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MILITÄR/984: Im Zentrum der drohenden Eskalation - Die Bundeswehr in Litauen (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 30. Juni 2022
german-foreign-policy.com

Im Zentrum der drohenden Eskalation

Die NATO positioniert sich auf ihrem Gipfel gegen Russland. Litauen, Schwerpunktland der Bundeswehr, ist geostrategisch exponiert und unterliegt einem speziellen Eskalationsrisiko.


BRÜSSEL/VILNIUS/BERLIN - Die NATO erklärt Russland zu ihrer "bedeutendsten und unmittelbarsten Bedrohung" und richtet ihr neues Streitkräftemodell auf die Massierung militärischer Kräfte an ihrer Ostflanke aus. Dies geht aus dem neuen Strategischen Konzept und dem neuen Streitkräftemodell hervor, auf das sich die Staats- und Regierungschefs des westlichen Militärpakts auf ihrem gestrigen Gipfeltreffen in Madrid geeinigt haben. Zudem sollen künftig nicht mehr 40.000, sondern mehr als 300.000 Soldaten in hoher Einsatzbereitschaft gehalten werden. Den einzelnen Streitkräften werden darüber hinaus für den Fall eines Krieges feste Operationsgebiete zugeordnet. Die Bundeswehr wäre, dies geht aus dem Stand der Debatte hervor, vor allem für Litauen zuständig. Das Land, dessen Südteil zwischen Belarus sowie der russischen Exklave Kaliningrad liegt, ist dadurch geostrategisch exponiert; zudem ist seine Regierung, wie ihr Handeln in Konflikten mit China und mit Russland zeigt, außerordentlich provokationsbereit. Das erhöht die Eskalationsgefahr - nicht zuletzt auch für die Bundeswehr.

Das neue Streitkräftemodell

Die NATO hat gestern ihr neues Strategisches Konzept beschlossen und sich im Grundsatz auf ein neues Streitkräftemodell geeinigt. Demnach gilt Russland ihr als "bedeutendste und unmittelbarste Bedrohung"; ihr neues Streitkräftemodell ist vor allem auf die Massierung militärischer Kräfte an ihrer Ostflanke fokussiert. Das Modell, bislang wahlweise als New Force Model oder Allied Reaction Force (ARF) bezeichnet, sieht vor, dass nicht mehr rund 40.000 Soldaten in erhöhter Einsatzbereitschaft gehalten werden wie bisher im Rahmen der NATO Response Force (NRF). Schnell interventionsfähig sollen künftig mehr als 300.000 Soldaten sein. Dabei sollen den einzelnen Streitkräften bestimmte Operationsgebiete zugewiesen werden, für die sie im Kriegsfalle zuständig wären. Nur Teile von ihnen sollen dort fest stationiert sein; die Mehrheit der Truppen soll zwar regelmäßig in den Operationsgebieten Manöver durchführen, aber ihren Standort im Heimatland behalten. Um im Kriegsfall binnen kürzester Zeit intervenieren zu können, sollen sie in den Operationsgebieten Waffenlager anlegen. Das sichert ihre schnellstmögliche Verfügbarkeit an der Front.[1]

Operationsgebiet Litauen

Die Bundeswehr wird, wie Verteidigungsministerin Christine Lambrecht mitteilte, rund 15.000 Soldaten für das neue Streitkräftemodell bereithalten. Teil davon ist offenkundig die NATO-Battlegroup im litauischen Rukla, die kürzlich auf rund 1.600 Soldaten aufgestockt wurde; etwas mehr als 1.000 von ihnen kommen aus Deutschland. Die Battlegroup soll von Bataillonsstärke auf die Größe einer Kampfbrigade erweitert werden; das sind 3.000 bis 5.000 Militärs. Zwar wird der größere Teil von ihnen vermutlich nicht in Litauen stationiert sein, sondern dort lediglich zu Manövern einfliegen. Trotzdem stünde Litauen damit als potenzielles Operationsgebiet der Bundeswehr im Falle eines Krieges fest.

Der Suwałki-Korridor

Mit Litauen konzentriert sich die Bundeswehr auf ein Land, in dem aufgrund seiner geostrategischen Lage, aber auch aufgrund der speziellen Provokationsbereitschaft seiner gegenwärtigen Regierung eine besondere Eskalationsgefahr besteht. Litauens geostrategische Lage zeichnet sich dadurch aus, dass sein südlicher Landesteil gemeinsam mit dem äußersten Nordosten Polens die russische Exklave Kaliningrad von Belarus trennt. Der litauisch-polnische Landstreifen, der nach einer in ihm gelegenen polnischen Stadt "Suwałki-Korridor" genannt wird, ist an seiner engsten Stelle weniger als 100 Kilometer breit. NATO-Strategen operieren seit Jahren mit einem Szenario, dem zufolge Russland einen Angriff auf die baltischen Staaten einleiten könnte, indem russische Truppen von Belarus und Kaliningrad in den Suwałki-Korridor einmarschierten und damit Litauen, Lettland und Estland von allen anderen NATO-Staaten abschnitten.[2] Diese seien dann faktisch nicht mehr zu verteidigen. Der Suwałki-Korridor, gelegentlich auch als "Suwałki gap" ("Lücke von Suwałki") bezeichnet, nimmt in NATO-Planungen einen Stellenwert ein, der sich noch am ehesten mit dem Stellenwert der "Fulda gap" ("Lücke von Fulda") während der Ära des ersten Kalten Kriegs vergleichen lässt.

