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DISKURS/122: Das demokratische Dilemma (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 154/Dezember 2016
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Das demokratische Dilemma

Würde ein gewähltes Weltparlament die kosmopolitische Idee fördern?

von Pieter de Wilde, Wiebke Marie Junk und Tabea Palmtag


Kurz gefasst: Die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments, mit seinen direkt gewählten Abgeordneten aus dem gesamten politischen Spektrum, führt dazu, dass dort globalisierungskritische Stellungnahmen stärker vertreten sind als in der UN-Vollversammlung. Diese Tatsache lässt die Annahme zu, dass in einem demokratisch gewählten Welt-Parlament kommunitaristische Stimmen stärker vertreten wären als heute in den internationalen Organisationen, in denen die kosmopolitisch eingestellten Eliten den Ton angeben.


Das Ideal eines demokratisch gewählten Weltparlaments wird von Intellektuellen und zivilgesellschaftlichen Organisationen seit Langem als Mittel zur Stärkung von Partizipation und Legitimation in der Global Governance propagiert. Damit verbindet sich die Hoffnung, dass eine genuin globale parlamentarische Versammlung eine Politik verfolgen könnte, die den einzelnen Menschen und das globale Gemeinwohl zum letztgültigen Maßstab moralischer Erwägungen macht; Weltpolitik könnte stärker kosmopolitisch geprägt und demokratisch sein.

Doch nationale Gegenbewegungen zur Globalisierung und Unzufriedenheit über die Zuwandererströme oder internationale Handelsverträge wie TTIP und ACTA - oder wie im Fall Großbritanniens über die EU-Mitgliedschaft - nähren den Verdacht, dass eine Demokratisierung der internationalen Institutionen in Wirklichkeit zu einer Weltpolitik führen könnte, die weniger integrierend, sondern eher polarisierend wirken könnte. Viele Bürgerinnen und Bürger, so scheint es, wollen ja nicht mehr Offenheit und grenzüberschreitenden Austausch, sondern weniger. Würde also die Einrichtung eines globalen demokratischen Parlaments mit erheblichen Entscheidungsbefugnissen tatsächlich die kosmopolitisch ausgerichtete Demokratie stärken? Als Politikwissenschaftler können wir versuchen, diesen großen Fragen, Hoffnungen und Ängsten mit empirischen Daten zu begegnen. Bisher existiert noch kein demokratisch gewähltes Weltparlament. Wir können aber aus der Analyse bestehender Institutionen ableiten, welches demokratische Potenzial ein Weltparlament hätte.

In der UN-Generalversammlung und dem Europäischen Parlament sind parlamentarische Beratungen auf transnationaler Ebene bereits bis zu einem gewissen Grad institutionalisiert. Eine Analyse dieser bestehenden Institutionen und der darin geäußerten politischen Forderungen kann daher als Maßstab für eine Einschätzung dienen, wie sich Ideen und Konflikte zu wichtigen weltpolitischen Themen auf transnationaler parlamentarischer Ebene entfalten. Wir haben Plenardebatten in diesen beiden Institutionen daraufhin untersucht, wie sich der Widerstand gegen eine stärkere Vergemeinschaftung in zentralen Politikfeldern gestaltet: Klimawandel, Menschenrechte, Migration, Handel und europäische Integration.

In unserer Analyse beziehen wir uns auf die Forschung zu großen gesellschaftspolitischen Konfliktlinien (cleavages) - etwa zwischen Arbeit und Kapital - und zeigen, dass sich eine wachsende Kluft zwischen Befürwortern (Kosmopoliten) und Gegnern (Kommunitaristen) der Globalisierung herausbildet. Diese Konfliktlinie scheint über das klassische Globalisierungsthema Handel hinauszugehen und die Parlamentarier auch zu anderen Themen wie Migration, Klimawandel und regionale Integration in Integrationsgegner und -befürworter zu spalten. Wir stellen die Positionen der Befürworter zu diesen Themen dar, um Positionierungs- und Konfliktmuster aufzuzeigen und das Potenzial einer neuen Konfliktlinie einzuschätzen, die sich in diesen Versammlungen zwischen Gewinnern und Verlierern der Globalisierung entwickelt.

