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DISKURS/102: Der demokratische Weg zum Sozialismus (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2014

Der demokratische Weg zum Sozialismus

Von Richard Sandbrook



Gemäßigte Sozialdemokraten sind entweder der Auffassung, dass Anstrengungen zur Beseitigung des Kapitalismus ein aussichtsloses Unterfangen sind, oder sie vertreten die Ansicht, dass nicht der Kapitalismus als solcher, sondern der Neoliberalismus das eigentliche Problem sei. In beiden Fällen verfolgen sie das unmittelbare Ziel einer gerechteren Verteilung von Einkommen, öffentlichen Dienstleistungen und Sozialschutzleistungen. Das Erreichen dieses Ziels setzt zumindest voraus, dass es eine Bewegung hin zur Schaffung eines universalistischen, sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates und zur Umsetzung einer integrativeren Politik gibt. Grundlegendere Veränderungen werden hingegen solange aufgeschoben, bis es dafür günstigere Rahmenbedingungen gibt. Dagegen vertreten Sozialisten die Ansicht, dass der Kapitalismus aufgrund des durch ihn angerichteten sozialen und ökologischen Schadens und der riesigen Ungleichheiten, die er hervorruft, nicht verbesserungsfähig ist und deshalb überwunden werden muss, um seine Mängel zu beheben. Dieser sozialistische Ansatz kommt einem Angriff gleich, der auf vererbte Machtstrukturen, die generationenübergreifende Übertragung von Privilegien und bestehende Eigentumsrechte abzielt. Die ihm zugrunde liegende Verfahrensweise ist nicht der Klassenkompromiss, sondern der Klassenkampf.

Allerdings ist der Sozialismus des 20. Jahrhunderts trotz seiner emanzipatorischen Vision, von der er sich inspirieren ließ, entweder gescheitert oder in einen bürokratischen Kollektivismus übergegangen, der einem Verrat an seinen ursprünglichen Grundsätzen gleichkommt. Gibt es im globalen Süden Organisationen, die einen Weg gefunden haben, der nicht in diese Sackgasse führt?

Ein möglicher Weg ist die radikale sozialdemokratische Strategie des Übergangs zum Sozialismus. Wenn es einen demokratischen Weg zum Sozialismus gibt, dann muss es vor dem Hintergrund der gescheiterten staatssozialistischen Experimente des 20. Jahrhunderts meines Erachtens dieser Weg sein. Die radikale Sozialdemokratie stellt indes ein höchst riskantes und umstrittenes Wagnis dar, dessen Erfolg von äußerst ungewöhnlichen Voraussetzungen abhängt.

Eine radikale sozialdemokratische Strategie läuft nicht darauf hinaus, dass einer Gesellschaft der Sozialismus durch eine geschlossen und programmatisch handelnde sozialistische Partei von oben aufgezwungen wird. Stattdessen agiert diese innerhalb eines weitgehend als Marktwirtschaft funktionierenden Systems und innerhalb von liberaldemokratischen Institutionen, um vererbte Privilegien und Machtstrukturen in Frage zu stellen und die Demokratie zu stärken. In einem solchen System gibt es auch weiterhin bürgerliche und politische Freiheitsrechte, konkurrierende politische Parteien sowie unabhängige gesellschaftliche Bewegungen und freiwillige Zusammenschlüsse. Gemäß dem von Eduard Bernstein entwickelten originellen Konzept des demokratischen Revisionismus bildet die Partei ein klassenübergreifendes Wahlbündnis. Indem sie ihr Handeln sowohl auf den ethischen Grundlagen der sozialen Gerechtigkeit als auch auf den materiellen Grundlagen klassenspezifischer Interessen aufbaut, genießt die Partei den Rückhalt der Wählerschaft. Das von der Partei beziehungsweise dem Wahlbündnis verfolgte Ziel der Umverteilung beinhaltet grundsätzlich die Beseitigung diskriminierender Praktiken, die Ausweitung der Sozialschutzsysteme und qualitativ hochwertiger öffentlicher Dienstleistungen zugunsten mittelloser Menschen, die Demokratisierung der Märkte, selektive Verstaatlichungen sowie Bodenreformen (dort, wo sich Grundbesitz auf wenige Besitzer konzentriert) und partizipatorische Institutionen, die eine Beteiligung der Bürger ermöglichen. Eine Stärkung der Demokratie beinhaltet die Dezentralisierung von Kompetenzen und öffentlichen Einnahmen, die Einbindung gesellschaftlicher Bewegungen zu Konsultations- beziehungsweise Beteiligungszwecken sowie die Existenz von Produktions- und Vertriebsgenossenschaften für Arbeiter und Landwirte. Die radikale Sozialdemokratie stellt nicht so sehr ein Endziel ("Sozialismus") dar, sondern vielmehr einen Prozess der Entwicklung staatsbürgerlicher Fähigkeiten, partizipatorischer Strukturen, neuer wirtschaftlicher Chancen und der Entökonomisierung der Arbeit.

