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ENTWICKLUNGSHILFE/405: Wider die Technologisierung von Entwicklung (medico international)


medico international - rundschreiben 02/10

Wider die Technologisierung von Entwicklung

Sicherheit. Entwicklung. Menschenrechte - ist eine neue Debatte un den Entwicklungsbegriff nötig? Ein Streitgespräch zwischen Dr. Conrad Schetter (Zentrum für Entwicklungsforschung, Bonn), Thomas Gebauer (medico international) und Dr. Volker Kasch (Misereor, Berlin)

Das Gespräch führte Katja Maurer


FRAGE: Ohne Sicherheit keine Entwicklung, keine Entwicklung ohne Sicherheit. Dieser Satz wird so oft wiederholt, dass wir ihn für selbstverständlich und richtig halten. Wie hat dieser Satz den Entwicklungsdiskurs verändert, Herr Schetter?

CONRAD SCHETTER: Als Entwicklungsforscher muss ich meine Zunft selbst diffamieren. In den letzten 20 Jahren hat sich der Entwicklungsbegriff sehr problematisch verändert. Denn spätestens seit Ende der 1980er Jahre wurde der Begriff der Entwicklung mit dem Begriff der Interessen verbunden. Entwicklungshilfe ist keine altruistische und humanitäre Angelegenheit mehr, sondern eine Sache in "unserem Interesse". Heute ist Entwicklungspolitik eine Art Sicherheitstechnologie. Während man damals noch über Visionen von Entwicklung gestritten hat, geht es heute um Umsetzungsfragen: Mittelabflussdruck, Zeitdruck, um Projekttechniken. Wir erleben eine Technisierung des Begriffes Entwicklung. Dass man sich über die Vision von Entwicklung keine Gedanken mehr macht, zeigt auf konzeptioneller Ebene auch die Debatte um den Begriff "menschliche Sicherheit". Denn wenn die Frage der physischen Sicherheit des Individuums mit der Entwicklung gekoppelt wird, dann hat das problematische Folgen.

Seit 15 Jahren arbeiten sich die Vereinten Nationen daran ab, uns mit diesem Konzept glauben machen zu wollen, dass eine Intervention immer dann nötig ist, wenn die individuelle Sicherheit gefährdet ist. Leider ist es trotz allem nicht gelungen, Kriterien festzulegen, wann eine Intervention nötig und gerechtfertigt ist und wann nicht. Im Jahr 2000 haben die Vereinten Nationen mit dem Brahimi-Konzept die entscheidenden Weichen in Richtung auf integrierte zivil-militärische Mission gestellt. Und nun findet man diese Konzeption nicht nur bei der UNO wieder, sondern auch in der europäischen Sicherheits- und Verteidigungsdoktrin. All das kulminiert in der Nato-Strategie der zivilmilitärischen Zusammenarbeit, die von den Militärs kurz Cimic genannt wird.

FRAGE: Einer ihrer Schwerpunkte ist Afghanistan. Welche Auswirkungen hat das Konzept der zivil-militärischen Kooperation?

CONRAD SCHETTER: Aus der militärischen Perspektive wird die Entwicklungszusammenarbeit als Teil der Eigensicherung gesehen. Es geht um "Force Protection", das ist der ausdrückliche Marschbefehl der Cimic-Einheiten. Die Grundstruktur in Afghanistan lautet: Die Entwicklungsmaßnahmen sollen dort stattfinden, wo es für "uns" gut ist. Aus der Perspektive der Bundesregierung wird Sicherheit und Entwicklung mit staatlicher Entwicklung und Sicherheit gleichgesetzt. Der Staat gilt als der grundlegende Faktor, über den Sicherheit wahrgenommen werden soll. Aber was macht man in einer Region wie Südost-Afghanistan? Die Bevölkerung dort stellt ihre Sicherheit über die Stämme her. Sie wehren sich gegen ein von außen entwickeltes politisches System. In einer solchen Situation erklärt die Bundesregierung, dass ihre Vorstellung von Sicherheit durch den Aufbau einer Polizei realisiert wird. Dieses Konzept steht notgedrungen gegen das lokale Sicherheitssystem der Stämme.

Wir betreiben in Afghanistan viel Forschung über lokale Netzwerke und lokale Strukturen. Diese Netzwerke schaffen Sicherheit, und zwar nicht nur lokal, sondern auch translokal. Viele Probleme werden häufig in Pakistan geregelt. Wer in Nordafghanistan ernsthaft krank wird, geht nicht nach Kundus, sondern nach Peschawar. Die Netzwerke sind sehr weit gespannt. Die westliche Strategie versucht aber gerade durch den Aufbau von Grenzregimen, diese Vernetzung zu zerschlagen. Hinzu kommt, dass Sicherheit immer mit der Frage verknüpft ist, wer die Sicherheit bedroht. Tatsächlich handelt es sich also um einen Unsicherheitsdiskurs. Es gibt jedoch sehr unterschiedliche Perspektiven, welche Zustände als sicher bzw. unsicher betrachtet werden. Die Diagnose fehlender Sicherheit ist insofern willkürlich und bietet die Möglichkeit jede Form von Legitimationsdiskurs zu führen. Beste Beispiele sind etwa die Gefängnisse in Bagram oder Abu Ghraib. Wer eine Gefahr für die Sicherheit darstellt, dem wird eine Sonderbehandlung zuteil. Ähnlich bei den Bombardements bei Kundus im September vergangenen Jahres. Auch da wurde mit der Sicherheit der Bundeswehrsoldaten argumentiert. Mit der Sicherheitsdiskussion wird eine Legitimation geschaffen, die den vorhandenen Rechtsrahmen außer Kraft setzt.

