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MENSCHENRECHTE/290: Chile - Vergewaltigungsopfer der Diktatur und ihre gestohlenen Kinder (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 5. Januar 2015

Chile: Vergewaltigungsopfer der Diktatur und ihre gestohlenen Kinder - Düsteres Kapitel der Vergangenheit kommt ans Licht

von Marianela Jarroud


Bild: © Marjorie Apel/Creative Commons

Die Chilenin Ana María Luna Barrios hofft, unter den Fotos 'Verschwundener' ein Gesicht zu entdecken, das ihrer Mutter gehören könnte
Bild: © Marjorie Apel/Creative Commons

Santiago, 5. Januar (IPS) - Anders als in Argentinien waren in Chile die Vergewaltigung politischer Häftlinge und der Diebstahl in Gefangenschaft geborener Kinder während der Militärherrschaft von 1973 bis 1990 kein öffentlich diskutiertes Thema. Doch 24 Jahre nach dem Ende der Diktatur zeichnet sich ein wachsendes Interesse ab, diese schweren Menschenrechtsverletzungen doch noch aufzuklären.

"Wir wussten, dass sich in unserem Land ähnliche Dinge abgespielt haben wie in Argentinien", bestätigt die 70-jährige Carmen, die ihren Nachnamen nicht nennen will. "Dass inhaftierte schwangere Frauen in den geheimen Haftzentren entbunden haben." Manche Frauen seien zum Zeitpunkt ihrer Festnahme bereits schwanger gewesen, andere erst von ihren Folterern geschwängert worden.

Als es zum Putsch gegen den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende (1970-1973) kam, war Carmen in einer kleinen Stadt im Süden Chiles politisch aktiv. Während ein Freund bei einer Demonstration gegen die vorrückenden Truppen des späteren Diktators Augusto Pinochet getötet wurde, konnte sie sich erst in die Hauptstadt Santiago und dann ins ausländische Exil retten.

Offiziellen Untersuchungen zufolge wurden während der 17-jährigen Militärherrschaft 40.000 Menschen gefoltert, 3.095 von ihnen ermordet, darunter 1.000 Verschwundene. Mindestens zehn Frauen waren zum Zeitpunkt ihrer Festnahme schwanger gewesen.


Anerkennung für Fortschritte in Argentinien

Seitdem im August 2014 die Vorsitzende der argentinischen Menschenrechtsorganisation 'Mütter der Plaza de Mayo', Estela de Carlotto, mit ihrem wiedergefundenen Enkelsohn Guido in den Medien gezeigt wurden, ist es vielen Chilenen ein Bedürfnis, mehr über das eigene düstere Kapitel der repressiven Vergangenheit zu wissen. Sie bewundern das Nachbarland für die Fortschritte bei der Aufklärung dieses sensiblen Menschenrechtsverbrechens. Guido war während der Militärdiktatur in Argentinien (1976-1983) in Haft geboren und dann gestohlen worden.

Wie Lorena Fríes, Leiterin von Chiles Nationalem Menschenrechtsinstitut, berichtet, hatten sich auch in ihrem Land Agenten der Diktatur Kinder politischer Häftlinge bemächtigt. Allerdings sei das Phänomen nicht so verbreitet gewesen wie in Argentinien, wo es fester Teil der Unterdrückungsstrategie gewesen sei.

Bisher hat der Menschenrechtsanwalt Alberto Espinoza noch keinen Fall vor Gericht vertreten, in dem es um den Diebstahl von in Gefangenschaft geborenen Kindern ging. "Wir wissen von Frauen, die in der Haft gefoltert wurden und ihre Babys verloren. Jedoch wissen wir so gut wie nichts über die Kinder, die überlebt haben."

