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DISKURS/115: Die Urbanisierung der Welt (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2016

Die Urbanisierung der Welt

Von Johano Strasser


Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt mittlerweile in Städten, in Nordamerika sind es 79, in Lateinamerika inklusive Karibik 78, in Europa 71, in Australien und Ozeanien 66, in Asien 45 und in Afrika 39 %. Die Gründe für den anhaltenden Zustrom vom Land in die Stadt sind auch heute im Kern noch dieselben wie in den vergangenen fünf, sechs Jahrhunderten: Was die Menschen bei ihrer Wanderung vom Land in die Stadt antreibt, ist oft blanke Not und Verzweiflung und die vage Hoffnung auf ein materiell gesichertes Leben, wenn nicht für sie selbst, so doch für ihre Kinder und Enkel. Aber nicht selten sind mit diesem Schritt auch Emanzipationshoffnungen verknüpft, wie wir sie aus vergleichbaren Wanderungsbewegungen in Europa seit dem späten Mittelalter kennen. Stadtluft kann auch heute noch frei machen, frei von traditionellen Bindungen und enger sozialer Kontrolle, frei für Eigeninitiative und individuelle Lebensformen.

Wenn stimmt, was der kanadische Journalist und Buchautor Doug Saunders in seinem Buch Die neue Völkerwanderung voraussagt, nämlich dass wir gegen Ende des 21. Jahrhunderts eine ganz und gar urbane Spezies sein werden, wird die Frage nach der Ausgestaltung der Urbanität zu einer Schlüsselfrage der globalen Zivilisation. Dass die Hoffnungen, die mit der Wanderung in die Stadt verbunden werden, sich oft nicht erfüllen, kann vor allem in den wachsenden Slums der asiatischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Megacities gesehen werden. Dass der Gang in die Stadt, trotz allem, auch heute noch für nicht wenige eine - zumeist mit erheblichen Entbehrungen erarbeitete - Erfolgsgeschichte darstellt, lässt sich im UN-Bericht Die Lage der Weltstädte 2010/2011 nachlesen. Immerhin ist es, wenn man dem Bericht glauben darf, 227 Millionen Menschen in den letzten zehn Jahren gelungen, ihre äußerst schwierigen Lebensbedingungen in den prekären Stadtgebieten zu verbessern, nicht nur in Europa und Nordamerika, sondern auch in Asien, Afrika und Lateinamerika.

Die Stadt ist aber nicht nur die Projektionsfläche von Aufstiegs- und Emanzipationshoffnungen, sie ist nicht nur Brutstätte des Neuen, des Unerhörten und Niedagewesenen, sie ist auch der Ort, an dem die Geschichte in der Mischung der Kulturen, in der Vielfalt der Trachten und Speisen, in der Kunst und der Literatur, im Baulichen und in den Museen für jedermann sichtbar aufbewahrt wird. Während die Landbevölkerung üblicherweise in den Kreislauf des Jahres eingebettet lebt, sind die Städter im pointierten Sinn geschichtliche Wesen. Sie haben den Wandel am eigenen Leib erlebt und rechnen damit, dass sie weitere, vielleicht gar dramatische, Veränderungen erleben werden. Sie spüren aber auch, und sie spüren es immer deutlicher, je länger sie in der Stadt leben, dass das Vergangene, die eigene Vergangenheit und die der anderen, weiterlebt und das Neue einfärbt, sich mit ihm vermischt. Die Stadt ist auch der Ort der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, wo das andere nicht nur denkbar, sondern immer schon vorhanden ist, manchmal in schriller Eindeutigkeit, manchmal versteckt, untergründig, halb zurückgenommen in ironischer Distanzierung. Aber es ist da, liegt sozusagen in Bereitschaft als ein kulturelles Kapital, das jederzeit abgerufen werden kann.

Die Stadt ist der Ort, an dem die Widersprüche der Moderne fast unvermeidlich zur existenziellen Erfahrung werden, wo sie, zum Äußersten getrieben, zur Stellungnahme zwingen und so der konfliktreichen politischen Bearbeitung fähig werden. In der Stadt wird sich entscheiden, ob die Menschheit in der Lage ist, ihre Wirtschafts- und Lebensweise so zu verändern, dass sie auf Dauer auf der Erde überleben kann. Insofern hat Christian Schwägerl recht, wenn er in seinem Buch Menschenzeit schreibt: "Das Umweltbewusstsein der Zukunft muss also das Umweltbewusstsein des Städters sein." Im Zeitalter des Anthropozäns, in dem der Unterschied von Natur und Kultur allmählich aufgehoben wird, hat die schlichte Rückbesinnung auf die ländliche Naturgebundenheit als Weg der Heilung aller Modernitätskrankheiten ausgedient. Umso wichtiger ist es nun, eine neue, menschen- und lebensgerechte Kultur der Urbanität zu entwickeln.