Im Folgenden sollen Fälle erörtert werden, welche die Dynamik und die Dilemmata der radikalen Sozialdemokratie veranschaulichen Ihr Vorläufer war der Eurokommunismus, der bis zum Beginn des neoliberalen Zeitalters in Italien, Frankreich und Spanien Fortschritte gemacht hatte. Das tragischste und bekannteste Beispiel im globalen Süden ist die chilenische Regierung der Unidad Popular (UP) von Salvador Allende (1970-1973). Zwar war die UP-Regierung zweifellos kühn, mutig und demokratisch, es fehlte ihr jedoch die notwendige Unterstützung durch eine Mehrheit der Wähler sowie die erforderliche Geschlossenheit und Disziplin, um eine gewaltlose und verfassungskonforme sozialistische Transformation durchzuführen. Salvador Allende, der 1970 einen Stimmenanteil von 37 % auf sich vereinte, hatte von seinem Volk nie ein überzeugendes Mandat für einen revolutionären Umbruch erhalten. Darüber hinaus war die UP außerstande, ihre Anhänger unter Kontrolle zu halten: Bauern beschlagnahmten Grundstücke, Landbesetzer gründeten illegale Siedlungen, Arbeiter besetzten Fabriken und Verbündete (insbesondere die Bewegung der revolutionären Linken - MIR) unterstützten illegale Beschlagnahmen von Eigentum. In Verbindung mit dem wirtschaftlichen Zusammenbruch des Landes, der auf ein von den Vereinigten Staaten verhängtes Embargo zurückzuführen war, führte diese chaotische Mobilmachung gesellschaftlicher Kräfte und ihr Vordringen in die Politik zu einer Polarisierung der Gesellschaft und trieb schließlich zahlreiche Kleinunternehmer in die Arme der Oligarchen. Das Versagen der UP, unter kleinen Grundbesitzern Unterstützer zu finden, verdammte das Wahlbündnis zu einem Minderheitenstatus und legte die Grundlagen für den brutalen Militärputsch vom September 1973. Die unter Präsident Nixon unternommenen Anstrengungen der US-Administration zur Destabilisierung der Allende-Regierung - durch finanzielle Unterstützung der Opposition, Wirtschaftssabotage und Hilfe für die chilenische Armee - zeigt beispielhaft, welcher Feindseligkeit aus dem Ausland selbst demokratische sozialistische Regierungen während des Kalten Krieges ausgesetzt waren.

Auch die Sandinisten in Nicaragua waren während des Zeitraums, der von der revolutionären Machtübernahme im Jahre 1984 bis zu ihrer Wahlniederlage 1990 reichte, mit den radikalen Sozialdemokraten vergleichbar. Allerdings ist dieser Betrachtungszeitraum zu kurz und zu stark mit dem internen Krieg gegen die von den USA unterstützten Contras verwoben, als dass man daraus nützliche Schlussfolgerungen ziehen könnte.