FRAGE: Herr Kasch, eine Entwicklungsperspektive jenseits des Staates - sehen Sie darin Ihre Arbeit verortet?

VOLKER KASCH: Wir sind als Nichtregierungsorganisation auf der Seite der Opfer und daraus entwickelt sich unser Handeln. Ich habe allerdings einen Einwand zu Herrn Schetter: Es wird durchaus noch über Entwicklungsvisionen diskutiert. Wir glauben keinesfalls, dass wir das Ende der Geschichte erreicht haben. Ich sehe auch die Debatte um die "menschliche Sicherheit", wie sie in der UNO geführt nicht so kritisch. Denn Bestandteil der Debatte ist ein Entwicklungsbegriff, der auf den politischen, sozialen und kulturellen Menschenrechten basiert. Sehr weit vorangetrieben worden ist das zum Beispiel in Bezug auf das Recht auf Nahrung, das Recht auf Gesundheit und das Recht auf Zugang zu sauberem Wasser. Wichtig scheint mir die Frage nach dem Umgang mit den sogenannten "failed states", den gescheiterten Staaten. Hier findet die staatliche Entwicklungszusammenarbeit kein Gegenüber. Die staatszentrierte Zusammenarbeit braucht aber den Staat als Partner, während wir als NGO mit der Zivilgesellschaft zusammenarbeiten können.

In den letzten Jahren wurde auf EU-Ebene deshalb versucht, Konzepte zu entwickeln. So entscheidet das Kriterium der Good Governance, der guten Regierungsführung, häufig über die Zuwendung von Mitteln. Wir unterstützen das Kriterium der Good Governance durchaus, wenn sich dahinter verbirgt, dass Regierungen in die Lage versetzt werden, der Bevölkerung zum Beispiel Bildung und Gesundheit zur Verfügung zu stellen. So wie die EU das Kriterium anwandte, führte es allerdings zu dem Phänomen der "Hilfswaisen", so dass bedürftigste Länder keinerlei Unterstützung mehr erhielten. Das wiederum identifizierte die EU dann später als Sicherheitsproblem. Nun überlegte man doch den "failed states" Gelder zur Verfügung zu stellen. Für den Kongo hat die Bundesregierung zum Beispiel einen Friedensfond in Höhe von 50 Millionen Euro aufgelegt. Das Geld wurde aber dann in große Infrastrukturprojekte gegeben, damit die Mittel schnell abfließen. Gleichzeitig sollen UN-Truppen den Staatsaufbau absichern. Die Truppen werden von Bangladesch und Uruguay gestellt, Länder, die diesen Einsatz vor allen Dingen nutzen, um den eigenen Leuten Einkommen und Ausbildung zu verschaffen. Und so zeigt sich am Kongo, dass es zwar ernste Versuche gibt Hilfe zu leisten, um Good Governance aufzubauen und so auch halbwegs funktionierende soziale Dienstleistungen. Aber es stellt sich heraus, dass es letztlich keine Nachhaltigkeit hat, weil man viel längere Fristen und mehr Mittel braucht, um sich in "failed states" zu engagieren.

FRAGE: Herr Gebauer, der Friedensfonds für den Kongo ist ein Beispiel für den Wunsch nach schneller Wirksamkeit auf Kosten von Nachhaltigkeit. Solche Beispiele gibt es viele. Warum lernt die Politik daraus nicht?

THOMAS GEBAUER: Es gibt durchaus lernfähige Menschen in den Ministerien und in den Entwicklungsbürokratien, die Kritiken aufnehmen und Konzepte entwickeln, die interessant und durchdacht sind. Insgesamt aber bestehen die Politiken in Bezug auf Afghanistan und auch auf andere Länder aus einem Sammelsurium aus Akteuren und Konzepten, die sich häufig gegenseitig aufheben. Es gibt keine kohärenten Strategien. Dafür aber ausgefeilte Techniken, mit denen man Entwicklungen und Ergebnisse vorhersagen möchte. Das kann nicht funktionieren.

Ich habe dafür immer ein schönes Beispiel. Nehmen wir den Fußball. Das ist eine relativ überschaubare Situation: Ein Spielfeld, 22 Spieler, ein Ball, klare Regeln - und dennoch ist es noch nie gelungen, ein Tor vorauszusagen. So wenig Variablen und trotzdem weiß man es nicht im Voraus. Aber in der Entwicklungspolitik gibt es Leute, die glauben, sie könnten vom Schreibtisch für wesentlich komplexere Systeme als im Fußball eine Vorhersage machen. Ich glaube, dass wir Menschen solidarisch zur Seite stehen müssen. Wir geben ihnen nur eine Hilfestellung, weil sie selbst am besten wissen, wo sie etwas verändern wollen. Diese Form von Solidarität ist wichtig. Zu glauben, man könne Veränderungsprozesse am Reißbrett planen, halte ich für einen Irrglauben. Aber leider geht der Trend in der offiziellen Entwicklungspolitik genau in diese Richtung.

