Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → FAKTEN


MENSCHENRECHTE/308: Mexiko - Migranten auf sich gestellt, Morde bleiben unaufgeklärt (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 25. August 2015

Mexiko: Migranten auf sich gestellt - Morde bleiben unaufgeklärt

von Carolina Jiménez *


Bild: © IPS

Männer und Frauen halten Bilder mit ihren vermissten Familienangehörigen hoch
Bild: © IPS

MEXIKO-Stadt (IPS) - "Bete für mich", waren die letzten Worte, die Eva Nohemi Hernández Murillo zu ihrer Mutter am Telefon sagte, bevor sie sich in einen Bus setzte, der sie über Mexiko in die USA bringen sollte. 71 weitere Menschen bestiegen zusammen mit der 25-Jährigen am 22. August 2010 den Bus.

Eva Nohemi aus der Stadt El Progreso in Honduras wollte in die USA auswandern, um dort zu arbeiten. Sie hoffte, dort einen Job zu finden, der so viel einbringen würde, dass sie damit ihre Eltern und ihre drei kleinen Kinder versorgen könnte. Doch sie überlebte die Fahrt genauso wenig wie ihre Mitreisenden. Nur einer kam mit dem Leben davon.

Zwei Tage nach dem Telefonat saß ihre Mutter Elida Yolanda vor dem Fernseher, um die Abendnachrichten zu schauen. Was sie dort sah, ließ ihren größten Alptraum Realität werden: Die Nachrichten zeigten Bilder von über 70 toten Frauen und Männern in Mexiko. Unter ihnen glaubte sie, eine Frau mit der Kleidung ihrer Tochter wiederzuerkennen.

"Am nächsten Tag kauften wir mehrere Tageszeitungen. Wir suchten nach Fotos, auf denen unsere Tochter zu sehen war. Ich fühlte, dass sie darunter war, aber ich war mir gleichzeitig unsicher. Niemand möchte die eigene Tochter auf diese Weise sterben sehen." Das Blutbad wurde später als erstes Massaker von San Fernando bekannt.


Kein Geld für eigene Nachforschungen

Elida wollte nach Tegucigalpa reisen, der Hauptstadt von Honduras. Sie wollte sich dort an die mexikanische Botschaft wenden und Informationen über den Verbleib ihrer Tochter verlangen. Aber sie hatte nicht genug Geld dafür. Seitens der Botschaft oder der Polizei wurde sie nie wegen des Todes von Eva Nohemi kontaktiert.

Nach einer Weile wandte sich schließlich eine Menschenrechtsorganisation an die Familie. Von da an ging es mit den Nachforschungen voran. Zwei Jahre dauerte es allerdings noch, bis Elida einen Anruf aus der mexikanischen Botschaft erhielt. Letzten Endes wurde der Tod ihrer Tochter doch noch bestätigt.

"Ich war unter Schock. Klar, ich hatte mir schon gedacht, dass sie unter den Toten war. Aber wer will schon akzeptieren, dass die eigene Tochter tot ist? Alles, was ich will, ist Gerechtigkeit", sagt Elida. "Damit diese Morde endlich aufhören."

Denn Eva Nohemi und ihre Mitreisenden blieben nicht die einzigen Toten. Kriminelle Banden greifen Auswanderer seitdem immer häufiger an. Frauen werden entführt und zu Sexarbeit gezwungen. Männer werden grausam gefoltert. Nur wenige erreichen die Grenze, ohne unterwegs auf irgendeine Art misshandelt worden zu sein. Viele verschwinden und tauchen nie wieder auf.

Sechs Monate nach dem ersten San-Fernando-Massaker wurden in der gleichen Stadt 193 weitere leblose Körper in insgesamt 47 Massengräbern gefunden. Ein Jahr später wurden 49 zerstückelte Leichen in der Stadt Cadereyta gefunden, die vermutlich Migranten ohne Papiere gewesen waren.

Zwischen 2013 und 2014 stieg die Zahl der Entführungen von Migranten nach Angaben des Mexikanischen Instituts für Migration (INM) um das Zehnfache. Die Informationen stützen sich auf die gestiegene Zahl der Anzeigen: Waren es 2013 noch 62, so waren es im Jahr 2014 bereits 682 Anzeigen.


Mexikanische Behörden nicht unschuldig

Mexikanische Behörden machen für das Verschwinden und die Morde gerne kriminelle Banden verantwortlich. Dabei ignorieren sie allerdings, dass lokale Sicherheitsbeamte häufig eine tragende Rolle in den Verbrechen spielen. Und meist schauen sie zumindest weg.

Ein paar Tage nach dem ersten San-Fernando-Massaker im Jahr 2010 versprach der damalige mexikanische Präsident Felipe Calderón, eine Strategie zu entwickeln, um die Entführungen und Morde an den Migranten zu stoppen. Fünf Jahre später ist davon nicht viel zu erkennen.

Immerhin, im Jahr 2013 wurde eine forensische Kommission eingerichtet, an der sich Verwandte der toten Auswanderer, Vertreter von Menschenrechtsorganisationen, forensische Anthropologen und Regierungsbeamte beteiligen. Ziel ist es, die sterblichen Überreste der Massaker zu identifizieren. Doch zur Aufklärung trägt auch sie wenig bei.

Als der aktuelle mexikanische Präsident Enrique Peña Nieto vor kurzem die USA besuchte, gratulierte er dem US-Präsidenten Barack Obama zu dessen Plan, Millionen von Einwanderern ohne offizielle Papiere vor der Abschiebung bewahren zu wollen. Peña Nieto nannte den Plan einen "Akt der Gerechtigkeit". Er selbst hat sich hingegen bisher kaum bemüht, die Misshandlungen von Migranten im eigenen Land einzuschränken. Er stellt die Misere der Migranten lieber als Sicherheitsproblem dar, als sich um eine menschliche Lösung zu bemühen.

Dabei könnte einiges getan werden. Vor allem müsste die Regierung finanzielle und personelle Ressourcen zur Verfügung stellen, um die Massaker zu untersuchen und den Migranten Schutz zu bieten. Damit könnte die Regierung ein wichtiges Signal senden, dass sie tatsächlich Gerechtigkeit für die Migranten herstellen will. (Ende/IPS/jk/25.08.2015)


* Carolina Jiménez ist wissenschaftliche Mitarbeiterin von Amnesty International


Link:

http://www.ipsnews.net/2015/08/opinion-mexicos-gruesome-war-against-migrants/

© IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH

*

Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 25. August 2015
IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
Marienstr. 19/20, 10117 Berlin
Telefon: 030 / 54 81 45 31, Fax: 030 / 54 82 26 25
E-Mail: contact@ipsnews.de
Internet: www.ipsnews.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. August 2015

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang