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DISKURS/135: Die Linke, die Kosmopoliten und die Kommunitaristen (spw)


spw - Ausgabe 6/2019 - Heft 229
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Die Linke, die Kosmopoliten und die Kommunitaristen
Über einen Gegensatz, der keiner sein muss

von Sönke Hollenberg und Christian Krell(1)


1. Plötzlich gehen zwei Gespenster um: Kosmopoliten und Kommunitaristen.

Ein neuer Konflikt scheint die Gesellschaften westlicher Industriestaaten zu spalten. Die Differenz zwischen Kosmopoliten und Kommunitaristen. So oder so ähnlich klingen vermehrt die Schlagzeilen der Analysen gesellschaftlicher Unterschiede in den westlichen Demokratien. Mit dieser neuen Konfliktlinie wird sich dabei den Phänomenen der Spaltung der Gesellschaft, dem Wandel des Parteiensystems und dem drohenden Zerfall der liberalen Demokratie genähert. Auf den Endpolen der neuen cleavage sehen Politikwissenschaftler wie Wolfgang Merkel dabei zum einen die Kosmopoliten der Gesellschaft, die besser Gebildeten, die von der Globalisierung profitieren und mit hohem kulturellem Kapital ausgestattet sind. Dementsprechend ist Individualisierung für sie eher gelebte Realität und votieren sie stark für Menschenrechte und offene Grenzen. Demgegenüber stehen die Kommunitaristen, mit tendenziell niedrigerer Bildung. Sie gelten als weniger mobil und hätten ein höheres Interesse an nationalstaatlichen Grenzen.(2) Ferner präferieren sie lokale Gemeinschaften und Identitäten.

Auch in der politischen Öffentlichkeit wird die Spaltung der Gesellschaft in die beiden Lager vermehrt thematisiert. Auf die Seite der Kommunitaristen schlägt sich dabei, wie schon in der Habermas-Streeck-Debatte, erneut Wolfgang Streeck und postuliert in der Zeit: "All political is local?"(3), was er konsequenterweise mit einem Plädoyer für einen lokalen Patriotismus kombiniert. Dies nicht zuletzt, weil die "Weltgesellschaft keine Steuern erheben" könne.(4) Dabei werden die Argumente der Kommunitaristen neben den Fragen von Grenzen häufig auch mit einer Kritik an zu hoher Elitenorientierung linker Parteien verbunden, die die Klassenfrage und damit die Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen des "kleinen Mannes" vergessen und sich stattdessen nur noch auf Themen wie Gender, Menschenrechte, Ökologie und den internationalen Krisen von Flucht und Migration und mithin sogenannte Identitätspolitik fokussiert hätten. Insbesondere ein Überschuss an vermeintlicher Moral linker Kosmopoliten der oft mit neoliberalen Ansichten einhergehe, wird dabei von kommunitaristisch orientierten Akteuren wie dem Dramaturg und "Aufstehen"-Co-Initiator Bernd Stegemann(5) oder dem Politikwissenschaftler Nils Heisterhagen(6) beklagt. Auch der Kampfbegriff der Hypermoral des konservativen Philosophen Arnold Gehlen wird in diesem Zusammenhang verwendet und den Kosmopoliten vorgeworfen. Die amerikanische Politikwissenschaftlerin Nancy Fraser sieht in der Kombination von Progressivität in gesellschaftlichen Fragen (Sexualität, Migration, Feminismus) und der Fokussierung auf Identitätspolitik bei gleichzeitiger Nicht-Beachtung von sozialen Fragen einen "progressiven Neoliberalismus"(7) am Werk, für den beispielhaft Hillary Clinton im US-amerikanischen Wahlkampf gestanden habe.

Demgegenüber betonen kosmopolitisch orientierte Denker wie Jürgen Habermas die europäische Verantwortung Deutschlands und beklagen den nationalstaatlichen Rückzug, der von Kommunitaristen wie Streeck gefordert wird. Stattdessen pocht Habermas auf europäische Lösungen in Fragen von Migration und sozialem Ausgleich und fordert nicht zuletzt echte europäische Solidarität von Deutschland ein.(8) Gegen den Rückzug in die nationale Wagenburg kämpft auch der Journalist und Autor Georg Diez. Er hält die neuerlichen Diskussionen um die Frage der Heimat für den falschen Weg, plädiert stattdessen für Identitätsangebote jenseits der Nation(9) und fordert eine Einwanderungspartei.(10)

