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DISKURS/104: Gefährdet der Finanzkapitalismus die Demokratie? (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 144/Juni 2014
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Aus der aktuellen Forschung
Neue Balance gesucht
Gefährdet der Finanzkapitalismus die Demokratie?

Von Jürgen Kocka und Wolfgang Merkel



Der beschleunigte Aufstieg eines zunehmend globalisierten und deregulierten Finanzkapitalismus hat die soziale und politische Einbettung des Kapitalismus gesprengt. Die Spannungen zwischen Kapitalismus und Demokratie nahmen zu. Die ökonomische Ungleichheit ist gewachsen und bedroht nun auch das Prinzip der politischen Gleichheit. Die Finanzmärkte haben den Spielraum der Politik eingeschränkt. Staat und Markt benötigen eine neue Balance der Kooperation und Kontrolle. All dies stellt die Demokratie vor Herausforderungen, die sie noch längst nicht bewältigt hat.


Kapitalismus und Demokratie haben sich in den vergangenen zwei Jahrhunderten als die erfolgreichsten wirtschaftlichen und politischen Ordnungssysteme erwiesen. Der Kapitalismus hat sich seit dem Kollaps des sowjetischen Staatssozialismus nach 1989 und der Transformation der Volkswirtschaft Chinas weltweit durchgesetzt. Nur wenige Enklaven wie Nordkorea konnten sich mit barbarischen Mitteln dem kapitalistischen Siegeszug und Demokratisierungstendenzen widersetzen. Auch historisch gilt: Keine entwickelte Demokratie ist bisher ohne den Kapitalismus ausgekommen. Vice versa trifft dies nicht zu. Die Beispiele des nationalsozialistischen Deutschlands, der Volksrepublik China, Singapurs, der kapitalistischen Diktaturen Lateinamerikas oder Asiens im zwanzigsten Jahrhundert zeigen, dass der Kapitalismus unter verschiedenen politischen Herrschaftsformen bestehen oder gar blühen kann.

Der beachtliche Siegeszug der Demokratie im Weltmaßstab koinzidiert aber mit zunehmender Kritik am gegenwärtigen Zustand der entwickelten Demokratien. Nach der Jahrtausendwende mehren sich Theorien und Analysen, die den reifen Demokratien nur noch "Schwundstufen", wie Claus Offe schreibt, "postdemokratische Zustände", wie Colin Crouch kritisch analysiert, oder bloße "Fassaden" attestieren, wie es Wolfgang Streeck sagt. Als Hauptursache gilt der Kapitalismus in seiner aktuellen Form, geprägt durch einen hypertroph gewordenen Finanzkapitalismus. Wie vereinbar sind Kapitalismus und Demokratie? Wie tief reicht die Inkompatibilität von Demokratie und Kapitalismus, dessen verschiedene Ausprägungen im Westen heute Peter Hall und David Soskice unter dem Begriff der varieties of capitalism differenziert betrachtet haben? Inwieweit ist der Kapitalismus zu einer Herausforderung für die Demokratie geworden?


Ungleichheit und Partizipation

Schon die grundlegende Form politischer Beteiligung, nämlich die Beteiligung an allgemeinen Wahlen, zeigt ein Problem auf. In Westeuropa wählten 1975 noch durchschnittlich 85 Prozent, in 2012 nur noch 75 Prozent der Wahlberechtigten auf nationaler Ebene. In Osteuropa ist der Wählerrückgang dramatischer: von 72 Prozent im Jahr 1991 sank die Wahlbeteiligung 2012 auf 57 Prozent. Für die USA und die Schweiz wären selbst diese Zahlen alles andere als alarmierend. Die durchschnittliche Beteiligung an den US-amerikanischen Kongresswahlen betrug in den letzten drei Jahrzehnten (1980-2012) durchschnittlich magere 45,4 Prozent.

Das eigentliche Problem ist jedoch die mit der ansteigenden Wahlenthaltung einhergehende soziale Selektivität. Die unteren Schichten steigen aus der politischen Beteiligung aus; die mittleren und oberen Schichten bleiben. In den USA haben bei den Präsidentschaftswahlen rund 80 Prozent derer, die ihren Wahlwillen bekundeten, über ein Haushaltseinkommen von 100.000 US-Dollar und mehr pro Jahr verfügt; von den Bürgern, deren Haushaltseinkommen bis 15.000 US-Dollar reicht, erklärt nur noch ein Drittel ihre Wahlabsicht. Die Erkenntnisse mehren sich, dass die amerikanische Krankheit der Unterschichtsexklusion auch die europäischen Wähler ergreift. Das politische Gleichheitsprinzip wird auf der Partizipations-, Repräsentations- und Policy-Ebene ausgehöhlt.