VOLKER KASCH: Es gibt Gründe, warum es keine Visionen mehr gibt. Wir haben den Kollaps der Entwicklungsmodelle Vietnam, Angola, Mosambik, die Hoffnung auf eine Art sozialistisches Ordnungsmodell oder Demokratiemodell erlebt. Deshalb sind die Menschen pragmatischer geworden. Man muss es akzeptieren, wenn Menschen in afrikanischen Ländern auf die Frage nach ihren Veränderungswünschen antworten: Ich will einen Job, Gesundheit, wenn nötig antiretrovirale Medikamente. Das politische Bewusstsein äußert sich heute anders. Vor drei Wochen war ich in einem Slum in Nairobi, wo wir eine Gruppe unterstützen, die Trauma-Arbeit mit Menschen macht, die in die gewaltsamen Auseinandersetzungen 2008 involviert waren. Gleichzeitig beschäftigen sich die Kollegen mit der Verbesserung der Lebensbedingungen, setzen sich für Zugang zu fließendem Wasser usw., Elektrizität in den Slums ein. Für sie war selbstverständlich, auf ihre Rechte zu pochen.

Früher hätten sie das von der Regierung gefordert, ohne es mit einer Vorstellung von Staatlichkeit und öffentlicher Verwaltung in Verbindung zu bringen, die Rechte garantieren und realisieren müssen. Es ist nötig, politische Debatten gerade um den Sicherheitsbegriff der Bundesregierung zu führen. Aber wir müssen als Hilfsorganisationen stärker darauf hören, worin die akuten Nöte der Menschen bestehen und adäquate Hilfsangebote entwickeln.

THOMAS GEBAUER: Ich halte das nicht für unnötige abstrakte Debatte. Es ist wichtig, dass wir uns den Sicherheitsbegriff nicht zu eigen machen. Ich teile Volker Kaschs Verweis auf die Notwendigkeit eines auf Rechten basierenden Entwicklungsverständnisses. Nur kann es in diesem Kontext nicht nur eine individuelle Debatte geben - nach dem Motto: Du bist zwar Träger von Rechten, aber es ist dein individuelles Problem, wie du sie dir aneignest. Es gibt Verhältnisse, Spaltungen in der Welt, die Menschen Rechte verweigern. Darüber muss genauso gesprochen werden, wie darüber, dass alle Rechte haben, das schließt Exklusion als Entwicklungsmodell aus.

FRAGE: Mehr praktische Hilfe und weniger Grundsatzdebatten, ist das ein Ausweg, Herr Schetter?

CONRAD SCHETTER: Ich bin froh, dass es Veranstaltungen wie diese gibt, auf denen man den Begriff der Entwicklung noch diskutiert. Die Entwicklungsdiskussion in den 1960er und 1970er Jahren wurde abgebrochen. Nur in wenigen Nischen gehen diese Diskussionen, u. a. in Organisationen wie Misereor, weiter. In den 1990er Jahren ist eine Entwicklungsindustrie entstanden, der viel Geld zur Verfügung gestellt wurde. Viele Versprechungen wurden gemacht. Das beste Beispiel sind die Millenium Development Goals, die Millennium-Entwicklungsziele, die versuchen zu definieren, wie Entwicklung stattfinden soll: was bis wann erreicht werden soll. Sie sind ein gutes Beispiel dafür, wie sich das Verständnis von Entwicklung verkehrt hat.

Es geht nur noch darum, vorgegebene Ziele zu erreichen: Demokratie, liberale Marktwirtschaft, Wirtschaftswachstum. Es gibt kaum Raum, der andere Diskurse ermöglicht. Gleichzeitig gibt es eine Strategie der Kooptierung. Das Konzept der "menschlichen Sicherheit" zählt dazu, weil es auch darauf zielt, z. B. Menschenrechtsgruppen in knallharte Staatskonzipierungen zu integrieren. Für mich ist der Begriff "failed states" ein Unbegriff. Selbst der Begriff "fragile Staaten", den ich manchmal selbst benutze, ist fragwürdig. Es wird vorgegaukelt, dass es einen optimalen Staat gibt - und alles andere ist defizitär und marode. Wir müssen jedoch erkennen, dass in Ländern wie Afghanistan oder Somalia, wo kein Staat ist, auf lokaler Ebene Strukturen vorhanden sind, die funktionieren und legitimiert sind. Ich halte es für entscheidend, dass hier eben diese lokalen Realitäten in einen Entwicklungsbegriff weitaus stärker eingebunden werden müssen.


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Quelle:
medico international - rundschreiben 02/10, Seite 35-39
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. August 2010