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MEDIEN/391: Mehr Demokratie durch das Internet? (spw)


spw - Ausgabe 1/2011 - Heft 182
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Mehr Demokratie durch das Internet?

Von Andreas Hetzer


1. Das Internet und der Wandel von Kommunikation in der Demokratie

Es gehört zu den Grundannahmen der Politikwissenschaft, dass eine funktionsfähige Demokratie von der kommunikativen Verfasstheit einer Gesellschaft wesentlich beeinflusst wird. Es "ist zu erwarten, dass die Art und Weise, wie kommuniziert wird, und welche Transmissionssysteme dabei zur Anwendung kommen, Auswirkungen auf die Qualität der Demokratie selbst haben werden" (Lindner 2007: 72). Die Ausgestaltung der kommunikativen Beziehungen hat somit Konsequenzen sowohl für die Politikvermittlung an die Bürger als auch für die Kontrolle und Legitimation politischer Herrschaft, indem die Interessen der Bürger an die politischen Entscheidungsträger weitergeleitet und als Input in das politische System eingespeist werden (vgl. Gerhards 1998: 268).

Es liegt allerdings in der Natur der technischen Bedingtheit von Massenmedien, dass es sich um einen einseitigen und vertikalen Kommunikationsprozess handelt, der sich durch eine klare Rollentrennung zwischen Sender und Empfänger auszeichnet (vgl. Habscheid 2005: 57). Es lässt sich folglich eine Diskrepanz zwischen den notwendigen Kommunikationsbeziehungen einer Demokratie und der technischen Medienentwicklung aufmachen. An dieser Stelle kommt das Internet ins Spiel, das durch seine Infrastruktur die Mängel der Massenkommunikation korrigiert und als 'Multimedium' die Trennung bisheriger Kommunikationsmedien überflüssig macht (vgl. Geser 1996; Bohman 2004: 143). "Das Internet eröffnet als interaktives Medium grundlegende Kommunikationsmöglichkeiten neu und ist damit auch demokratietheoretisch relevant. Dies betrifft vor allem die Konstituierung von Öffentlichkeit [...] und die Möglichkeiten politischer Information, Deliberation und Partizipation." (Grunwald 2006: 13) Politisch sind besonders die Vereinfachung der Informationsbereitstellung und die Rückkanalfähigkeit des Internets von Bedeutung, weil sie zumindest formal an das Aufklärungsideal des informierten Bürgers anknüpfen und zu einer Ausdifferenzierung der Kommunikation führen (vgl. Leggewie 2003: 116; Kuhlen 2007: 202). Neben der klassischen Einweg (One-to-Many)-Kommunikation (z.B. Kampagnenseiten, Informationsdownloads) finden sich im Internet Anwendungen, die durch partizipative und interaktive (Many-to-One) (z.B. elektronische Petitionen, Online-Wahlen) und Mehrweg-Kommunikationsformen (Manyto-Many) (z.B. Diskussionsforen, Soziale Netzwerkseiten) spezifiziert sind (vgl. Welz 2002: 5). Demgemäß lässt sich eine Koexistenz massenmedialer und nicht-massenmedialer Kommunikationsangebote feststellen, die je nach Gestaltung und Design interaktionale und rein distributive Nutzungsweisen ermöglichen.