2. Und die politische Linke?

Ein unüberbrückbarer Konflikt zwischen beiden Seiten also? Und was für Folgen hat das für linke Parteien? Die Frage der Orientierung in diesen Themenkomplexen spaltet die Parteien links der Mitte dabei tatsächlich schon. So gab es in der Linkspartei einen wochenlangen und teils öffentlich ausgefochtenen harten Streit zwischen dem Lager um Katja Kipping und der Gruppe um Sahra Wagenknecht über die Positionierung in der Frage der offenen Grenzen und der generellen Strategie. Während Katja Kipping dabei für eine Politik der offenen Grenzen wirbt und auf die Erfolge neuer Mitglieder und Wählerschichten im urbanen, studentischen Milieu verweist, sieht Wagenknecht offene Grenzen als eine Forderung des Neoliberalismus und versucht mit der Gründung ihrer Sammlungsbewegung "Aufstehen" Enttäuschte von der AfD zurückzugewinnen. Im Verbund mit Oskar Lafontaine, der schon 1990 diskutiert hat, ob man das Recht auf Asyl nicht stark einschränken müsse und seitdem nicht müde wird, die Vorzüge nationaler Abschottung zu preisen, ist wohl auch die sogenannte Sammlungsbewegung in der hier verwendeten Unterscheidung im Lager der Kommunitaristen zu verorten.

In der SPD wird der Richtungsstreit zwar nicht so erbittert ausgetragen, aber auch dort pocht der ehemalige Parteichef Sigmar Gabriel auf eine Kursänderung. So beklagt er im Spiegel eine zu starke Orientierung an Umweltschutzthemen oder der Ehe für alle, problematisiert eine übergriffige Postmoderne des "Anything Goes" und fordert stattdessen eine Hinwendung zu Fragen der Identität, Heimat und Leitkultur.(11) Auch die Grünen schließlich, die man vielleicht noch am ehesten in einem kosmopolitischen Lager verorten würde, sind in dieser Frage unterschiedlich aufgestellt und zumindest teilweise gespalten. Die parteiinterne Debatte um den Band "Wir können nicht allen helfen" des Grünen Oberbürgermeisters Boris Palmer(12) inklusive der Distanzierungen von Cem Özdemir und anderen verweist auf die Bandbreite selbst bei dieser Partei. Auch die neuen elektoralen Höhenflüge der Umweltpartei basieren zwar sehr stark, allerdings nicht nur auf den kosmopolitisch orientierten bürgerlichen Milieus der Großstädte. Bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen konnte die Partei auch in kleineren Gemeinden und auf dem Land große Gewinne verzeichnen. Auch die neuen Parteivorsitzenden Habeck und Baerbock versuchen gerade in neue Milieus vorzudringen und stellten ihre Sommerreise in kleine Dörfer, aber auch zu Traditionsorten deutscher Demokratiegeschichte unter das Motto "Des Glückes Unterpfand" (und damit explizit in Bezug zur Nationalhymne) und verbanden dies mit einem Plädoyer für mehr sozialen Zusammenhalt.(13)

Abseits der Grünen kann man die Unsicherheit und Unentschiedenheit linker Parteien bei den Fragen in der neuen Konfliktlinie also förmlich greifen. Dabei wächst die Angst, sich entweder final von der Arbeiterschaft und den Prekären abwenden zu müssen oder bei einem Kurswechsel neue urbane und liberale Wählergruppen zu verlieren. Was tun also? Einige Politikwissenschaftler wie Wolfgang Merkel gehen davon aus, dass sich linke Parteien tatsächlich klar auf einer Seite positionieren müssen. Insbesondere für die SPD stellt er fest, dass sie sich "von ihrem Anspruch [...], Volkspartei zu sein" verabschieden und sich stattdessen für eine Seite entscheiden müsse.(14) Die Annahme dieser Argumentationsrichtung ist also eine Unvereinbarkeit der beiden Positionen, sowohl inhaltlich, als auch strategisch. Ist das richtig? Müssen sich linke Parteien zwischen den beiden Lagern entscheiden oder führt das zu strategischen Fehlschlüssen? Ist stattdessen vielleicht eine Symbiose nötig und wenn ja, wie kann sie gelingen?

3. Kein Gegensatz! Brücken statt Gräben

Aus unserer Sicht wäre es verheerend, wenn sich die politische Linke in dieses "Entweder-Oder" hineinbegeben würde. Insbesondere für die Sozialdemokratie mit ihrem nach wie vor gegebenem Volkspartei-Charakter und -Anspruch würde diese Strategie zu ihrem Niedergang beitragen. Wir werden im Folgenden historische, empirisch-demoskopische und normative Argumente für diese These nennen.