Warum votieren die unteren Schichten nicht mehr für politische Parteien, die für Umverteilung optieren? Nach 1945 gab es ja Phasen der Umverteilung von oben nach unten. Dieser Trend wurde in den 1970er Jahren umgekehrt. Sozialdemokratische oder andere große linke Volksparteien betreiben heute zwar programmatisch die Interessenvertretung dieser Schichten, aber das ist mehr der Aufrechterhaltung ihres Images als Partei der "sozialen Gerechtigkeit" zuzuschreiben als der Mobilisierung der politisch häufig indifferent gewordenen Unterschichten. Wenn linke Parteien an der Regierung eine Politik für die unteren Schichten durchsetzen wollen - mehr Bildung, Mindestlohn, Aufrechterhaltung des Sozialstaats, stärkere Besteuerung der Reichen -, werden sie mit den diskursiven oder realen Drohungen der reicheren Schichten konfrontiert. Die Hauptdrohung lautet: Verschiebung von Kapital und Investitionen ins Ausland. Damit eröffnet sich gerade für linke Parteien ein Zielkonflikt. Machen die Investoren mit ihrer Investitionsverschiebung ernst, kostet dies Arbeitsplätze, bedeutet dies weniger Wachstum, weniger Staatseinnahmen, weniger Sozialinvestitionen und dann letztendlich weniger Wählerstimmen. Die Politik des "Dritten Wegs" der meisten sozialdemokratischen Parteien und Regierungen war auch der Versuch einer Anpassung an die globalisierte wirtschaftliche Umwelt. Die Idee der Umverteilung hatte zeitweise den wichtigsten Fürsprecher in der parteipolitischen Arena verloren.

Es gibt aber auch kulturelle Konfliktlinien. Insbesondere untere Schichten (vor allem Männer) sind für autoritäre und ethnozentrische Politikangebote anfällig. Beispiele dafür lassen sich bei den rechtspopulistischen Parteien Skandinaviens, Österreichs und der Schweiz finden. Häufig stimmen Wähler der unteren Mittelschichten für autoritäre und xenophobe Parteien, die gleichzeitig eine neoliberale Wirtschafts- und Finanzpolitik vertreten.


Der Staat wird verwundbarer

Die Finanzialisierung des Kapitalismus hat die Verwundbarkeit des Staates größer und sichtbarer gemacht. Mit der Finanzialisierung ist nicht nur die Abhängigkeit der Produktions- und Handelssektoren von der Finanz-"Industrie" gestiegen, sondern auch die des Staates vom Kapitalismus. Der Staat hat sich durch die Deregulierung der Finanzmärkte seit den 1970er Jahren teilweise selbst entmächtigt. Regierungen und Parteien, die bei Strafe ihrer Abwahl auf ökonomische Prosperität angewiesen sind, wurden zunehmend von den Entscheidungen der Großinvestoren und ihrer Kreditgeber abhängig, wie die Finanz- und Währungskrise seit 2008 besonders deutlich zeigte.

Der finanzialisierte Kapitalismus ist unfähig zur Selbsterhaltung aus eigener Kraft; sein Überleben hängt von staatlichen Interventionen ab. Gleichzeitig zeigte aber die Krise seit 2008 auch, wie sehr der demokratische Staat vom mächtigen Finanzkapitalismus in Geiselhaft genommen worden ist. Der Steuerzahler bezahlt die Zeche. Die trudelnden Banken galten als "too big to fail", ihr Bankrott würde angesichts vielfacher Verflechtungen tiefe soziale und politische Erschütterungen nach sich ziehen, fürchtete man. Zumindest in Europa versuchte die Politik um fast jeden Preis deren Zusammenbruch zu verhindern.

In der Krise zeigte sich ein einstmals tragender Grundpfeiler des kapitalistischen Systems als durch und durch brüchig: das Prinzip der Zusammengehörigkeit von Entscheidung und Haftung. Die Schuld für die Krise lag eindeutig bei den verantwortungslos spekulierenden finanzkapitalistischen Akteuren, die Verantwortung für die Folgen der Krise schulterte aber der Staat. Dieser bürdete sich in Form sprungartig zunehmender Verschuldung Lasten auf, von denen noch unklar ist, wie sie mittelfristig verarbeitet werden können. In der Krise kam es überdies oft zu raschen, parlamentarisch nicht hinreichend diskutierten und damit nur unzureichend legitimierten Entscheidungen. Deliberative Verfahren, die für das System der parlamentarischen Demokratie essenziell sind, blieben auf der Strecke.


