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DISKURS/092: Soziale Demokratie des Glücks? (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2010

Soziale Demokratie des Glücks?
Folgen der Glücksforschung für die Politik

Von Christian Kroll


Die neue akademische Glücksforschung hat, in Kombination mit dem gegenwärtigen internationalen Diskurs über Fortschrittsmessung und der abnehmenden Schichtbindung der Parteien, eine bedeutende Folge: Dominierende politische Kraft im 21. Jahrhundert wird diejenige, die das größtmögliche Glück für den größtmöglichen Teil der Bevölkerung hervorbringt. Wird dies die Sozialdemokratie sein?


Bereits 1789 behauptete der britische Ökonom Jeremy Bentham, diejenige politische Maßnahme sei die beste, die das größte Glück für die größte Anzahl an Menschen hervorbringe. Benthams Hauptproblem mit diesem "greatest happiness principle" war damals, dass er Glück nicht messen konnte - so verschwand seine Theorie ohne empirische Grundlage für 200 Jahre wieder in der Schublade der Wirtschaftsgeschichte.

Dank der neuen Glücksforschung jedoch wissen wir heute eine ganze Menge darüber, was die Lebenszufriedenheit nachhaltig beeinflusst. Diese Forschungsrichtung erlaubt eine zielgenaue Bestimmung der Einflussfaktoren individuellen und gesellschaftlichen Wohlergehens. Der Ansatz entstand in den 60er Jahren in der Psychologie und Soziologie und hat sich inzwischen bis in den ökonomischen Mainstream vorgekämpft.

Nun beginnt auch endlich die Politik aufzuhorchen und einzusehen, dass ein Paradigmenwechsel hin zu "mehr Lebensqualität wagen" unabdingbar ist. Die entscheidende Zeitenwende war in diesem Zusammenhang die jüngste Finanzkrise. Sie hat gezeigt, dass unsere Maßstäbe für gute Politik und erfolgreiches Wirtschaften - allen voran das Bruttoinlandsprodukt (BIP) - inhärente Probleme haben, die katastrophale Folgen mit sich bringen können. Das BIP jedenfalls ist in diesem Zusammenhang nur ein "Beschränkt Informativer Parameter" und gehört als zentraler Indikator für das Wohlergehen von Gesellschaften abgelöst. Als solcher wurde es von seinen Erfindern in den 30er Jahren nie konzipiert, und doch wird ihm von Politik, Medien und Öffentlichkeit diese Rolle zugeschrieben. Die Stiglitz-Kommission, eine mit Nobelpreisträgern besetzte Expertenrunde zur Messung von Wohlstand und gesellschaftlichem Fortschritt, merkte jüngst zu Recht an, dass unser Fokus auf schnelles BIP-Wachstum die Krise maßgeblich herbeigeführt hat. Das Problem der kurzfristigen Profitlogik sowie weitere Messprobleme des BIP machen ein Umdenken in diesem Bereich zu dem Imperativ unserer Zeit. Schließlich erreicht man die oft zitierte "Gute Gesellschaft" nur, wenn man weiß, an welchen Indikatoren man sie misst.

Nirgends wird diese wichtige Frage momentan so konsequent angegangen wie in Großbritannien, wo der Premierminister David Cameron bereits vor seiner Wahl davon sprach, das BIP (engl.: GDP) durch "General Well-Being" (GWB) als zentralen Kompass für die Politik zu ersetzen. Im Land Jeremy Benthams findet derzeit im Parlament eine Early Day Motion zur Förderung von Glück und Wohlergehen zahlreiche Anhänger unter den Abgeordneten, welche sich in einer überparteilichen Arbeitsgruppe zu Wellbeing Economics zusammengeschlossen haben. Und seit September 2010 fordert nun auch ein breites gesellschaftliches Movement for Happiness unter Führung von Lord Richard Layard von der London School of Economics (LSE) einen Paradigmenwechsel in der Politik ein - basierend auf den Ergebnissen der an der LSE intensiv betriebenen Glücksforschung. Auch in Deutschland soll nun mit etwas Verspätung eine Fortschritts-Enquête an solche Initiativen anknüpfen. Sie soll erörtern, wie das BIP durch einen Lebensqualitätsindex abgelöst werden kann und was die Politik tun kann, um das Wohlergehen der Menschen nachhaltig zu verbessern - unter Einbezug der Glücksforschung.


