen und medizinischen Aspekten der Alterung. Das MPIDR ist eine der größten demografischen Forschungseinrichtungen in Europa und zählt zu den internationalen Spitzeninstituten in dieser Disziplin. Es gehört zur Max-Planck-Gesellschaft, einer der weltweit renommiertesten Forschungsgemeinschaften.
www.demogr.mpg.de

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution763

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Max-Planck-Institut für demografische Forschung, Silvia Leek, 22.09.2015
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. September 2015

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