Entparlamentarisierung und Stärkung der Exekutive

Zu den Besonderheiten des Finanzkapitalismus in Zeiten der Globalisierung und Digitalisierung gehört die immense Zunahme von Geschwindigkeit, Volumen, Komplexität und Reichweite finanzieller Transaktionen. Parlamente benötigen dagegen Zeit für die Vorbereitung, Deliberation und Verabschiedung von Gesetzen. Finanzielle Transaktionen ungeheuren Ausmaßes bedürfen im digitalisierten computergestützten Finanzverkehr nur Bruchteile von Sekunden. Der amerikanische Politikwissenschaftler William Scheuerman spricht von einem "empire of speed", der deutsche Soziologe Hartmut Rosa prägte den Begriff "Desynchronisierung" von Politik und Wirtschaft. Demokratisch-staatliche Entscheidungen und private ökonomische Transaktionen folgen unterschiedlichen Zeitrhythmen.

Die Beschleunigung in Wirtschaft und Gesellschaft gibt jenen politischen Institutionen einen Vorteil, die nicht deliberativ wie die Legislative oder Judikative agieren, sondern dezisionistisch wie die Exekutive. Besonders in der Krise wird ein besonderes Demokratie- Krisen-Paradox sichtbar: Einschneidende Krisenentscheidungen haben oft erhebliche wohlfahrts- und verteilungspolitische Konsequenzen. Deshalb wären gerade solche Entscheidungen auf eine belastbare demokratische Legitimation angewiesen. Deren Prozedur wird aber dem Zeitdruck geopfert.

Die Entterritorialisierung wirtschaftlicher und wirtschaftspolitischer Entscheidungen in inter- und supranationalen Zusammenhängen ist zu einem Problem für die Demokratie geworden, die ja weiterhin primär in nationalstaatlichen Räumen stattfindet. Die wirtschaftliche und politische Globalisierung verlief zugunsten der Exekutiven und zulasten der territorial begrenzten Parlamente. Parlamente verlieren Einfluss in der parlamentarischen Gesetzgebung und in der Kontrolle der Exekutive. Im Extremfall werden sie zu bloßen Ratifikations- Instanzen vorher getroffener Entscheidungen der Exekutive, die diese mit der Drohung der Alternativlosigkeit durch die Parlamente peitscht. In der Eurokrise geschah dies bei Geber- wie Nehmerländern.

Auch die Komplexität der wirtschafts- und finanzpolitischen Entscheidungen spielt den Exekutiven in die Hände. Sie verfügen über größere Stäbe und können schneller externe Expertise mobilisieren. Der durchschnittliche Parlamentarier ist in der Regel mit den finanzpolitischen Materien und den Konsequenzen bestimmter Entscheidungen überfordert, wie dies Abgeordnete des Bundestags bei der rasanten Verabschiedung der Rettungspakete des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) öffentlich bekannten. Dies ist nicht neu. Aber dass dem Parlament schon jede zeitliche Möglichkeit genommen wird, sich zu informieren und zu debattieren, erscheint als eine neue Qualität exekutiver Dominanz. Die Exekutive profitiert allerdings nur teilweise davon. Denn ein Teil der Entscheidungsmacht ist von den Exekutiven rasch weiter auf nicht staatliche Akteure übergegangen: auf internationale Expertengremien, Zentralbanken, Hedgefonds und globale Finanzakteure.


Der Bedeutungsverlust der unteren Schichten

Warum haben die Verlierer von Deregulierung und Globalisierung sich nicht gegen diese Entwicklung gestemmt? Die permanente Drohung vieler Unternehmen, Arbeitsplätze ins Ausland zu verlagern, und die auch dadurch politisch beschleunigte Deregulierung der Arbeitsmärkte schwächte die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften. Von liberalen und konservativen Parteien mit programmatischer Überzeugung betrieben, erfasste dieser Trend in den 1990er Jahren auch die großen sozialdemokratischen Arbeiterparteien. Auf der Suche nach den neuen Mittelschichten aus dem Dienstleistungsbereich und dem Medianwähler gaben sie viele programmatische Positionen der 1950er und 1960er Jahre auf. Der Fokus verschob sich von ökonomischer Umverteilung auf kulturelle, postmaterielle und askriptive Identitätsfragen: die Gleichberechtigung der Geschlechter, die Stärkung ethnischer und sexueller Minderheitenrechte. Fokusgruppen wurden die ökonomisch privilegierten bürgerlichen Schichten des liberalen Kosmopolitismus. Gewerkschaften wurden als rückwärtsgewandt betrachtet, herausgefallen aus den Zeiten der Globalisierung und des Postmaterialismus. Während kulturelle Diskriminierungen (zu Recht) als skandalös betrachtet wurden, galten die wachsenden sozioökonomischen Ungleichheiten als hinnehmbar. Der globalisierte Finanzkapitalismus erschien den konservativen und liberalen Parteien als wünschenswert oder doch unvermeidlich und den sozialdemokratischen Parteien als national nicht mehr zu bändigen, es sei denn auf Kosten großer Wohlfahrtsverluste, die wiederum an den Wahlurnen bestraft würden.