Ist Glück Privatsache?

Aber ist es überhaupt die Aufgabe der Politik, das Glück des Einzelnen zu erhöhen, oder ist dieses nicht die Privatangelegenheit des Individuums? Die US-amerikanische Unabhängigkeitserklärung zum Beispiel spricht doch nur davon, jedem Einzelnen das Streben nach Glück (pursuit of happiness) zu ermöglichen, nicht happiness selbst. Gehört solch ein Ansatz also nicht vielmehr in die Schreckensszenarien von George Orwell und Aldous Huxley? Die Antwort ist: Nein. Die Daten aus der Forschung zeigen deutlich, dass eine ganze Reihe wichtiger Einflussfaktoren für die individuelle Lebenszufriedenheit außerhalb des primären Kontrollbereichs des Einzelnen liegen, wie etwa eine niedrige Kriminalitätsrate oder die menschliche Ausgestaltung des Wirtschaftssystems. Hierfür braucht der Bürger den Staat - Regierungen stehen somit direkt in der Verantwortung. Die Glücksforschung kann deshalb ein wichtiges Werkzeug für effektive Politikmaßnahmen sein.

Wie könnte also eine "Politik des Glücks" aussehen? Wir wissen nach Jahren robuster Forschung, dass die Qualität der menschlichen Beziehungen der wichtigste Faktor für Lebenszufriedenheit ist, weit vor hohem Einkommen. Das Sozialkapital unserer Gesellschaft gilt es daher in erster Linie zu erhöhen. In den reicheren Ländern der Erde, wo Grundbedürfnisse gesättigt sind, bringen Zuwächse im BIP schließlich keine Erhöhung der Lebenszufriedenheit mehr mit sich. Andere Faktoren, allen voran das Sozialkapital, machen hier den Unterschied aus. Dies bedeutet für die Politik, die Ermöglichung von kohäsiven Gemeinschaften mit zivilgesellschaftlich engagierten Mitgliedern, Integration auf Augenhöhe und Maßnahmen zur Stärkung des Vertrauens in unsere Mitmenschen weit höher zu priorisieren als bisher. Wir brauchen zwar kein "Ministerium für Freundschaft", das uns einander vorstellt, wie einst der Harvard-Professor Robert Putnam vorschnell polemisierende Kritiker beruhigte. Aber dennoch zeigt die so genannte Kontakthypothese aus der Sozialpsychologie, dass kohäsive soziale Bindungen vor allem unter positiven Rahmenbedingungen entstehen. Diesen Nährboden für Sozialkapital kann und muss der Staat schaffen. Was uns im Laufe der Individualisierung und Modernisierung abhanden gekommen ist, sind ein verbindendes Band und das für eine solidarische Gesellschaft unabdingbare Vertrauen ineinander. Vor allem in einer sich mehr und mehr diversifizierenden Sozialstruktur in Deutschland gilt es zunehmend, sogenanntes bridging social capital aufzubauen, d.h. Begegnungen über sozio-ökonomische und ethnische Grenzen hinweg. Wir können uns weder Parallelgesellschaften noch einseitige Leitkulturen leisten. Was wir für nachhaltig gesicherten Zusammenhalt brauchen, ist die Gesellschaft der Brückenverbindungen.


Konsequenzen für sozialdemokratische Politik

Was bedeutet all das bisher Dargelegte für die Sozialdemokratie? Zunächst muss gesagt werden, dass das Konzept der Glücksmessung aufgrund seines wissenschaftlichen Vorgehens inhärent ideologiefrei ist. Keine Partei kann das Konzept für sich vereinnahmen, da in diesem bottom up-Ansatz die Definition der Guten Gesellschaft aus den subjektiven Äußerungen der Befragten selbst erwächst. Es wird also keine linke oder rechte Agenda verfolgt, sondern gute (d.h. Lebensqualität fördernde) von schlechter (Lebensqualität mindernder) Politik unterschieden - Gerhard Schröders einstiger, analoger Ausspruch zur Wirtschaftspolitik wird hier manchem im Ohr klingen. Dennoch gibt es unterschiedliche Schnittmengen und Implikationen für die politischen Strömungen in Bezug auf die Glücksforschung - vor allem wenn man bedenkt, dass die Steigerung des Glücks einer Gruppe nicht mit dem Glück einer anderen Gruppe einhergehen muss. Was sind also die Konsequenzen für sozialdemokratische Politik?