Das anschaulichste Beispiel für das radikale sozialdemokratische Modell, sowohl in Bezug auf seine Verheißungen als auch auf seine Fallstricke, liefern die indischen Bundesstaaten Kerala und Westbengalen, die während verschiedener Perioden von der CPM (Communist Party of India [Marxist]) regiert wurden. Von den 50er bis in die späten 80er Jahre verkörperte der Bundesstaat Kerala dieses Modell in der Tat in seiner wohl reinsten Form, was größtenteils auf seine besonderen Gegebenheiten zurückzuführen war. Die radikale Phase dauerte mehr als drei Jahrzehnte an. Dies hing teilweise damit zusammen, dass Kerala als Gliedstaat innerhalb einer formal dem Sozialismus verpflichteten Föderation (unter der Herrschaft der Kongresspartei) von imperialistischen Anfeindungen abgeschirmt wurde. Das Verfassungsmäßige Recht der Regierung in Delhi, im Falle einer Störung der öffentlichen Ordnung die Regierung eines Bundesstaates durch die Einführung der Präsidialherrschaft abzusetzen, war für die CPM-Partei ein großer Ansporn, um im Einklang mit demokratischen Regeln und Verfahren eine friedvolle Übergangsphase einzuleiten. Für diesen Schritt reichte ihr die im Jahre 1959 verfügte Phase der Präsidialherrschaft.

Opfer des eigenen Erfolges

Das Fallbeispiel Kerala veranschaulicht auf eindrückliche Weise die Spannungen, die durch diese Strategie (wohl unvermeidlich) hervorgerufen werden. Die radikale Fokussierung auf die Beseitigung historisch gewachsener Ungerechtigkeiten und die Entökonomisierung der Arbeit mit Hilfe des Klassenkampfes führt schnell zur Entstehung einer Kapitalakkumulationskrise. Aufgrund dieser Krise gerät die Partei im Inland immer stärker unter Druck, damit sie dem Modell, für das sich ihre Anhänger mobilisiert haben, dadurch die Schärfe nimmt, dass sie von nun an der Kapitalakkumulation den Vorrang gibt.

Durch die Verdrängung der herrschenden Klasse - im Fallbeispiel Kerala sind dies die Grundbesitzer - und die Förderung einer vergleichsweise gebildeten und wohlhabenden Mittelschicht in ländlichen und städtischen Gegenden, produziert die Strategie eine Reihe von Nutznießern, die sich dann bereitwillig in die Konsumgesellschaft einfügen und die auf Kapitalakkumulation ausgerichtete, neoliberale Politik ebenso bereitwillig annehmen. In der Folge lehnen diese Nutznießer dann die Sozialisten ab, weil sie ihnen die Schuld an der Stagnation der Wirtschaft geben. In den 90er Jahren reagierte die von heftigen innerparteilichen Auseinandersetzungen erschütterte CPM mit einem Schwenk zur gemäßigten Sozialdemokratie, um bei Wahlen nicht die Unterstützung ihrer Wählerschaft zu verlieren. Kann man diesen Rückzieher aber schon als Beleg für das Scheitern des gesamten Modells deuten? In Anbetracht des hohen Maßes an gleichberechtigter Freiheit, die während des drei Jahrzehnte dauernden Klassenkampfes in diesem Fall erreicht wurde, wäre das eine fragwürdige Behauptung.

Wenn jedoch die Ausgangslage von keinen außerordentlichen nationalen und globalen Umständen gekennzeichnet ist, wird man mit der radikalen sozialdemokratischen Strategie nicht einmal den im Bundesstaat Kerala erzielten Erfolg erreichen können. Um effizient zu sein, muss die sozialistische/sozialdemokratische Partei einen starken inneren Zusammenhalt aufweisen und gegenüber ihrer Wählerschaft gut organisiert und programmatisch auftreten. Sie muss in einer Gesellschaft tätig werden, die in Klassen unterteilt ist, selbst wenn bevölkerungsgruppenspezifische Identitäten ethnischer, sozialer und religiöser Art in der Gesellschaft nach wie vor ebenso stark ausgeprägt sind. Während die gemäßigte Sozialdemokratie von einem Klassenkompromiss abhängt, an dem Teile der herrschenden Klasse der Wirtschaftselite teilhaben, verursacht die radikale Sozialdemokratie einen Klassenkampf, der nur einen minimalen - oder gar keinen - klassenübergreifenden Kompromiss für die gesamte Gesellschaft zulässt. Dementsprechend braucht die Partei beziehungsweise das Wahlbündnis eine solide, von bevölkerungsgruppenspezifischen Merkmalen weitgehend unabhängige politische Basis, um sich unter solchen Bedingungen zu behaupten. Die sozialen Bewegungen der Zivilgesellschaft brauchen einen starken inneren Zusammenhalt sowie Eigenständigkeit und eine Zweckbestimmung, um sicherstellen zu können, dass die sozialdemokratische/sozialistische Partei an ihren Visionen festhält. Nur mit diesem Grad der Mobilisierung ist gewährleistet, dass das Eintreten der Partei für gleichberechtigende Freiheit und Demokratie nicht nachlässt und keine neue privilegierte Klasse von politischen Insidern entsteht.

In vielen Ländern sind die gesellschaftlichen Voraussetzungen einem Klassenkampf jedoch nicht förderlich, unabhängig davon, ob er von radikalen Sozialdemokraten oder der populistischen Linken geführt wird. Dies hängt mit stark ausgeprägten bevölkerungsgruppenspezifischen Identitäten und der Fragmentierung der Klassenstruktur zusammen. Riesige Ungleichheiten, andauernde Armut, wirtschaftliche Unsicherheit, Korruption und die Diskriminierung von indigenen Menschen, Kasten oder ethnischen Gruppen sind Missstände, die in vielfältiger Kombination in der Bevölkerung ein Gefühl der Verbitterung schüren. Wahlbündnisse mit so grundverschiedenen Gruppen wie ausgegrenzten indigenen Bevölkerungsteilen, Landarbeitern ohne Grundbesitz, kleinen und mittelgroßen Landwirten, Arbeitern im informellen Sektor, Teilen der heterogenen Mittelschicht und Gewerkschaftlern zu schließen, stellt für linksgerichtete Parteien jedoch eine anspornende Herausforderung dar.

Damit linksgerichtete Regierungen eine komplexe, auf Umverteilung beruhende Sozial- und Wirtschaftspolitik umsetzen können, muss zudem der Staat relativ effektiv und unabhängig von der herrschenden wirtschaftlichen Klasse sein. Während die Volkswirtschaft zwar weiterhin einen umfassenden Gebrauch von den Märkten macht, darf sie nicht von mächtigen Oligopolen beherrscht werden, die in der Lage sind, mit ihrem Einspruch Gesetzesvorhaben zu Fall zu bringen. Die Demokratisierung der Märkte (durch günstige Darlehen, Expertenhilfe und Vorzugsbehandlung bei der Vergabe öffentlicher Aufträge) bietet kleinen Unternehmen und Genossenschaften neue Chancen und verleiht einer breiten Basis von Unternehmern wirtschaftlichen Einfluss. Allerdings ist dies ein langwieriger Prozess. Starke Staaten mit einem hohen Grad an Autonomie sind offenkundig eine Seltenheit.

Es zeichnen sich jedoch auf der Weltbühne einige diesen Prozess unterstützende Trends ab. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein radikales Experiment erfolgreich umgesetzt wird, steigt, wenn das betreffende Land einen außerordentlich großen Einfluss auf die Weltwirtschaft ausüben kann, zum Beispiel dank seiner umfangreichen Erdölreserven oder seiner großen, schlagkräftigen Industriekonzerne. Zudem hat Chinas jüngster Aufstieg, durch den es zu einer alternativen Quelle für Handel, Kredite, Investitionen und sogar ausländische Hilfe geworden ist, vor allem seine lateinamerikanischen Partner dazu ermutigt, unkonventionelle Experimente in Angriff zu nehmen. Wahrscheinlich wird aber nur die Entstehung eines regionalen Blocks gleichgesinnter, linksgerichteter Staaten ein sozialistisches Experiment vor den Vergeltungsmaßnahmen des globalen Neoliberalismus schützen können. In Südamerika werden zurzeit die Grundlagen für ein solches regionales Handelsbündnis gelegt. Es war vor allem der damalige venezolanische Präsident Hugo Chávez, der verschiedene Regionalorganisationen und ausländische Allianzen förderte, die als unterstützende, regionale Basis für die Entwicklung anti-neoliberaler Alternativen dienen sollten. ALBA (Bolivarianische Allianz für die Völker unseres Amerika), BancoSur und UNASUR (Union Südamerikanischer Nationen) sind die neuen Vorläufer eines potenziell linksgerichteten regionalen Handelsbündnisses. Es wäre jedoch verfrüht, dessen Erfolgsaussichten einzuschätzen. Vorerst macht noch das Privatkapital - die Welthandelsorganisation und die großen westlichen Staaten - sein überaus schlagkräftiges Vetorecht geltend.