Historisch betrachtet ist die Sache zumindest für die Sozialdemokratie klar. Sie war schon immer eine Partei, die eine weite Brücke zwischen höchst unterschiedlichen Interessen spannen musste. Egal, ob es um die Allianz zwischen Lasalleanern und Eisenachern in der Gründungsphase der Partei, um die Nato-Doppelbeschluss-Befürworter und ihre Gegner oder um die vermeintlichen Modernisierer und Traditionalisten in den 1990er Jahren ging. Aus historischer Perspektive wäre eine Entscheidung zwischen Kosmopoliten und Kommunitaristen also nicht zu begründen. Im Gegenteil: Der besondere Erfolg der SPD beruhte auf dieser anspruchsvollen Synthese und zeichnete sich nicht zuletzt auch durch die Integration der Arbeiterschaft in die bürgerliche Gesellschaft und ihrer Versöhnung mit dem Bürgertum aus.

Dass es empirisch möglich ist die Gräben zu schließen und Brücken zu bauen zwischen verschiedenen Milieus, gesellschaftlichen Gruppen und Interessen, zeigen dabei auch jüngere elektorale Beispiele. So gelang es Bernie Sanders sowohl klassische Interessen der Arbeiterschicht zu repräsentieren (nicht zuletzt durch seine Glaubwürdigkeit angesichts seines jahrzehntelangen Kampfes gegen ökonomische Ungleichheit) als auch ein hohes Ansehen in der Black Lives Matter Bewegung zu genießen. Eine zentrale Botschaft seiner Kampagne war dabei passenderweise: "Our job is not to divide. Our job is to bring people together."(15) Sanders scheiterte schließlich bekannterweise in den Vorwahlen der Demokraten an Hillary Clinton, die dann jedoch auch aufgrund ihrer geringen Ausstrahlungskraft in den Arbeiterbezirken des Rust Belts die Wahl gegen Trump verlor. Jeremy Corbyn gelang in Großbritannien Ähnliches, als er mit Labour im Wahlkampf einen großen Rückstand aufholen konnte und bei den Parlamentswahlen nur knapp den konservativen Tories unterlag. Auch ihn zeichnet die Glaubwürdigkeit der Vertretung von Klassenpolitik aus, bei gleichzeitigem Betonen der Diversität der Gesellschaft. Sicherlich, in Mehrheitswahlsystemen ist es weiterhin leichter, unterschiedliche Interessen und Identitäten unter einem Dach zu versammeln, als das in den hoch fragmentierten Parteiensystemen in Ländern mit Verhältniswahlrecht der Fall ist. Doch zeigte nicht der Hype um Martin Schulz und der fast nicht mehr für möglich gehaltene kurze demoskopische Höhenflug der SPD, dass es auch in solchen Systemen möglich ist? So strahlte Schulz anfangs sowohl in kommunitaristisch orientierte Milieus als mit seinem leidenschaftlichen Einsatz für Europa auch in die kosmopolitische Jugend aus.

Die Beispiele von Corbyn über Sanders bis hin zu Schulz verweisen zudem darauf, dass die Unterscheidung zwischen Kosmopoliten und Kommunitaristen eine idealtypische Vereinfachung ist. In real existierenden Gesellschaften und auf gegebenen Wählermärkten sind diejenigen, die sich sehr eindeutig auf die eine oder andere Position verpflichten lassen, vermutlich sehr überschaubar. Im Gegenteil scheinen die Realtypen für Argumente beider Provenienz ansprechbar: Der Thematisierung von gesellschaftlichen und kulturellen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten ebenso wie der materiellen. Empirisch wird dies auch daran sichtbar, dass Menschen zu beiden Seiten des Spektrums gleichzeitig neigen können und "eindimensionale 'Entweder-oder'-Betrachtungsweisen" daher nicht hilfreich seien, wie Jan Eichhorn schreibt.(16) Der Anteil dieser Mittegruppen liegt dabei zudem bei der SPD am höchsten.(17) Auch Thilo Scholle und Sascha Vogt verweisen zu Recht auf die Heterogenität der potenziellen Wähler_innen der SPD und die verschiedenen Erwartungen an die Partei.(18) Dabei darf eine Mitte-Orientierung dieser Art nicht mit der wirtschaftspolitischen Mitte-Strategie der Sozialdemokratie des Dritten Weges verwechselt werden. Auch dürfen Parteien dabei nicht der Gefahr der Profillosigkeit unterliegen und als "Partei ohne Eigenschaften" gelten, wie Marc Herter schreibt.(19)