Das hat sich seit der Ausstrahlung einer Sondersendung des Nationalen Fernsehens über ehemalige Gefangene, die in Folterzentren vergewaltigt worden waren und später angeblich eine Totgeburt erlitten hatten, geändert. Der Bericht 'Die unsichtbaren Kinder der Diktatur' basiert auf Aussagen überlebender weiblicher Häftlinge. Er endete mit dem beispiellosen Aufruf an alle 35- bis 40-jährigen Chilenen, die in Adoptionsfamilien großgeworden sind, sich an das Menschenrechtsprogramm des Innenministeriums zu wenden.

Die am 15. Dezember ausgestrahlte Sendung brachte in den sozialen Netzwerken eine Lawine von Reaktionen in Gang. Am 16. Dezember traf sich der chilenische Justizminister José Antonio Gómez mit Vergewaltigungsopfern der Diktatur, denen er ein Gesetz versprach, das Folter in Verbindung mit sexueller Gewalt als besonderen Straftatbestand anerkennen und ahnden soll.

"Fest steht, dass noch nicht viele Opfer bereit sind, über die politisch bedingte sexuelle Gewalt oder sexualisierte Folter zu reden, die sie während der Diktatur erleiden mussten", meint Fríes. "Auch hat sich gezeigt, dass gerade Frauen viel mehr Zeit brauchen, bevor sie über diese traumatischen Situationen sprechen können."


Erste Fälle publik

Bekannt ist die Identität einer inzwischen erwachsenen Frau, die in einem solchen geheimen Folterzentrum geboren wurde. Ihr Name wird derzeit geheim gehalten. In einem weiteren Fall konnte eine junge Frau namens Isabel Plaza als Tochter der 1975 entführten und im siebten Monat schwangeren Rosa Lizana identifiziert werden, die einen Monat gewaltsam festgehalten und dann ins Exil geschickt worden war.

Ana María Luna Barrios war 1976 von einer Krankenschwester in einem Militärkrankenhaus verlassen aufgefunden und später adoptiert worden. Seit sie über diesen Teil ihrer Geschichte Bescheid weiß, versucht sie ihre leibliche Mutter anhand von Fotos 'Verschwundener' aufzuspüren. Neuen Untersuchungen zufolge war sie nach ihrer Geburt und vor der Überstellung ins Militärkrankenhaus von einem inzwischen verstorbenen Lieutenant der Geheimpolizei DINA, Hernán Valle Zapata, registriert worden. Wie im Fall eines weiteren weiblichen Säuglings führte er Luna Barrios auf einer Liste von Kindern von Frauen, die "nicht erschienen" waren.

Nieves Ayres wiederum, die inzwischen in New York lebt, hatte während der chilenischen Diktatur die beiden Folterzentren 'Londres 38' und 'Tejas Verdes' durchlaufen. Sie wurde systematisch von mehreren Männern vergewaltigt. Ihren Aussagen zufolge hatte man ihr Ratten in die Vagina eingeführt und sie zu sexuellen Handlungen mit Hunden gezwungen. Sie wurde schwanger, erlitt jedoch eine Fehlgeburt.

Espinoza zufolge sind diese Fälle Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die nie verjähren und somit auch 24 Jahre nach dem Ende der Diktatur strafrechtlich verfolgt werden können.

Fríes ist überzeugt, dass die Verbrechen der Diktatur die Chilenen noch eine ganze Weile beschäftigen werden. Es sei wichtig, den Menschen klarzumachen, dass die neuen Zeiten neue Chancen böten, um die schweren Menschenrechtsverletzungen aufzuklären und dafür zu sorgen, dass sie sich in Chile nie mehr wiederholen könnten. "In diesem Land geht zwar alles sehr langsam vonstatten, doch ein Zurück wird es nicht geben", versichert sie. "Und das Thema wird nicht, wie von einigen erhofft, wieder in der Versenkung verschwinden." (Ende/IPS/kb/2015)


Links:

http://www.ipsnoticias.net/2014/12/finalmente-abren-capitulo-de-ninos-robados-por-dictadura-chilena/
http://www.ipsnews.net/2014/12/children-stolen-by-chilean-dictatorship-finally-come-to-light/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 5. Januar 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Januar 2015


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