Formen des progressiven Populismus

Unter den Modellen der demokratischen (beziehungsweise halbdemokratischen) Linken seien schließlich noch der Populismus alten Stils und der Linkspopulismus erwähnt. Beide Formen sind von einer personalisierten Führung, populistischer Rhetorik und schwach institutionalisierten Parteien gekennzeichnet. Allerdings unterscheidet sich der Linkspopulismus in vielerlei Hinsicht deutlich vom Populismus alten Stils.

Der Populismus alten Stils ist in Lateinamerika und anderen Ländern des globalen Südens ein weit verbreitetes Politikmodell. Er zeichnet sich durch vier Merkmale aus. Erstens: eine politische Rhetorik, welche die Gesellschaft in zwei gegnerische Gruppen unterteilt. Demnach steht auf der einen Seite das "Volk" und auf der anderen eine hinterhältige, habgierige und bestechliche "Oligarchie". Zweitens: Der Populismus stellt eine vermeintlich charismatische Führungsperson in den Vordergrund, die eine starke emotionale Bindung zu ihren Gefolgsleuten hat. Ein populistischer Anführer hebt die Wichtigkeit seiner eigenen Person hervor, indem er von seinen Anhängern Loyalität gegenüber sich selbst einfordert und eine emotional aufgeladene, volkstümliche Rhetorik gebraucht, mit der er die Menschheit nach dem Freund-Feind-Schema einteilt. Drittens: Eine populistische Partei verfügt über eine lockere Organisationsstruktur. Sie hat die Aufgabe, das Volk dazu zu bewegen, die Mission des Anführers zu verwirklichen, die Stärke der Partei durch Kundgebungen zu demonstrieren und die Anhänger mit besonderer Förderung zu belohnen. Da der Populismus auf der Personalisierung der Macht und dem System der Günstlingswirtschaft beruht, stürzt der Abgang des Anführers die Bewegung in eine tiefe Krise. Ein weiteres Merkmal des Populismus alten Stils ist schließlich sein eingeschränktes Bekenntnis zur demokratischen Gewaltenteilung. Die als Inbegriff des Populismus geltenden Präsidenten Argentiniens und Brasiliens, Juan Perón (1946-1955 und 1973-1974) und Getúlio Vargas (1930-1945 und 1951-1954), übten ihre Ämter nur zeitweise in (halb-)demokratischen Wahlsystemen aus.

Inwiefern entspricht der Populismus alten Stils - wenn überhaupt - einer spezifisch linksgerichteten Bewegung? Ernesto Laclau behauptet, der traditionelle Populismus sei kein Phänomen, das entweder nur im rechten oder nur im linken Lager verortet werden kann. Stattdessen umfasse er vielfältige und einander widersprechende politische Überzeugungen. Es ist daher wenig überraschend, dass Wissenschaftler den Populismus alten Stils auf sehr unterschiedliche Weise ausgelegt haben. Einer Interpretation zufolge steht er für die Einbindung der Arbeiterklassen, vor allem der städtischen Arbeiterschaft, in das politische Leben sowie für die Teilhabe dieser Menschen an den Früchten des Wirtschaftswachstums. Als Gegenleistung für ihre Zustimmung zu einem von oben verordneten Klassenkompromiss beziehen die städtische Arbeiterschaft und andere Arbeiter wirtschaftliche und soziale Leistungen. Kritiker machen darauf aufmerksam, dass populistische Regierungen ein Klassenbündnis schmieden, dem hauptsächlich gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer und Vertreter der Industrie-Bourgeoisie angehören und dessen Ziel es ist, ein (importsubstituierendes) Industrialisierungsprogramm umzusetzen. Das Regime sichert sich die Loyalität der Gewerkschaften, indem es selbst das Führungspersonal ernennt, Belohnungen verteilt und Abtrünnige bestraft. Kurzum: Die Verknüpfung von Sozialleistungen für Arbeiter mit der Feindschaft gegenüber der Oligarchie und der Emanzipation der Arbeiterschaft ist nicht notwendigerweise gleichbedeutend mit einer fortschrittlichen Orientierung.