Trotz der mittlerweile allgemein anerkannten Tatsache, dass "ein eher geringer Anteil netzbasierter Kommunikation politische Themen betrifft" (Grunwald 2006: 11) und "dass das Internet weder zu einem eigenen politischen Raum geworden ist noch dazu geführt hat, die Politik an grundlegend neuen politikkulturellen Kriterien aktivbürgerschaftlicher, quasi basisdemokratischer Politikgestaltung zu messen" (Siedschlag 2005: 20), soll der Blick für die kreativen Freiräume des Internets geschärft werden, in denen Widerstand gegen herrschende Machtverhältnisse möglich wird. Mit Bohman (2004: 132) und Dahlberg et al. (2007: 6) wird argumentiert, dass entgegen pessimistischer Prognosen das Internet auch weiterhin Potenziale radikaldemokratischer Praxis bietet, die in Ansätzen von zivilgesellschaftlichen Akteuren realisiert werden. Beispielhaft dafür steht die erfolgreiche Internet-Kampagne gegen den Gesetzentwurf der Bundesfamilienministerin von 2005 bis 2009, Ursula von der Leyen, zur Sperrung von Websites mit kinderpornographischen Inhalten. Die überwiegend über Twitter und soziale Netzwerke verbreitete Kritik prangerte die mangelnde Effektivität der Netzsperren und die zweifelhafte rechtsstaatliche Kontrollierbarkeit des Verfahrens an. Ein ähnliches Beispiel, das in der deutschsprachigen Netzwelt für Furore und schließlich in den Massenmedien für Aufmerksamkeit gesorgt hat, waren die vom damaligen Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble vorgeschlagenen Online-Durchsuchungen von privaten Computern oder die Vorratsdatenspeicherung. Über die Online-Kampagne hinaus konnten breite Gesellschaftsschichten zur Verteidigung ihrer Bürgerrechte für Straßenproteste mobilisiert werden. Neben diesen eher internetaffinen Themen lässt sich das Internet aber auch für andere Formen zivilgesellschaftlichen Widerstands nutzen, wie die Proteste gegen die Welthandelsorganisation 1999 in Seattle oder der virtuellen Streiks von Gewerkschaftern aus aller Welt gegen den italienischen Ableger des Computerherstellers IBM 2007 gezeigt haben. Zwar dürfen die Erfolge dieser Kampagnen nicht überschätzt werden, jedoch illustrieren sie die Möglichkeiten transnationaler Solidarisierung und die vielfältigen Formen von netzgestütztem oder rein netzbasiertem Protest (für weitere Beispiele politischer Kampagnen im Internet siehe: Baringhorst/Kneip/Niesyto 2009; Baringhorst et al. 2010).


2. Potentiale des Internets für Neue Soziale Bewegungen (NSB)

Im Kampf um die Öffentlichkeit und die gesamtgesellschaftliche Aufmerksamkeit kommt dem Internet eine zentrale Rolle für die Neuen Sozialen Bewegungen zu. Nach Rucht (vgl. 2005: 1f.) lassen sich vier mediale Strategien von Protestbewegungen unterscheiden, die sich auf das Internet übertragen lassen. Erstens gibt es Akteure, die sich aufgrund negativer Erfahrungen mit Massenmedien und der fundamentalen Ablehnung der massenmedialen Logik auf die Binnenkommunikation konzentrieren und sich von der öffentlichen Bühne zurückziehen. Zweitens wird die Option des Angriffs gewählt, indem beispielsweise Redaktionsräume besetzt werden und auch physische Gewalt nicht ausgeschlossen werden kann. Drittens gibt es Gruppierungen, die die Funktionslogik des massenmedialen Systems internalisieren, ihre Gesetzmäßigkeiten zu durchschauen versuchen und diese für ihre Kommunikationsziele nutzen. Dazu zählen teils professionelle Kampagnen und speziell abgestimmte Inszenierungsstrategien, um Nachrichtenwerte zu schaffen. Viertens schließlich geht es um die Schaffung von Alternativen und die Nutzung eigener Kommunikationskanäle. Diese vier Strategien lassen sich unter Bezug auf die Demokratisierung der Kommunikation in ihrer Zielrichtung differenzieren, die zum einen auf eine "Demokratisierung durch die Medien" und zum anderen auf eine "Demokratisierung der Medien selbst" (Carroll/Hackett 2006: 84) abhebt. Demnach streben demokratische NSB mit der Nutzung des Internets eher eine Demokratisierung durch die Medien an, so dass strategisch zwei Prinzipien zum Tragen kommen: Einerseits kann das Internet für Kampagnen und virtuelle Protestformen genutzt werden, um die Selektionsbarriere von der Versammlungs- zur massenmedialen Öffentlichkeit zu überwinden. Andererseits können gegenhegemoniale Diskurse zu den 'Mainstream-Medien' und alternative Kommunikationsformen eingesetzt werden, die sich aus einer Kritik an der Vermachtung und Kommerzialisierung speist (vgl. Habermas 1990: 27f.).