Dass es jedoch nötig ist, Brücken zu bauen in Gesellschaften, deren einzelne Teile mehr und mehr auseinanderdriften, ist allerdings unbestritten und zeigt auch Andreas Reckwitz mit seiner These der Gesellschaft der Singularitäten auf. In seiner Darstellung des Wandels der Moderne von der "Logik des Allgemeinen" zur "Logik des Besonderen"(20) schildert Reckwitz die damit einhergehenden Veränderungen in der Arbeitswelt und der Lebensführung sowie die daraus entstehenden Gräben u.a. zwischen einer auf Sicherheit bedachten und industriell geprägten alten Mittelklasse und einer kulturell- und freiheitsorientierten neuen Mittelklasse der postindustriellen Wissensgesellschaften. Doch wie können die Gräben zwischen den verschiedenen Milieus überbrückt werden? Wie können gesellschaftliche Differenzierung, Pluralisierung und der kosmopolitische Blick in Einklang gebracht werden mit dem Wunsch nach Verbindendem, Gemeinschaft und Heimat? Was kann also das Verbindende in der Differenz sein?

Gewiss gibt es tatsächlich einen Mangel an Begegnung zwischen den unterschiedlichen Gruppen. Filterblasen in sozialen Netzwerken, Segregation in Großstädten, Verlust von Begegnung mit Anderen in politischen und sozialen Großorganisationen und ein Schrumpfen der öffentlichen Räume, in denen sich verschiedene Individuen als Bürger begegnen können. Stattdessen kann man eine wachsende Vereinzelung und Individualisierung beobachten, die nicht zuletzt durch die neoliberale Ideologie der reinen Orientierung am Marktindividuum die Solidarität, und damit das Band der Freundschaft zwischen den Menschen, untergräbt.(21) Die Forderung nach mehr lokaler Gemeinschaft auf Seiten der Kommunitaristen ist also verständlich. Dieser Wunsch wird nicht zuletzt verstärkt durch mangelnde Anerkennung, die ländlich lebende, nur gering qualifizierte und in sogenannten "einfachen Dienstleistungen" arbeitenden Teile der Bevölkerung heute von Seiten kosmopolitisch orientierter Städter, die in der Kultur- und/oder Wissensökonomie arbeiten, erfahren. Doch muss diese Gemeinschaft ethnisch homogen sein? Oder kann sie inklusiv gestaltet werden? Und wird Heimat heute nicht vor allem durch einen aggressiven Kapitalismus bedroht, dessen Zerstörungspotenzial sich durch Finanzspekulationen sowohl auf städtische Wohnräume als durch seine Wachstumsideologie auch auf die ländliche Natur auswirkt? Zudem zerstört der Klimawandel die Natur sowohl hier als auch in den Gebieten, aus denen er Menschen zur Flucht hierher zwingt. Gerade ein "linker Realismus"(22) muss sich diesen Tatsachen und der eigenen Verantwortung daran stellen und darf nicht auf falsche Sündenböcke abzielen.

Im Rückgriff auf Didier Eribon und seine Schilderungen der Entfremdung von linken Parteien zur Arbeiterschaft aus Rückkehr nach Reims wird oft eine Re-Thematisierung von Klassenfragen gefordert. Zurecht, denn angesichts der ungeheuren Ungleichverteilung von Wohlstand und einem existierenden Gefühl vieler prekär Gestellten von den etablierten Politikern auch links der Mitte vernachlässigt zu werden, bedarf es eines intensiven Einsatzes für mehr Umverteilung und Repräsentation der Prekären. Doch damit auch eine Reduzierung des Einsatzes für die Rechte von Frauen oder sexuellen Minderheiten zu verknüpfen, ist weder normativ sinnvoll noch strategisch klug. Auch Eribon selbst wehrt sich gegen diese Art von Vereinnahmung und betont die Gleichrangigkeit von Identitätspolitik und Klassenpolitik.(23)

Der normative Auftrag der politischen Linken ist es, angesichts dieser Herausforderungen für Verbindung und Zusammenhalt zwischen beiden Gruppen zu sorgen: Den Kosmopoliten den Einsatz auch für die lokale Gemeinschaft sowie Solidarität auch mit den Prekären in ihren eigenen Gesellschaften abzuverlangen und ihnen Anerkennung zuteilwerden zu lassen. Ferner sollten sie sich bewusst werden, dass eine rein auf Differenz bedachte Identitätspolitik auch zu Gruppendenken führen und auf der anderen Seite ebenso einen Wunsch nach konträrer Identitätspolitik auslösen kann. So wird das Konzept der Anti-Diskriminierung mittlerweile auch von Männern und/oder Weißen genutzt, die damit ihre Rechte verteidigen wollen. Doch auf der anderen Seite ist auch klar, dass es keine Rückkehr in die rein nationalstaatlich begrenzte Welt, mit zwei klar getrennten und heterosexuellen Geschlechtern geben wird, in der das Elend außerhalb dieser Grenzen keine Rolle spielt. Es gilt Kommunitaristen also auf Pluralität und internationale Solidarität zu verpflichten.