Im Gegensatz dazu stellt sich der Linkspopulismus konsequent hinter die radikale Linke. Er lehnt nicht die Demokratie an sich ab, sondern widersetzt sich der liberalen Demokratie. Der Linkspopulismus geht auf die frühen 2000er Jahre zurück: In Mittel- und Osteuropa manifestierte er sich damals in unterschiedlichen Ausprägungen. In Venezuela führten Hugo Chávez und Nicolas Maduro seit 1999 die "Bolivarianische Revolution" an. In Ecuador und Bolivien entstanden Regierungssysteme, die mit dem venezolanischen in etwa vergleichbar waren.

Der Linkspopulismus hat eine weniger zweideutige Haltung zur Demokratie als der Populismus alten Stils. Seine Anhänger würden sagen, dass sie zwar eine Abneigung gegen die liberale Demokratie hegen, nicht aber gegen die Demokratie als solche. Sie sind der Auffassung, dass die liberale Demokratie die zwischen der Elite und "dem Volk" klaffenden enormen Ungleichheiten bei der Verteilung von Vermögen, Einkommen und politischer Macht verfestigt oder sogar vergrößert hat. Auf der Grundlage dieser Kritik treten Linkspopulisten für das ein, was sie häufig als "Volksdemokratie" bezeichnen und ihrer Ansicht nach eine Alternative zur liberalen Variante der Demokratie darstellt. Diese Alternative fasst Demokratie nicht als ein System von Verfahrensregeln zur Auswahl führender politischer Repräsentanten auf, sondern als eine Gesellschaftsform, die integrativ und egalitär ist und eine direkte Bürgerbeteiligung ermöglicht. Linkspopulisten haben mit unterschiedlichen, auf Partizipation gründenden institutionellen Strukturen experimentiert um, so sagen sie, praktikable Modelle zu entwickeln. Qualifizierte Beobachter sind sich nicht einig in der Frage, ob wir diese Experimente wirklich ernst nehmen oder sie nur als Tarnung für ein neues autoritäres Regierungssystem betrachten sollten. Es wäre jedoch ein Irrtum zu glauben, Hugo Chávez - um nur ihn als Beispiel zu nennen - sei nicht mehr als ein autoritärer Populist alten Stils gewesen.

Es bleibt ungewiss, ob gemäßigte Sozialdemokraten sich in Zukunft der Vereinnahmung durch die Eliten werden entziehen können und ob sie langfristig in der Lage sein werden, die Voraussetzungen für ein nachhaltiges, der breiten Masse der Bevölkerung zugutekommendes Wirtschaftswachstum zu erhalten. Falls die gemäßigte Linke zaudert, während die Vereinigten Staaten an Macht verlieren, könnte die radikale Linke ans Ruder kommen. Da aber das Modell der radikal-sozialdemokratischen Übergänge nur unter bestimmten, zwingenden Voraussetzungen zum Erfolg führen kann, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass sich der Linkspopulismus als Alternative durchsetzt. Da dieser sich zum Sprachrohr all jener Menschen macht, die nicht nur vom liberalen Kapitalismus, sondern auch von der liberalen Demokratie enttäuscht sind, wird er sich in Zukunft wohl weniger moderat geben, als er das heute tut. Sollte der Linkspopulismus auf seinem Weg zum "Sozialismus" weit voranschreiten, stellt sich jedoch folgende Frage: Wird er es vermeiden können, sich in den Fallstricken eines bürokratischen Kollektivismus zu verfangen?

(Aus dem Amerikanischen von Pascal Heinsohn)


Richard Sandbrook ist Professor für Politische Wissenschaften an der Universität Toronto. Kürzlich erschien: Reinventing the Left in the Global South. The Politics of the Possible (Cambridge University Press).
richard.sandbrook@utoronto.ca

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2014, S. 69 - 74
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Kurt Beck, Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka,
Thomas Meyer und Bascha Mika
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Juli 2014