Es macht also Sinn, die Öffentlichkeit des Internets als ein zusätzliches und komplementäres Öffentlichkeitsforum zu betrachten (vgl. Ludwig 1998: 178; Salter 2003: 135f.). Das Internet wird damit zu einem Medium, das das Verhältnis zwischen der dominanten und einer gegenhegemonialen Öffentlichkeit neu definiert, weil es neue ideologische Freiräume zunehmend unkontrollierbarer macht (vgl. Plake/ Jansen/Schuhmacher 2001: 145; Geser 1996). Dadurch entstehen neue Formen von Gegenöffentlichkeit, die auch historisch immer schon als Teilöffentlichkeiten definiert wurden und sich um spezifische Diskurse gruppierten. Gegenöffentlichkeiten sind daran anschließend "parallele diskursive Arenen, wo Mitglieder subalterner Gruppen Gegendiskurse erfinden und verbreiten, welche wiederum die Formulierung oppositioneller Interpretationen ihrer eigenen Identitäten, Interessen und Bedürfnisse erlauben." (Fraser 1997: 81) Der Entzug vor politischer und wirtschaftlicher Macht wird auch zum Aufbau dissidenter Strukturen genutzt, die die herrschende Ordnung zu delegitimieren versuchen und radikale Gesellschaftskritik üben. Gegenöffentlichkeiten fungieren also als permanente Herausforderung zur Rechtfertigung der dominanten öffentlichen Meinung.

Jeffrey Wimmer (2008: 214; vgl. auch Grunwald et al 2006: 183) hat drei Dimensionen von Gegenöffentlichkeiten unterschieden, die an die obigen Medienstrategien von Rucht anknüpfen. Auf der Makro-Ebene handelt es sich um die bereits angesprochenen Alternativmedien und neuen Gegenöffentlichkeiten, die sich im Internet besonders durch die vereinfachten Software- und Programmiermodelle vervielfacht haben und neuerdings mit dem Terminus 'Produser' als Kombination aus Produzent und Nutzer beschrieben werden. Die Meso-Ebene umfasst eher die Kommunikations- und Kooperationsweisen, die den NSB neue Chancen der Koordination eröffnen und kollektive Lern- und Erfahrungsprozesse innerhalb des Bewegungszusammenhangs in Gang setzen. Dazu zählt neben der Binnenkommunikation natürlich auch die veränderte Außendarstellung. Die Mikroebene schließlich umfasst die diversen Formen des Netzaktivismus, die in rein webbasierte und webgestützte Aktionen unterteilt werden und subversive Züge annehmen können. Hier geht es um konkrete politische Aneignungsformen des Internets durch politische Aktivisten der NSB.

Die Erzeugung von Online-Gegenöffentlichkeiten wird von den NSB intensiv genutzt, sei es über alternative und von den Nutzern selbst generierte (Open Posting) Nachrichtenportale, zentrale Knotenpunkte zur Bekanntmachung von Protestkampagnen oder Social-Web-Anwendungen zur Verbreitung von Informationen. Die geringen Kosten und der vergleichsweise geringere technische Aufwand begünstigen ressourcenschwache Akteure, die zumindest potenziell mit kommerziellen Anbietern in Wettbewerb treten können. Die zunehmende Professionalisierung von Design und Benutzerfreundlichkeit hat dazu geführt, dass sich auch alternative Medienangebote durchaus hoher Aufmerksamkeit erfreuen. Das Veröffentlichungsmonopol der Massenmedien wird aufgebrochen und der Zugang zu ungefilterten Informationen erleichtert, auch wenn sich ein Großteil der Angebote immer noch an der massenmedialen Agenda orientiert. Bei der unabhängigen Laienberichterstattung ergeben sich Probleme der Authentizität und Unabhängigkeit durch die Abwesenheit journalistischer Standards (vgl. Wimmer 2008: 220; Grunwald et al 2006: 183ff.). Demnach verlangt die Internetnutzung kognitive Informationsselektions- und Informationsverarbeitungskapazitäten, um zwischen strukturiert aufbereiteten Informationen und subjektiven Standpunkten und Gewichtungen abzuwägen (vgl. Welz 2002: 5; Habscheid 2005: 63).