Denn wie Isolde Charim schreibt: "Es gibt keinen Weg zurück in eine nicht-plurale, in eine homogene Gesellschaft."(24) Und das ist auch gut so, möchte man mit Klaus Wowereit hinzufügen. Denn eine homogene Gesellschaft beschränkt auch immer die Freiheitsspielräume all derer, die eben nicht der Norm entsprechen.

4. Was tun?

Wir sind davon überzeugt, dass die politische Linke nicht durch die Betonung des Trennenden zwischen Kosmopoliten und Kommunitaristen wieder mehrheitsfähig werden kann, sondern im Gegenteil durch eine Strategie, die die Interessen beider Gruppen als etwas Zusammenhängendes anspricht und repräsentiert.(25) Hier sollen fünf Bausteine einer solchen Strategie angesprochen werden, die für die einzelnen Parteien der politischen Linken gelten, aber auch für das politische Lager insgesamt. Dabei begreifen wir die Grünen als Teil eines linken Lagers, wissend, dass dies innerhalb wie außerhalb der Grünen umstritten ist, aber auch anerkennend, dass absehbar fortschrittliche Mehrheiten nur in einer Dreiparteien-Konstellation möglich sind.

1. Solidarität, Anerkennung und die inklusive Gesellschaft

Ein Diskurs, der Brücken bauen und unterschiedliche Gruppen ansprechen soll, muss inklusiv sein. Abgrenzung und Ausgrenzung, sei es "Fremdarbeitern", den "Gutmenschen" oder wem auch immer gegenüber, verstärkt die Fliehkräfte einer Gesellschaft, wovon die politische Linke bisher nie profitieren konnte. Die Renaissance des Solidaritätsbegriffs, wie sie etwa von Andrea Nahles versucht wird, ist demgegenüber vielversprechender. Solidarität selbst ist eine Brücke. Nicht nur für diejenigen, die sie geben und für diejenigen, die sie benötigen, sondern auch für all die, die sich durch sie gesichert wissen. Solidarität ist dabei nicht nur normativ wünschenswert, sondern findet als Wert auch breiten gesellschaftlichen Zuspruch. So stufen etwa in der Wertestudie der Hans-Böckler-Stiftung 89 Prozent der Befragten weiterhin die Solidarität als für sie wichtigen Grundwert ein.(26) Bemerkenswerterweise gibt es auch in zahlreichen Ländern Europas eine hohe Bereitschaft zu europäischer Solidarität.(27) Nach drei Jahrzehnten neoliberaler Dominanz und dem Predigen des marktorientierten Wettbewerbs ist das außergewöhnlich und verweist auf die hohe Attraktivität solidarischer Wertmuster über die vermeintlichen Gräben zwischen Kosmopoliten und Kommunitaristen hinweg. Ferner bedarf es mehr Anerkennung für die Leistung, die viele für die Gesellschaft erbringen, ob in wichtigen aber nur schlecht bezahlten Berufen oder durch ein Ehrenamt. Ziel muss es sein, dass sich alle als Teil dieser Gesellschaft verstehen und sie gemeinsam verbessern möchten. Das könnte auch ein Baustein einer linken Identitätspolitik für alle sein.(28)

2. Gestalten!

"Take back control" - Das war der attraktive Slogan der Brexit-Befürworter. Er hat auch deshalb verfangen, weil es in breiten Teilen der Bevölkerung die Wahrnehmung gibt, dass einem die Kontrolle über das eigene Leben völlig entglitten ist. Globalisierung, Digitalisierung und Flexibilisierung - benennen für viele Menschen vor allem Prozesse, denen man nicht Herr werden kann, sondern denen man ausgesetzt ist. Linke Politik hat dieses Bild verstärkt, indem sie etwa in den rot-grünen Jahren betont hat, man könne sich den globalen Weltmärkten und ihren Dynamiken nur anpassen, sie aber nicht mehr gestalten. Diese Ohnmachtserfahrung als Gefühl, das eigene Leben und die eigene Umwelt nicht mehr beeinflussen zu können, beschreibt der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa als mangelnde Resonanz.(29) Wenn eine linke Politik attraktiv sein will, dann muss sie klar machen, dass sie gestalten kann. Dass es einen Unterschied macht, ob sie da ist oder nicht. Gerade für den Brückenschlag in den kommunitaristisch orientierten Bereich scheint es entscheidend, dass nichts - auch nicht die Zuwanderung - vermeintlich unkontrolliert geschieht, ohne dass man mitentscheiden könne. Ergebnisse der empirischen Sozialforschung weisen im Übrigen immer wieder darauf hin, dass die Akzeptanz von Entscheidungen - selbst, wenn sie nicht den eigenen Wünschen entsprechen - dann wesentlich höher ist, wenn man in das Entscheidungsverfahren eingebunden war.(30)