Zu diesem Zweck untersuchten wir 2.038 politische Forderungen, die in den beiden Versammlungen zwischen 2004 und 2011 zu den genannten Themen vorgetragen wurden. In diesem Zeitraum wurden in den Plenardebatten beider Gremien viele zentrale Globalisierungsfragen diskutiert. Zum Beispiel: Sollen wir die Einhaltung der Menschenrechte überall auf der Welt durchsetzen und uns auch selbst an diese universellen Werte halten? Sollen wir den Klimawandel als internationale Gemeinschaft gemeinsam bekämpfen und globale Institutionen einrichten, um gemeinsame Regelungen durchzusetzen? Sollen wir unsere Grenzen für Zuwanderer aus dem Ausland öffnen oder versuchen, die Zuwanderung zu begrenzen? Sollen wir Handelsbeschränkungen aufheben, um den Freihandel zu fördern oder lieber unsere eigene Volkswirtschaft und unsere eigenen Unternehmen vor Konkurrenz schützen? Sollen wir noch mehr nationale Souveränität an EU-Institutionen abgeben?

Argumente, die sich im Hinblick auf diese Themen für eine Öffnung, für eine grenzüberschreitende Freizügigkeit von Menschen oder Waren oder auf andere Weise für eine Integration des Systems hin zu einer größeren internationalen Gemeinschaft aussprechen, wurden als +1 kodiert. Argumente für die Wiedereinführung von Grenzkontrollen oder für den Schutz der nationalen oder europäischen Kultur vor äußeren Einflüssen et cetera wurden als -1 kodiert. Somit reicht die mittlere Position der Debattenbeiträge zu mehreren Themen, die sich mit Globalisierung befassen, in diesen beiden Versammlungen theoretisch von +1 (sehr kosmopolitisch, für offene Grenzen und Integration) bis -1 (sehr kommunitaristisch, für geschlossene Grenzen und Abschottung).

Die Grafik zeigt deutlich, dass die Debatten zu all diesen Themen vorwiegend kosmopolitisch geprägt sind, denn der Mittelwert ist positiv und reicht bis an den Extremwert +1 heran. Debatten zum Thema Menschenrechte haben in beiden Versammlungen die höchsten kosmopolitischen Werte. Das heißt, dass sich alle Delegierten am Rednerpult zumindest rhetorisch zur Bedeutung der Menschenrechte und ihrer weltweiten Einhaltung bekennen. Die Debatten zu anderen Themen wie Migration und Handel verlaufen kontroverser: Hier liegt der Mittelwert näher bei 0.

Insgesamt sind zwei klare Muster zu erkennen. Zum einen wird die Debatte in beiden Versammlungen von kosmopolitischen Stimmen dominiert. Mit Ausnahme der Debatte um den Handel im Europäischen Parlament ist der allgemeine Tenor stark kosmopolitisch, das heißt für offene Grenzen. Zum anderen ist die Debatte im Europäischen Parlament insgesamt weniger kosmopolitisch als die Debatte in der UN-Generalversammlung. Der deutlichste Unterschied findet sich beim Thema Handel, aber auch bei den Themen Migration und Menschenrechte sind im Allgemeinen die Positionen im Europäischen Parlament weniger kosmopolitisch als in der UN-Generalversammlung.


Tabelle: © WZB Mitteilungen

Tabelle - © WZB Mitteilungen

Oft wird das Europäische Parlament in der Literatur als Befürworter des Kosmopolitismus (vanguard of cosmopolitanism) bezeichnet. Unsere Ergebnisse werfen zu dieser Bezeichnung aber Fragen auf, jedenfalls bei einem Vergleich mit der UN-Generalversammlung. Welche möglichen Erklärungen gibt es für die kritischere Haltung zu offenen Grenzen im Europäischen Parlament? Um die Unterschiede zwischen diesen beiden Versammlungen zu verstehen, sollte man die institutionellen Differenzen genauer betrachten. Das Europaparlament ist direkt von Bürgern gewählt, während in der UN-Generalversammlung nur Regierungsvertreter sitzen, die nicht gewählt worden sind. Außerdem sind Mitgliedsstaaten im Europaparlament durch mehrere Abgeordnete vertreten, die im nationalen Wahlkreis proportional gewählt worden sind, wohingegen in der UN-Generalversammlung nur ein Vertreter pro Mitgliedsstaat sitzt. Können diese institutionellen Unterschiede, die das Europaparlament demokratischer und repräsentativer macht als die UN-Generalversammlung, verantwortlich sein für die Unterschiede in Globalisierungsdebatten?

Um diesen Aspekt empirisch zu untersuchen, schauen wir uns die europäischen Parlamentsdebatten genauer an und vergleichen die Positionen von direkt gewählten Mitgliedern des Europäischen Parlaments mit denen von Kommissionsmitgliedern, die ihre Ansichten im Rahmen dieser Debatten dargelegt haben. Es zeigt sich, dass im Schnitt die Positionen der Kommissionsmitglieder deutlich kosmopolitischer sind als die der Parlamentarier. Dieser Befund stützt die These, dass die Direktwahl von Abgeordneten zu einer Stärkung von globalisierungsskeptischen Stimmen in internationalen Versammlungen führt.