Im Ganzen muss es Sozialdemokraten darum gehen, die Verteilung des Glücks zu optimieren, statt nur den gesellschaftlichen Mittelwert zu erhöhen. So ist es im Zweifel wichtiger, jemanden aus Unglück zu befreien, als eine zufriedene Person noch glücklicher zu machen. Eine wichtige Frage in diesem Zusammenhang ist die des Wachstums. Gerade konservative Kritiker haben in jüngster Zeit angemerkt, dass wir aufgrund des durch die Glücksforschung ermittelten abnehmenden Grenznutzens von Einkommen in Zukunft auf Wachstum verzichten können. Fehlendes Wachstum ließe sich kompensieren durch eine Hinwendung zu musischer und künstlerischer Betätigung. Eine sozialdemokratische Sichtweise auf das Thema würde jedoch dagegen halten, dass solch ein materieller Verzicht nur für die Ober- und Mittelschicht eine realistische Option darstellt.

Jedes sechste Kind wächst heute in Deutschland unterhalb der OECD-Armutsgrenze von 8.000 Euro Haushaltseinkommen pro Jahr auf. Inwiefern Umverteilung allein solche Probleme lösen kann, hängt vom politischen Willen ab. Soziales und nachhaltiges Wachstum ist derweil auch das Versprechen von Aufstieg und materieller Verbesserung, ohne dass es anderen dafür schlechter gehen muss. Alles in allem sind die Kernanliegen der Sozialdemokratie - Aufstieg durch Bildung, Empowerment, Solidarität und der Ausgleich von Ungleichheiten - prinzipiell sehr kompatibel mit einem Fokus auf mehr Lebensqualität.

Zu Zeiten Willy Brandts hatte die SPD noch die Deutungshoheit über wichtige gesellschaftliche Diskurse, welche sie heute angesichts desaströser Ergebnisse bei den letzten Bundestags- und Europawahlen brutal eingebüßt hat. Im Wahlprogramm von 1972 hieß es: "Ein Mehr an Produktion, Gewinn und Konsum bedeutet noch nicht automatisch ein Mehr an Zufriedenheit, Glück und Entfaltungsmöglichkeiten für den Einzelnen. Lebensqualität ist mehr als höherer Lebensstandard. Lebensqualität (...) meint Bereicherung unseres Lebens über den materiellen Konsum hinaus." Es ist also legitim zu behaupten, dass die Partei ein Pionier in der Debatte um Lebensqualität und Glück war, lange bevor internationale Organisationen wie die OECD, die Kommission der Europäischen Union mit ihrem Beyond GDP-Projekt und Sarkozys Stiglitz-Kommission in der zurückliegenden Dekade mit fast identischem Wortlaut das Thema für sich entdeckten. Auf diese Stärke sollte sich die Partei wieder zurückbesinnen.

Eine Debatte über Lebensqualität und Indikatoren für Wohlergehen, wie sie die Fortschritts-Enquête nun auch nach Deutschland tragen soll, ist überfällig. Eine wichtige Folge ihrer Arbeit muss sein, dass einzelne Parteien in Zukunft klarer kommunizieren, was ihre jeweilige Vision für Fortschritt ist und welche Indikatoren sie dabei für relevant halten. Gleichzeitig könnten wir durch Ausbau und Aufbereitung bestehender Datensysteme zur Lebensqualität, wie das in Amerika derzeit durch die State of the USA-Initiative geschieht, die Leistung von Regierungen genauer beurteilen, Trends identifizieren und Problemgruppen gezielter helfen. Dies gäbe dem Wähler eine weitaus akkuratere Entscheidungsgrundlage im demokratischen Prozess. Dann wird im 21. Jahrhundert tatsächlich diejenige politische Kraft dominieren, die das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl hervorbringt, wie Bentham einst prophezeite. Wird die Sozialdemokratie ihre Chance nutzen?

Christian Kroll (* 1981) ist Visiting Scholar an der Harvard University (Kennedy School of Government). Außerdem forscht er über Glück, Lebensqualität und Sozialkapital an der London School of Economics.
c.kroll@lse.ac.uk


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2010, S. 41-44
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Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Dezember 2010