3. Erkennbar sein

Progressive politische Bewegungen haben - unter anderem - das Ziel, einen Unterschied zum Bestehenden zu verkörpern. Dazu gehört mit Adorno auch "das Ganze sich vorzustellen, als etwas, was völlig anders sein könnte"(31), also in hoffnungsvollen Alternativen zu denken und zu kommunizieren. Wer dabei wie die bleierne Verkörperung des Status quo wirkt, kann wahrscheinlich keine einladende Brücke zwischen Kosmopoliten und Kommunitaristen bilden. Wichtig bei dieser nach vorne gerichteten Erkennbarkeit: Gerade in Zeiten einer zunehmenden Polarisierung der Gesellschaft liegt ein maßgebliches Unterscheidungsmerkmal darin, vernunft- und kompromissorientiert zu sein und unterschiedliche Interessen auszuhandeln statt bei tumben Parolen mitzumachen. Zwischen denjenigen, die "dafür" und denjenigen, die "dagegen" schreien, gibt es jede Menge Raum für diejenigen, die nach dem "wie jetzt genau?" fragen. Besonders für die SPD mit ihrer historisch höchst produktiven Kompromissorientierung liegt darin eine Chance.

4. Make Capitalism social again

Das Progressive Zentrum hat vor kurzem unter dem Titel "Rückkehr zu den politisch Verlassenen" eine hoch aufschlussreiche Studie veröffentlicht.(32) Diejenigen, die in strukturschwachen Regionen oder Stadtteilen mit hohem rechtspopulistischem Wähleranteil leben, also den vermuteten Hochburgen der Kommunitaristen, geben als größtes Problem ihres Alltags unsichere Arbeitsbedingungen und den Wegfall von sozialer Infrastruktur an. Forderungen nach nationaler Abschottung oder der Bevorzugung von "Deutschen" gibt es, sie beruhen i.d.R. auf der Annahme, dass zwar etwas für Zuwanderer getan werde, nicht aber zur Absicherung des eigenen Lebens oder zur Verbesserung des eigenen Umfelds. Dass Vorbehalte gegenüber gleichgeschlechtlichen Ehen oder Unisex-Toiletten bestünden, wird in der Studie nicht genannt. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass ein verbindendes Narrativ zwischen Kosmopoliten und Kommunitaristen weniger auf nationale Abschottung und Geschlechterrollen von vorgestern setzen muss, sondern darauf, die Wertschöpfung des Kapitalismus besser zu verteilen, nicht zuletzt in eine attraktive öffentliche Infrastruktur. Regelmäßig fahrende Busse, schöne Schulen und funktionierende Schwimmbäder könnten also mehr zur gleichzeitigen Ansprache von Kosmopoliten und Kommunitaristen beitragen, als sogenannte Ankerzentren oder die Anprangerung des "Genderwahns".

5. National, international, egal!

Der Hinweis von Wolfgang Streek ist richtig, dass die Weltgemeinschaft keine Steuern erheben kann. Aber es gibt keinen Grund, das nicht zu ändern. Wenn der Kapitalismus besser eingehegt werden und mehr Menschen zugutekommen soll, ist die Rückkehr in eine kommunitaristisch-behagliche nationale Gemeinschaft, in der man alles regeln könne, eine Scheinalternative. Probleme wie der Klimawandel werden allein im nationalstaatlichen Rahmen nicht zu gestalten sein. Es kommt darauf an, auf den jeweils angemessenen Ebenen zu handeln. Natürlich ist die Nation "für die Mehrheit der Menschen überall auf der Welt weiterhin die primäre Bewusstseins-, Gefühls- und Kommunikationsgemeinschaft".(33) Und für die politische Linke ist es wichtig, das nicht nur anzuerkennen, sondern auch in konkrete Politik umzusetzen. Viel zu oft, wurde der Nationalstaat in den frühen 2000er Jahren als machtlos angesichts der Globalisierung dargestellt. Ihn nun aber als einzige realistische Gestaltungsebene zu begreifen ist ebenso verkürzt. Gerade sehen wir etwa am Beispiel der Digitalisierung, wie erfolgreich die europäische Ebene beim Setzen von Standards und Regeln sein kann, die einzelne Nationalstaaten nicht setzen können oder wollen. Hier zeigt sich das Potential einer brückenbildenden Strategie: Nur in einem klugen Mix zwischen nationalen - vielleicht kommunitaristischen - und internationalen - vielleicht kosmopolitischen - Ansätzen kann politisches Gestalten gelingen.