Wir untersuchen außerdem, ob dies durch die Proportionalität bei der Verteilung der Sitze im Europäischen Parlament bedingt sein könnte, durch die die Parteien an den Rändern des politischen Spektrums stärker repräsentiert sind als in der UN-Generalversammlung mit lauter Regierungsvertretern. Tatsächlich zeigt sich, dass kommunitaristische Stimmen vor allem durch rechtspopulistische und rechtsradikale Parteien ins Parlament gelangen, während andere Fraktionen im Durchschnitt die Integration befürworten. Interessanterweise gilt dies nicht für das Thema Handel, bei dem sich in allen Fraktionen (wenngleich in unterschiedlichem Ausmaß) kommunitaristische Positionen finden, die den europäischen Markt vor externem Wettbewerbsdruck schützen möchten.

Aus dieser vorläufigen Darstellung folgt nicht, dass ein demokratisch gewähltes Weltparlament notwendigerweise eine weniger kosmopolitische Politik vertreten würde. Und doch stützen die Befunde den weit verbreiteten Verdacht, dass die europäische und globale Integration Elitenprojekte sind. Wer die Stimme der einfachen Bürger in der Weltpolitik durch ein direkt gewähltes Weltparlament stärken möchte, muss damit rechnen, vermehrt Abgeordnete mit kommunitaristischen Ansichten vorzufinden. Selbst wenn es sich dabei gar nicht um deren eigene Ansichten handelt, wird die Aussicht einer möglichen Abwahl durch Wähler mit kommunitaristischen Ansichten wahrscheinlich dazu führen, dass diese Eliten eine weniger kosmopolitische Politik unterstützen. Letztlich müssen sich die Befürworter einer kosmopolitischen Demokratie entscheiden: entweder die Weltpolitik zu stärken und den Eliten Freiheit zu geben, eine kosmopolitische Politik zu entwickeln oder die Weltpolitik zu demokratisieren und in Kauf zu nehmen, dass dies eine eher kommunitaristische Politik begünstigt.

Die jüngsten Erfahrungen aus einzelnen Ländern konfrontieren uns mit der Tatsache, dass der Widerstand gegen die transnationale Integration stark ist und seinen Ausdruck immer häufiger in heftigen Gegenreaktionen findet. Der Brexit ist ein typisches Beispiel. Wir müssen uns mit der Frage auseinandersetzen, wie wir mit der Ablehnung von Globalisierung und internationalen Institutionen durch weite Teile der Bevölkerung umgehen sollen. Ob und wie desillusionierte Bürgerinnen und Bürger an der nationalen und globalen Politikgestaltung beteiligt werden können, ist eine Frage, die nicht ignoriert werden sollte.


Pieter de Wilde ist Associate Professor am Department for Historical Studies an der Norwegian University of Science and Technology in Trondheim. Zuvor war er am WZB wissenschaftlicher Mitarbeiter im Brückenprojekt Die Politische Soziologie des Kosmopolitismus und Kommunitarismus.
pieter.dewilde@ntnu.no

Tabea Palmtag ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Zürich. Zuvor war sie studentische Hilfskraft im WZB-Brückenprojekt Die Politische Soziologie des Kosmopolitismus und Kommunitarismus.
palmtag@ipz.uzh.ch

Wiebke Marie Junk arbeitet an ihrer Dissertation am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Kopenhagen. Zuvor war sie studentische Hilfskraft im WZB-Brückenprojekt Die Politische Soziologie des Kosmopolitismus und Kommunitarismus.
wiebke.junk@ifs.ku.dk


Literatur

De Wilde, Pieter / Junk, Wiebke M. / Palmtag, Tabea: "Accountability and Opposition to Globalization in International Assemblies". In: European Journal of International Relations, 2016, Vol. 22, No. 4, pp. 823-846.

De Wilde, Pieter / Koopmans, Ruud / Zürn, Michael: The Political Sociology of Cosmopolitanism and Communitarianism: Representative Claims Analysis. WZB Discussion Paper, SP IV 2014-102. WZB Berlin Social Science Center 2014. Online:
http://bibliothek. wzb.eu/pdf/2014/iv14-102.pdf
(Stand 23.11.2016).

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 154, Dezember 2016, Seite 28-30
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
Tel.: 030/25 491-0, Fax: 030/25 49 16 84
Internet: http://www.wzb.eu
 
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Der Bezug ist kostenlos.


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Februar 2017

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