Sehnsuchtsort Stadt

Die Stadt ist nicht nur der Ort, an dem sich alle Probleme unserer Wirtschaftsordnung und Lebensweise wie in einem Brennspiegel konzentrieren, sondern auch der Ort, an dem alle Sehnsüchte und Meinungen, alle Träume und Temperamente, alle theoretischen und ästhetischen Entwürfe aufeinander treffen, sich gegenseitig sowohl radikalisieren als auch relativieren und so den Boden für neue Denk- und Lebensmöglichkeiten bereiten. Die Stadt, ganz besonders die moderne Ankunftsstadt, ist aber nicht der große Gleichmacher, den Generationen von kulturpessimistischen Kommentatoren darin zu sehen meinten. Sie ist auch nicht die "Hure Babylon", die ein gedemütigtes Hirtenvolk, das sich in seiner Not an die Vorstellung von seiner Auserwähltheit klammerte, in ihr erblickte. Sie zwingt zusammen, was nach traditionell landläufiger (ländlicher!) Auffassung nicht zusammen gehört, sie ist seit je und heute erst recht ein Gebilde, das die Menschen dazu anhält, den jeweils anderen als anderen und nicht als bedrohlich Fremden zu sehen. Sie ist ein Trainingscamp für Menschen, die als Verschiedene lernen müssen miteinander zu leben, ein Modell dessen, was im Großen als notwendige Weltordnung sich herausbilden muss, wenn die Menschheit überleben soll: nicht als Weltstaat, sondern als eine kosmopolitische Ordnung, in der die Menschen nach einem Wort von Theodor W. Adorno "ohne Angst (ich füge hinzu: und ohne Entwürdigung) verschieden sein können".

Vielfach leben in der Stadt unter den Neuankömmlingen vom Lande die Sitten und Gebräuche und die Gesellungsformen der ländlichen Kultur in ethnisch und kulturell relativ homogenen Stadtbezirken noch fort. Aber spätestens in der zweiten oder dritten Generation werden diese überlagert durch eine urbane Kultur der Individualität, der Differenz und der akzeptierten Ambivalenz. Das heißt aber nicht, dass in der urbanisierten Welt alle Menschen auf Dauer zu jenen kosmopolitischen Individuen werden, die der Neoliberalismus zum Ideal erhoben hat. Für die allermeisten ist ein Leben ohne relativ stabile Bindungen, ohne Gemeinschaft, ohne vertrauensbasierte Weisen des Umgangs miteinander nicht lebbar. Auch darum ist die Durchökonomisierung der Gesellschaft, ist die Reduzierung menschlicher Verhältnisse auf Marktbeziehungen eine menschliche und gesellschaftliche Katastrophe. Sie führt, wie sich schon heute zeigt, bei vielen Menschen zu einem Gefühl diffuser Bedrohung, zu erratischer Gewalt, zu Regression und Flucht in neurotisierende Wagenburgen.

Die Urbanisierung der Welt muss im Übrigen nicht notwendig dazu führen, dass die großen Städte noch größer und damit monströser und die ländlichen Räume zunehmend menschenleerer werden. Schon heute lässt sich beobachten, dass die Wanderungsbewegung vom Land in die Stadt begleitet wird von beachtlichen Transferzahlungen in umgekehrter Richtung. In Tadschikistan zum Beispiel machen die Rücküberweisungen von Ausgewanderten heute mehr als die Hälfte des Inlandsprodukts aus, in Kirgisien 31, in Nepal und in der Republik Moldau je 25 %. Für Bangladesch wird eine ähnliche Größenordnung genannt. Die Transferzahlungen, die aus den Städten in die ländlichen Räume fließen, könnten auf mittlere Sicht zusammen mit den neuen digitalen Möglichkeiten der Kommunikation und Kollaboration die Situation auf dem Land tatsächlich so stark verändern, dass vielleicht auch die Wanderungsbewegung vom Land in die Stadt gestoppt oder doch abgeschwächt würde. Hier und da führt die Verbesserung der Lebensbedingungen auf dem Land heute schon dazu, dass Menschen, die in jungen Jahren in die Stadt abgewandert sind, irgendwann wieder in die ländliche Heimat zurückziehen und dort mit ihren neuen Erfahrungen und ihrem erworbenem Spezialwissen die Entwicklung vorantreiben.