5. Fazit: Bildet Banden

Am Ende ist es simpel und doch nicht leicht: Der Marktradikalität und Vereinzelungstendenz des Kapitalismus auf der einen sowie der Regression des Rechtspopulismus auf der anderen Seite gilt es die Radikalität einer Utopie der Gesellschaft der Freien und Gleichen entgegenzuhalten. Eine Gesellschaft, in der ein Jeder und eine Jede ein freies Leben führen kann, in der der familiäre und soziale Hintergrund nicht über den Lebensweg bestimmt und kein anderer entscheidet, wen man lieben darf und wen nicht. Es geht also darum, den Kampf gegen Rassismus, Sexismus, Homophobie, Islamfeindlichkeit, Antisemitismus, oder Gewalt gegen Minderheiten mit dem Kampf für faire Löhne, Umverteilung, bezahlbares Wohnen, vernünftige Pflege, sozialen Zusammenhalt und den Erhalt einer intakten Umwelt zu verbinden. Beides ist logisch, empirisch und normativ verwoben. Der Weg zur Mehrheitsfähigkeit der politischen Linken wird nicht durch das Vertiefen von Gräben, sondern nur über das Bauen von Brücken gelingen.


Anmerkungen

(1) Sönke Hollenberg (1989) ist Referent für Integration und Teilhabe im Forum Berlin der Friedrich-Ebert-Stiftung und Lehrbeauftragter der Universität Bonn.

Dr. Christian Krell (1977) ist Professor im Bereich Staatsrecht und Politik der Hochschule des Bundes. Zuvor leitete er die Akademie für Soziale Demokratie (2007-2016) und das nordische Büro (2016-2018) der Friedrich-Ebert-Stiftung in Stockholm. Er ist Lehrbeauftragter der Universität Bonn und Mitglied der Grundwertekommission der SPD.

(2) Vgl. Wolfgang Merkel, Kosmopolitismus versus Kommunitarismus: Ein neuer Konflikt in der Demokratie, in: Harfst/Kubbe/Poguntke, Parties, Governments and Elites, 2017, Wiesbaden.

(3) Wolfgang Streeck, Ein Weltbürger ist nirgendwo Bürger, in: "Die Zeit", Nr. 26/2018, 21.06.2018.

(4) Ebd.

(5) Vgl. Bernd Stegemann, Von linker Moral und neoliberalen Interessen, in: "Die Zeit", Nr. 24/2018, 07.06.2018.

(6) Vgl. Nils Heisterhagen, Die liberale Illusion, 2018, Bonn.

(7) Nancy Fraser, Vom Regen des progressiven Neoliberalismus in die Traufe des reaktionären Populismus, in: Geiselberger (Hrsg), Die große Regression, 2017, Berlin, S. 77.

(8) Vgl. Jürgen Habermas, Sind wir noch gute Europäer, in: "Die Zeit", Nr. 28/2018, 05.07.2018

(9) Georg Diez, Das große Sicherheitstheater, online unter:
http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/heimat-und-nation-grosses-sicherheitstheater-kolumne-a-1209567.html, 27.05.2018.

(10) Georg Diez, Warum wir eine Einwanderungspartei brauchen, online unter:
http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/politik-in-deutschland-warum-wir-eine-einwanderungspartei-brauchen-a-1215835.html 01.07.2018.

(11) Sigmar Gabriel, Sehnsucht nach Heimat. Wie die SPD auf den Rechtspopulismus reagieren muss, in: "Der Spiegel", Heft 51/2017.

(12) Palmer, Boris: Wir können nicht allen helfen. Ein Grüner über Integration und die Grenzen der Belastbarkeit, München, 2017.

(13) Habeck, Robert: Des Glückes Unterpfand, online unter: http://www.roberthabeck.de/texte/blog/des-gluecks-unterpfand/, 2018.