Ganz ähnliche Voraussetzungen(1) müssen die Akteure der NSB auf der Meso-Ebene zur Organisation und Binnenkommunikation mitbringen. Die lose und häufig thematisch fokussierten Aktionsnetzwerke, die zudem über eine schwache Identitätsbindung und ideologische Basis verfügen, bedürfen einer ausgeprägten Kommunikations- und Kollaborationskompetenz (vgl. Kuhlen 2007: 213), um die Kontinuität der Bewegung zu garantieren (vgl. Walk/Brunnengräber 2000: 196). Nur so lassen sich die Internetanwendungen als Arbeits- und Organisationsmittel nutzen. Kommunikationsinhalte können miteinander vernetzt, multimedial aufbereitet, individuell und dezentral verändert sowie deren Überarbeitung nachvollziehbar gemacht werden. Die Kostenersparnisse bei der Informationsverteilung und Kommunikation in Echtzeit ermöglichen eine schnelle und flexible Mobilisierung, die unter Umständen über Ländergrenzen hinweg funktioniert. Die flachen Hierarchien und der gemeinsame und transparente Symbol- und Wissensvorrat stärken die kollektive Identität, die durch die Ablösung von persönlichen Beziehungsmustern eine ungleich höhere Kommunikationsdichte zur ständigen Selbstvergewisserung erfordert (vgl. Kardorff 2008: 46f.). Doch auch unter diesen Umständen kommt es zur Herausbildung von besonders aktiven Informationseliten zur Verwaltung der Software und Administration der Zugangsrechte für Außenstehende (sogenannte Editorial Teams). Die Binnenkommunikation der NSB bewegt sich im steten Spannungsfeld zwischen Öffnung und Schließung. Während auf der einen Seite deliberative Diskussionsforen den Dissens pluraler Akteure innerhalb der Bewegung sichtbar machen (vgl. Geser 1996) und Informationen und Wissen zur Weiterverarbeitung in anderen Zusammenhängen generieren (vgl. Kuhlen 2007: 203), "entfaltet sich elektronische Kommunikation am besten innerhalb bereits gefestigter Gruppierungen, in denen dank dichter vorgängiger Primärinteraktion hoch spezifizierte, standardisierte Verständigungscodes entstanden sind, die es ermöglichen, sich selbst durch sehr knapp gehaltene Meldungen erfolgssicher zu verständigen" (Geser 1996).

Dieser Umstand bleibt natürlich nicht ohne Folgen für die deliberativen und partizipativen Prozesse, deren Umsetzung ein Großteil der Software-Programme nach Ansicht zahlreicher Autoren schuldig bleiben (vgl. exemplarisch Baringhorst 2007: 83; Salter 2003: 136). Dementsprechend bleibt die Umsetzung weit hinter den gegebenen Möglichkeiten zurück. Die Hoffnungen auf die Realisierung kommunikativer Rationalität basieren auf der Annahme, dass die zeitlich versetzte Kommunikation mit dem Ausblenden emotionaler situationsbedingter Reize und die Erwartung von Rückmeldungen durch eine unbegrenzte Zahl von potenziell anwesenden Kommunikationsteilnehmern einen erhöhten Grad an Reflexivität mit sich bringt (vgl. Geser 1996; Bohman 2004: 136). Die beobachtbare kommunikative Praxis zeigt jedoch, dass das Reflexionsniveau meistens gering ist, die Kommunikationspartner sich kaum aufeinander beziehen und wenige Individuen und Gruppen die Foren dominieren (vgl. Dahlberg 2001). Für die Meso-Ebene bleibt also festzuhalten, dass die Vorteile der Online-Kommunikation im Moment nur für die organisatorische Vernetzung über nationale Grenzen hinweg und für die Artikulation gemeinsamer Interessenstandpunkte ausgeschöpft werden.

Auf der Mikroebene des Netzaktivismus kommen verschiedene Protestformen zum Einsatz. Chat-Nachrichten, Nachrichtengruppen (Newsgroups), Newsletter oder auch Mailing-Listen haben in erster Linie eine Informations- und Koordinierungsfunktion, um zahlreiche Netzbürger (Netizens) zur Teilnahme an Protestaktionen zu bewegen oder über den aktuellen Stand von Kampagnen zu informieren. Da die Aktivitätsschwelle im Internet wesentlich geringer ist, können darüber hinaus neue Teilnehmer mobilisiert werden, um beispielsweise mittels elektronischer Petitionen oder Kettenbriefen ihren Unmut zum Ausdruck zu bringen.Inwieweit daraus ein längerfristiges politisches Engagement erwächst, darf zumindest bezweifelt werden. Im WWW können darüber hinaus Protestseiten als Zentralen dienen, um Online- und Offline-Aktionen zu koordinieren und den Teilnehmerkreis zu erweitern. Ein höheres Aktivitätsniveau wird schließlich bei sogenannten Netstrikes (z.B. Denial-of-Service-Attacken) verlangt, bei denen möglichst viele User zur gleichen Zeit Anfragen auf gegnerische Websites starten und es dadurch zu einer Überlastung des Servers und damit zum Ausfall des Webangebots kommen kann. Ebenfalls rein webbasiert sind Aktionen der Hacktivismus-Bewegung (eine Zusammensetzung der Wörter Hacker und Aktivismus), die mit ihren Eingriffen in die Quelldatei von Websites und die Manipulation von fremden Inhalten hohe technische Fertigkeiten erfordern und selten von einem großen Personenkreis legitimiert sind (vgl. Köhler 2007: 248f.).