Streit um Taiwan

Die spezielle Provokationsbereitschaft der derzeitigen litauischen Regierung hat sich im vergangenen Jahr im Konflikt um die Eröffnung eines taiwanischen Repräsentationsbüros in der Hauptstadt Vilnius gezeigt. Der Vorgang war insofern bemerkenswert, als Litauen selbst - ein kleiner Ostseestaat ohne eine stärker nach Asien expandierende Wirtschaft - keine herausragenden eigenen Interessen in Ostasien hat. Im vergangenen Herbst starteten aber die Vereinigten Staaten eine Kampagne, die auf die Aufwertung Taiwans in internationalen Gremien und in der internationalen Politik insgesamt zielt. Sie ist Teil der US-Bemühungen, China zu schwächen und die Stellung des Westens in der Asien-Pazifik-Region zu stärken. Im Spätsommer und im Herbst vergangenen Jahres bereitete die litauische Regierung in intensiver Abstimmung mit den USA die Eröffnung eines Repräsentationsbüros für Taiwan vor, wie es auch in vielen anderen Staaten existiert, etwa in Deutschland; überall wird es, auf die auch im Westen offiziell anerkannte Ein-China-Politik Rücksicht nehmend, nach der Inselhauptstadt "Taipeh-Vertretungsbüro" genannt. Dass in Litauen die Vokabel "taiwanisch" für das Repräsentationsbüro verwendet wird, erklärt sich daraus, dass Vilnius die Rolle eines Prellbocks in Washingtons Taiwan-Kampagne akzeptiert hat (german-foreign-policy.com berichtete [3]). Ein weiter andauernder schwerer Konflikt zwischen Litauen und China war die Folge.

Die Kaliningrad-Blockade

Ähnlich prescht Litauen aktuell auch im Konflikt mit Russland vor. Die litauische Bahn hat zum 17. Juni begonnen, sämtliche Waren, die auf EU-Sanktionslisten verzeichnet sind, nicht mehr per Transit aus Belarus in die russische Exklave Kaliningrad zu transportieren. Schon zuvor hatte Litauen - wie fast alle Staaten Europas - seinen Luftraum für russische Flüge gesperrt; diese müssen seitdem den Umweg über Sankt Petersburg und die Ostsee nehmen. Nun ist Russland gezwungen, gut die Hälfte der bislang per Bahn transportierten Güter auf dem Seeweg nach Kaliningrad zu bringen, darunter Baumaterialien, Metalle, Zement. Im Lauf des Jahres soll die Landblockade auf Kohle und Erdöl ausgeweitet werden.[4] Moskau weist darauf hin, dass die Blockade Abkommen zwischen Russland und der EU aus den Jahren 1994 und 2002 verletzt, die den freien Transit von Waren aus zwischen Kaliningrad und dem Hauptteil des russischen Hoheitsgebiets vorsehen [5]; es behält sich noch nicht näher definierte Reaktionen vor. Gestern wurde berichtet, die EU verhandle mit Russland in der Sache und sei prinzipiell bereit, Kaliningrad von ihren Sanktionen auszunehmen. Dafür sei freilich Bedingung, dass die litauische Regierung damit einverstanden sei. Das ist dem Bericht zufolge zur Zeit noch nicht der Fall.[6]

Unmittelbar involviert

Eskaliert der Konflikt um Kaliningrad jetzt oder in Zukunft einmal unkontrolliert, dann wäre die Bundeswehr unmittelbar involviert: zum einen über ihre in Litauen stationierten Truppen, zum anderen über die Marine. Diese konzentriert sich in wachsendem Maß auf den Nordatlantik und vor allem die Ostsee, wo sie - in Rostock - seit geraumer Zeit dabei ist, ein neues, multinational nutzbares Marinehauptquartier zu errichten.[7] Marineinspekteur Jan Christian Kaack hat zu Wochenbeginn bekräftigt, die Deutsche Marine sei bereit, im NATO-Rahmen in der Ostsee eine Führungsrolle zu übernehmen.[8] Einziger Nicht-NATO-Staat dort wird nach dem in Kürze bevorstehenden NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens Russland sein. Dessen Baltische Flotte hat ihr Hauptquartier in Kaliningrad.


Anmerkungen:

[1] Press Conference by NATO Secretary General Jens Stoltenberg following the meeting of the North Atlantic Council at the level of Heads of State and Government (2022 NATO Summit). nato.int 29.06.2022

[2] S. dazu An der russischen Grenze.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7036/

[3] S. dazu Washingtons Prellbock
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8779
und Tabubrecher im Zweiten Kalten Krieg.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8800

[4] "Natürlich ist das Teil einer Blockade". tagesschau.de 21.06.2022.

[5] Oliver Klein: Darf Litauen Gütertransporte aufhalten? zdf.de 23.06.2022.

[6] Andrius Sytas, John O'Donnell: Kaliningrad row: EU nears compromise deal to defuse standoff with Russia. swissinfo.ch 29.06.2022.

[7] S. dazu Die Schaltzentrale für Ostseekriege
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7549/
und Neuer Kurs für die deutsche Marine.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8785

[8] Bereit für Führungsrolle in der Ostsee. tagesschau.de 28.06.2022.

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 2. Juli 2022

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