(14) Wolfgang Merkel, "SPD muss Anspruch der Volkspartei aufgeben", online unter:
https://www.tagesspiegel.de/politik/wolfgang-merkel-spd-muss-anspruch-der-volkspartei-aufgeben/22734200.html, 26.06.2018.

(15) Nick Corasaniti, Bernie Sanders Relies on Supporters for Ad About Unity, online unter:
https://www.nytimes.com/2016/02/14/us/politics/bernie-sanders-relies-on-supporters-for-ad-about-unity.html, 13.02.16.

(16) Jan Eichhorn, Der nationale Kosmopolit, online unter:
https://www.ipg-journal.de/rubriken/soziale-demokratie/artikel/der-nationale-kosmopolit2996/, 18.10.18.

(17) Ebd.

(18) Thilo Scholle/Sascha Vogt, Sehnsucht nach Heimat"? Sehnsucht nach einem guten Leben!, in: spw 1/2018.

(19) Eine Allianz für den sozialen Fortschritt - Gedanken zur politischen Mobilisierung einer solidarischen Mehrheit, in: spw 4/2018.

(20) Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, 2017, Berlin, S. 27.

(21) Vgl. dazu auch Zygmunt Bauman, Die Angst vor den Anderen, 2016, Berlin, S. 108.

(22) Nils Heisterhagen, Die liberale Illusion. Warum wir einen linken Realismus brauchen, 2018, Bonn.

(23) Didier Eribon, "Nationalismus ist auch ein Problem der Linken", online unter:
https://www.derstandard.de/story/2000080814645/didier-eribon-nationalismus-ist-auch-ein-problem-der-linken, 03.06.2018.

(24) Isolde Charim, Ich und die Anderen, 2018, Wien, S. 29.

(25) Sehr gut vollzogen wird dies in der Betonung gemeinsamer Erfahrungen, wie sie Naika Foroutan und Daniel Kubiak am Beispiel von Ostdeutschen und Migranten feststellen. Vgl. Neika Foroutan/Daniel Kubiak, Ausschluss und Abwertung: Was Muslime und Ostdeutsche verbindet, in: "Blätter", 7/18, S. 93-102.

(26) Rita Müller-Hilmer/Jérémie Gagné, Jérémie, Was verbindet, was trennt die Deutschen? Werte und Konfliktlinien in der deutschen Wählerschaft im Jahr 2017, Forschungsförderungs-Report der Hans-Böckler-Stiftung Nr. 2, Februar 2018, online unter:
https://www.boeckler.de/pdf_fof/99690.pdf.

(27) Jürgen Gerhards/Holger Lengfeld/Jürgen Ignácz/Florian Kley/Maximilian Priem: How Strong is European Solidarity? FU Berlin, Working Paper No.37, Februar 2018, online unter:
http://www.polsoz.fu-berlin.de/soziologie/arbeitsbereiche/makrosoziologie/arbeitspapiere/pdf/BSSE-Nr_-37.pdf.

(28) Das gleiche gilt für die Stärkung der Arbeiteridentität und die Anpassung davon an die Ökonomie des 21. Jahrhunderts. An diesem Punkt wird auch deutlich, dass es zwischen sozial- sowie identitätspolitischen Fragen häufig Überschneidungen gibt, von denen nicht zuletzt die Sozialdemokratie auch lange profitieren konnte.

(29) Vgl. Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, 2016, Berlin.

(30) Robert Vehrkamp/Christiane Tillmann, Vielfältige Demokratie. Kernergebnisse der Studie "Partizipation im Wandel - Unsere Demokratie zwischen Wählen, Mitmachen und Entscheiden", Bertelsmann Stiftung, 2014, Gütersloh, online unter:
https://beteiligungsportal.baden-wuerttemberg.de/fileadmin/redaktion/dateien/PDF/140905_Demokratie-Studie.pdf.

(31)Theodor W. Adorno, in: Traub/Wieser (Hrsg.), Gespräche mit Ernst Bloch, 1980, Frankfurt/M.

(32) Hillje, Rückkehr zu den politisch Verlassenen. Gespräche in rechtspopulistischen Hochburgen in Deutschland und Frankreich, Das Progressive Zentrum, 2018, online unter:
http://www.progressives-zentrum.org/die-verlassenen/.

(33) Peter Brandt, Wir brauchen eine linke Ökumene, online unter: https://www.ipg-journal.de/rubriken/soziale-demokratie/artikel/wir-brauchen-eine-linkeoekumene-2910/, 08.08.2018.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 6/2018, Heft 229, Seite 59-65
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. März 2019

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