Diese virtuellen Varianten direkter Aktion bedürfen spezieller und flexibler Koordinationsmechanismen, die ohne die computervermittelte Kommunikation undenkbar wären. Es kollaborieren temporär Menschen im virtuellen Raum, die sich weder kennen noch vorher getroffen haben. Die Basis der Zusammenarbeit besteht lediglich in der gemeinsamen Unmutsäußerung und der Identifikation des gegnerischen Akteurs, der für die Missstände verantwortlich gemacht wird. Auf dieser Ebene gilt die globalisierungskritische Bewegung als 'virtuelle Avantgarde', die ihre Aktionen in kurzen Zyklen auf den Gegner abstimmen kann und zur Bildung spontaner, transnationaler Kollektive fähig ist (vgl. van de Donk et al 2004: 11). Zur Demokratisierung der konzerngetriebenen Globalisierung haben sich zahlreiche NSB auf themenfokussierte und unternehmenskritische Kampagnen konzentriert. Während die Organisation konkreter Handlungsprogramme und die Themenfokussierung bei Kampagnen der dezentralen Kommunikationsstruktur des Internets eher entgegen läuft, können die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien zur Stabilisierung kollektiver Identität durch Partizipationsangebote und zur Vernetzung räumlich getrennter Handlungszusammenhänge durchaus einen wichtigen Beitrag leisten (vgl. Baringhorst 2007:97ff.). Kampagnen bewegen sich dabei stets im Spannungsfeld zwischen dezentraler Organisationslogik und notwendigen zentralen Koordinierungsleistungen. "Es lässt sich der Schluss ziehen, dass Anti-Corporate Campaigns (unternehmenskritische Kampagnen, A.H.) heute vor der Herausforderung stehen, die Balance zwischen individueller und kollektiver Partizipation, stabilen dauerhaften und flexiblen Strukturen sowie demokratisch erlangten und hierarchisch bestimmten Deutungsrahmen in der Kampagnenkommunikation und -organisation auszutarieren, um zum einen internen und demokratischen Anforderungen der Mit- und Selbstbestimmung gerecht zu werden und zum anderen auf externe Veränderungen - beispielsweise in den Verhaltensweisen von Unternehmen - eingehen zu können." (Baringhorst/Kneip/Niesyto 2007: 133)

Was bisher überwiegend in Bezug auf die digital vermittelte Kommunikation und Interaktion diskutiert wurde, lässt sich in seiner Wahrnehmbarkeit potenzieren, wenn die Gegenöffentlichkeit und der Protest auf die Straße getragen werden. Es ist davon auszugehen, dass digitale Gegenöffentlichkeiten auf ein bereits funktionierendes soziales Netzwerk aufbauen und sich erst dann Synergieeffekte im digitalen Raum einstellen, die das Solidaritätsnetzwerk erweitern und zur Mobilisierung beitragen. Gleichzeitig werden auf der Straße lokative Medien eingesetzt, die "die Verschmelzung von virtuellem und physikalischem Raum, Körper und Technologie" (Hamm 2005: 1) in einem Maße vorantreiben, die die oft getrennt betrachteten Analysekategorien zumindest verflüssigen. Es bestehen direkte Verknüpfungen und Anschlussfähigkeiten zwischen beiden Kommunikationssphären, die die Bezeichnung des Cyberspace als einer Parallelwelt absurd erscheinen lassen (vgl. von Kardorff 2008: 26).


3. Demokratietheoretische Anknüpfungspunkte

Werden die erwähnten organisatorischen und kommunikativen Herausforderungen bewältigt, so darf den NSB und ihren Aktivitäten im Internet eine gewisse Wirkkraft zur Demokratisierung westlich moderner Gesellschaften zugeschrieben werden. Trotzdem überwiegt bei der Lektüre der Literatur mittlerweile eher ein Pessimismus, der den Einsatz des Internets zur politischen Kommunikation kritisch beurteilt. Natürlich ist kaum zu bezweifeln, dass "die Dispositionen der Bürgerschaft" (Leggewie 2003: 118) sowie "die Struktur und politische Kultur des betreffenden politischen Systems die entscheidende Voraussetzung für eine angemessene netzgestützte Demokratie sind" (Siedschlag 2005: 18). Und auch die massenmediale Resonanz ist ein wichtiges Erfolgskriterium für die Wahrnehmung zivilgesellschaftlicher Anliegen durch das politische System (vgl. Köhler 2007: 250), weil ansonsten "Schnittstellen zwischen Onlineöffentlichkeit und politischem System eher schwach" (Grunwald et al 2006: 229) bleiben. Doch ist kaum zu bestreiten, dass das Internet abgesehen von den internen Vorteilen für NSB erweiterte plebiszitäre Elemente für die Demokratie bereitstellt, enge vertikale Verbindungen zwischen Regierten und Regierenden herstellt und neuen, bisher ungehörten Vermittlern eine Stimme geben kann (vgl. Geser 1996; Grunwald et al 2006: 69). Zusätzlich "liegt der politische Wert des Internets in der Stärkung des öffentlichen Raumes und der politischen Kontrollfunktion der Medien sowie in der Förderung des öffentlichen Diskurses und des öffentliche (sic!) Abwägens verschiedener Politikpositionen und Problemlösungsansätze - d.h. in der Realisierung von Online-Deliberation" (Siedschlag 2005: 18).