Hier und da können wir schon heute eine spezifische, durchaus eigenständige Urbanisierung der ländlichen Räume beobachten. Besonders dort, wo die Menschen in ländlichen Regionen ihr geringes finanzielles und ihr großes soziales Kapital in Kooperativen und Genossenschaften zusammenfügen, haben sie heute die Möglichkeit, sowohl ihre Energieversorgung als auch die Produktion und Verteilung einer großen Palette von Gütern in eigener Regie zu organisieren und so von den Zulieferungen aus den städtischen Zentren unabhängiger zu werden. Gleichzeitig ergeben sich unter diesen Bedingungen neue Möglichkeiten der Bildung und Ausbildung, auch der Ausbildung eines modernen kosmopolitischen Lebensverständnisses. Zurzeit sind mehr als eine Milliarde Menschen weltweit in Genossenschaften organisiert, davon allein in Indien und China 400 Millionen. Wenn sich dieser Trend fortsetzt, könnte er ganz wesentlich zur Verbesserung der Lebenssituation der Menschen in den ländlichen Räumen beitragen. Diese spezifische Urbanisierung der ländlichen Räume, die im Ansatz heute an vielen Stellen der Erde zu beobachten ist, kann für die Entwicklung der Urbanität insgesamt bedeutende Impulse liefern. Zum Beispiel könnte sie dem Bedürfnis der Stadtbewohner nach Vergemeinschaftung einen Weg weisen, Beheimatung und Weltoffenheit, Mobilität und Bindung miteinander zu versöhnen. Dazu wäre es aber erforderlich, dass Kommunalpolitiker ihre Gemeinde, ihre Stadt nicht als eine große Maschine, sondern als einen sozialen Organismus betrachten. Ein solcher sozialer Organismus funktioniert am besten, wenn eine rigide Trennung einzelner Lebens- und Arbeitsfunktionen vermieden und die Separierung von Alt und Jung, von ethnisch-kulturellen und Lebensstilgruppen verhindert wird.

Wer die Entwicklung städtischer Räume weitgehend der Marktdynamik überlässt, muss sich nicht wundern, wenn gated communities für die Reichen und gettoähnliche verwahrloste Quartiere für die Armen entstehen. Wer in der Baupolitik die Gentrifizierungsmodelle der Investoren ungeprüft übernimmt, darf sich nicht beklagen, wenn die Mieten ins Unermessliche steigen und die Normalbevölkerung aus der Stadt vertrieben wird. Wer auf der grünen Wiese Bauland für riesige Supermärkte und Malls ausweist, erzeugt nicht nur zusätzlichen Autoverkehr, sondern trägt auch zur Verödung der Innenstädte bei. Wer durch veraltete Vorschriften die Ansiedlung kleiner emissionsarmer Betriebe in Wohngebieten behindert und Handwerksbetriebe und moderne Dienstleister in Gewerbeparks am Stadtrand verbannt, ebenso.

Kein Zweifel, im Zeitalter der Globalisierung ist lokale, regionale, ja, auch nationale Autarkie nicht mehr sinnvoll denkbar. Dies bedeutet aber nicht, dass wir bei allem und jedem das Heil in der Zentralisierung suchen sollten. Hoch zentralisierte Strukturen sind wegen der großen Menge zu verarbeitender Informationen besonders fehleranfällig, sie neigen dazu, von Ort zu Ort, von Gruppe zu Gruppe differierende Bedürfnisse an der Basis zu vernachlässigen oder zu verfehlen, sie haben erhöhte Transportkosten und Transportverluste zur Folge, verursachen, wenn etwas schief geht, wesentlich größere Schäden als dezentrale Strukturen und erfordern entsprechend einen extrem hohen Sicherheitsaufwand. Vor allem aber erschweren sie die demokratische Partizipation der betroffenen Menschen, die in der Kommunalpolitik ihr wichtigstes Einübungsfeld hat. Aus allen diesen Gründen ist es klug, wo immer dies von der Sache her möglich ist, dezentralen Strukturen, vor allem in der Versorgung und Verwaltung der Bevölkerung, den Vorzug vor zentralen zu geben.

Das Gesagte sollte nicht als eine romantische Verklärung des small is beautiful verstanden werden. In der modernen globalisierten Welt lassen sich keineswegs alle Aufgaben in kleinen Einheiten und dezentralen Strukturen effizient und zum Wohle der Menschen erledigen. Dies gilt zum Beispiel für viele Aspekte von Bildung und Wissenschaft, für Rechtsprechung und Rechtsdurchsetzung, für die Verkehrsinfrastruktur, für die Organisation einer demokratischen Öffentlichkeit, für die Koordinierung und Abstimmung der dezentralen Aktivitäten: ganz allgemein für die Garantie von gleichen Rechten und gleicher Freiheit für die Menschen. Die urbane Welt der Zukunft wird also notwendig subsidiär zu organisieren sein.


Johano Strasser ist Politologe, Publizist und Schriftsteller und war von 2002 bis 2013 Präsident des PEN-Zentrums Deutschland. Zuletzt bei J.H.W Dietz Nachf. erschienen: Das Drama des Fortschritts.
johano.strasser@t-online.de

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2016, S. 47 - 51
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von
Kurt Beck, Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas
Meyer, Bascha Mika, Angelica Schwall-Düren und Wolfgang Thierse
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Die NG/FH erscheint zehnmal im Jahr (Hefte 1+2 und 7+8 als Doppelheft)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. September 2016

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