Fazit

Die Logiken von Kapitalismus und Demokratie erweisen sich heute als so verschieden, dass zwischen beiden Spannungen auftreten müssen. Dies betrifft vor allem ihre unterschiedliche Haltung gegenüber Gleichheit und Ungleichheit. Das für den Kapitalismus konstitutive und produktive Maß an Ungleichheit ist mit dem demokratischen Prinzip gleicher politischer Rechte und Partizipationschancen nur schwer vereinbar. Dies heißt nicht, dass "der" Kapitalismus unvereinbar mit "der" Demokratie wäre. Die autonomieschonende Koexistenz von Kapitalismus und Demokratie gelingt aber dann am ehesten, wenn ein Verhältnis von gegenseitiger Machtbalance, Begrenzung und Verflechtung hergestellt werden kann. Vor allem die Entwicklungen im dritten Viertel des 20. Jahrhunderts bezeugen dies, als in großen Teilen der Welt Varianten eines "organisierten", auf Massenkonsum basierenden und sozialstaatlich eingebetteten Kapitalismus und demokratische Politiksysteme nicht nur koexistierten, sondern sich auch gegenseitig stützten.

Kapitalistisches Wirtschaften bringt am ehesten Wachstum und Wohlstandsmehrung hervor, die die Legitimität demokratischer Gemeinwesen in der Wahrnehmung der Bürger stärken. Vor allem in seiner Verbindung mit Industrialisierung setzte der Kapitalismus Forderungen, Proteste und Emanzipationsbewegungen in Gang, die zu Demokratisierungsschüben führten, auch wenn Akteure des Kapitalismus dies nicht beabsichtigten. Die Geschichte des Kapitalismus und der Demokratie hat dies über weite Strecken immer wieder gezeigt.

Doch der beschleunigte Aufstieg eines zunehmend globalisierten und deregulierten Finanzkapitalismus hat die soziale und politische Einbettung des Kapitalismus teils gesprengt, teils reduziert und durchweg erschwert. Die Spannungen zwischen Kapitalismus und Demokratie nahmen zu. Auch hat sich die Stoßrichtung der Protestbewegungen von der ökonomischen auf die kulturelle Sphäre verschoben. Dies hat ihre Berechtigung. Aber im Windschatten dieser Veränderung konnten sich ökonomische Ungleichheiten wieder stärker ausbreiten, fast unbehelligt von sozialen und politischen Protesten. All dies stellt die Demokratie vor Herausforderungen, die sie noch längst nicht bewältigt hat.


Jürgen Kocka war Professor für die Geschichte der industriellen Welt an der Freien Universität Berlin und von 2001 bis 2007 Präsident des WZB. Er ist Permanent Fellow des Kollegs Arbeit und Lebenslauf in globalgeschichtlicher Perspektive an der Humboldt- Universität zu Berlin. Zurzeit forscht er vor allem über die globale Geschichte des Kapitalismus.
juergen.kocka@wzb.eu

Wolfgang Merkel ist Direktor der Abteilung Demokratie und Demokratisierung. Er forscht über Demokratie, Demokratisierung und Diktatur sowie über Fragen der sozialen Gerechtigkeit. Er ist Herausgeber des im Sommer erscheinenden Bandes "Ist die Krise der Demokratie eine Erfindung?", zu dem im Wesentlichen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen seiner Abteilung beigetragen haben. Dieser Essay ist eine stark gekürzte Fassung eines gemeinsam von Jürgen Kocka und Wolfgang Merkel verfassten Kapitels in dem Band.
wolfgang.merkel@wzb.eu

LITERATUR

Kocka, Jürgen: Geschichte des Kapitalismus. München: C.H. Beck Verlag 2013.

Merkel, Wolfgang et al.: Ist die Krise der Demokratie eine Erfindung? Wiesbaden: Springer VS-Verlag 2014 (im Erscheinen).

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 144, Juni 2014, Seite 41-44
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. September 2014