Das Internet kann Räume und Diskurse pluralisieren und abweichende Positionen geltend machen. Die Varianten autonomer und nicht vermachteter Gegenöffentlichkeit im Internet schaffen Möglichkeiten der Selbstreflexion marginalisierter Minderheiten, die im vorpolitischen Raum Kapazitäten für spätere gesamtgesellschaftliche Diskurse entwickeln (vgl. Dahlberg/Siapera 2007). "Dabei kann die demokratische Gesellschaft nicht länger als eine Gesellschaft vergegenwärtigt werden, in welcher der Traum perfekter Harmonie und Transparenz erfüllt wäre. Ihr demokratischer Charakter kann nur darin bestehen, dass kein partikularer sozialer Akteur mehr für sich selbst die Repräsentation der Totalität oder die Hoheit über die Gesellschaftsgrundlagen in Anspruch nehmen kann." (Mouffe 2007: 43) Damit werden Machtbeziehungen als Grundbestandteil demokratischer Gesellschaften anerkannt, aber der permanente Widerstreit zwischen sozialen Positionen hervorgehoben. Übertragen auf das Internet bedeutet dies, dass die schier unendlichen Teilöffentlichkeiten, die von zivilgesellschaftlichen, staatlichen und ökonomischen Akteuren bevölkert werden, in ständigem Konflikt miteinander stehen. Das Internet ist damit ein Abbild gesellschaftlicher Konfliktlinien und zugleich Kampffeld für hegemoniale und gegenhegemoniale Kommunikationsstrategien. Inwieweit die Gegenöffentlichkeiten gegenüber der dominierenden Hegemonie marginalisiert bleiben, hängt zum einen von der Aufnahmekapazität des politischen Systems für Gegenpositionen und zum anderen von der Bereitschaft der Wählerinnen und Wähler zur stärkeren Gewichtung der Inputlegitimation ab (vgl. Plake/Jansen/Schuhmacher 2001: 65). Erst wenn Mitbestimmungs- und Partizipationsansprüche quer zur sozioökonomischen Schichtung der Gesellschaft massenhaft geltend gemacht werden, müssen direktdemokratische Elemente mit den funktionierenden Repräsentationsmechanismen verstärkt kombiniert werden. Die Aufrechterhaltung von Gegenöffentlichkeiten im Internet und deren Vernetzungsgrad im Cyberspace ist dabei nur eine Bedingung unter vielen, um die Substanz demokratischer Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse aufrecht zu erhalten.


Andreas Hetzer forscht und lehrt seit 2007 an der Universität Siegen im Fach Politikwissenschaft. Sein Interessenspektrum reicht von politischer Kommunikation im Netz über Medienpolitik bis hin zu politischen Systemen in Lateinamerika. Seine laufende Promotion beschäftigt sich mit der Rolle der Medien im politischen Transformationsprozess in Bolivien.

Wichtigste aktuelle Veröffentlichung: Medienpolitische Initiativen der Regierung Morales, in: Ernst, Tanja/Schmalz, Stefan (Hrsg.): Die Neugründung Boliviens? Die Regierung Morales (Studien zu Lateinamerika, Bd. 1). Baden-Baden: Nomos 2009, S. 166-180.


ANMERKUNG

(1) Schmidt (2006: 39) nennt beispielsweise beim Einsatz von Social Software drei unterschiedliche Handlungskomponenten für die erfolgreiche Nutzung: Informations-, Identitäts- und Beziehungsmanagement.


LITERATURVERZEICHNIS

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 1/2011, Heft 182, Seite 32-39
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. April 2011