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PARTEIEN/083: Was an der Union noch konservativ ist (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2009

Was an der Union noch konservativ ist

Von Franz Walter


Auch wenn sich CDU und CSU am Abend der Europawahlen noch als Sieger sahen, unverkennbar ist, dass sich seit den 90er Jahren in der klassischen Partei des Konservatismus ein Erosionsprozess ereignet hat. Sie hat sich zunehmend säkularisiert und von Traditionen gelöst. Der dadurch aufreißende Graben zwischen den Teilmilieus wurde auch von der Kanzlerin nicht überbrückt.


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Es ist nicht einfach, im Jahr 2009 noch Volkspartei zu sein. Das gilt auch für die CDU. Ihre frühere Spannbreite als Partei der Konservativen, Sozialkatholiken und Wirtschaftsliberalen jedenfalls hat sich arg verengt. Konservativ, wie Sozialdemokraten ihre Gegner von der CDU immer noch gern in polemischer Absicht bezeichnen, sind Christdemokraten zumindest nicht mehr, wollen es mittlerweile auch nicht mehr sein. Denn schließlich: Als politische Weltanschauung hatte und hat der Konservatismus in modernen Mediengesellschaften einen schweren Stand. Im Unterschied zu den meisten anderen politischen Ideologien verfügte der Konservatismus nie über illuminierende Bilder von Zukunft. Konservative konnten nicht fröhlich auf der Panflöte der Menschheitsbeglückung spielen, durften keine Sirenengesänge der Emanzipation anstimmen, hatten nicht glänzenden Auges unbefangen dem Fortschritt zuzujubeln. Für Konservative galt eine politische Haltung, die allen Wunschbildern, Träumen, Utopien vom Anderssein mit erfahrungsgesättigtem Misstrauen begegnet. Immerhin: Etliche Konservative nahmen die Nachtschatten jeder Modernisierung wahr, die entheimatete, zerriss, entfremdete, desintegrierte - und dadurch radikalisierte. Für ein Reißbrettkonzept wie das der "Kopfpauschale" hatten nüchterne Konservative nur Kopfschütteln.

Die klassische Partei des Konservatismus in Deutschland war über die 90er Jahre hinweg liberal geworden. Zumindest ein Teil der christdemokratischen Parteielite entdeckte im Jahrzehnt darauf gar freudig die verpflichtungsfreie und multioptionale Lebensweise.


Von Traditionen gelöst

So verlor der Konservatismus in der CDU mehr und mehr an Boden. Für genuine Konservative und streng gläubige Katholiken waren das daher keine leichten Zeiten. Und das gilt bis heute: Sie sollen einer Partei die Treue halten, die sich zunehmend mehr selbstsäkularisiert und von Traditionen gelöst hat: in der Familienpolitik, beim Embryonenschutz, in der persönlichen Lebensführung ihres Spitzenpersonals. Die christdemokratische Parteielite goutiert nunmehr selbst die Vorzüge bindungslockerer Individualität.

Denn die sozialkulturelle, von den Roten und Grünen kräftig geförderte Entwicklung zum Entzug von den normsetzenden Kollektiven, öffnete den Raum auch für die Herren Wulff, Oettinger, Pflüger, Seehofer und etliche andere christlichdemokratische Protagonisten, neue Liebes- und Paarbeziehungen zu beginnen. In den ersten Jahrzehnten der Alt-Bundesrepublik hätte das für christdemokratische Repräsentanten noch das sichere Aus der politischen Karriere zur Folge gehabt. Das wurde anders; nun durfte sich eben auch ein christdemokratischer Regierungschef trauen, was in der rheinisch-katholischen Republik noch schlechterdings undenkbar gewesen wäre: sich mit seiner schwangeren neuen Lebensgefährtin in aller Öffentlichkeit stolz zu zeigen, obwohl die vorangegangene Ehe - der "Bund fürs Leben", wie es früher gerade im christdemokratischen Lager hieß - noch gar nicht offiziell geschieden wurde.

Kurzum: Das junge und mittelalte Bürgertum in Deutschland ging und geht ebenso zweite und dritte Ehen ein, will sich ebenso wenig für alle Zeiten in Partnerschaften, Religionsgemeinschaften und lokalen Sozialkontrollen zwingen und festklammern lassen wie der früher gerade deshalb wütend geächtete linke Gegner. Zumindest wollen auch nicht ganz wenige Christdemokraten am Sonntagmorgen, selbst wenn das Glockengeläut zum Kirchgang aufruft, lieber ausschlafen - so jedenfalls ließ sich die protestantische Pfarrerstochter und Kanzlerin Angela Merkel einmal munter vernehmen.

Sie können mit dieser demonstrativen Laxheit gegenüber kirchlich-christlichen Geboten auf den gesellschaftlichen Gesamttrend verweisen. Insgesamt haben sich die nachwachsenden Generationen den institutionellen, kulturellen und normativen Prägungen der christlichen Großkirchen entzogen. Das wird in den nächsten zwei bis drei Jahrzehnten auch politisch und gesellschaftlich durchschlagen. Unter den 50- bis 59-Jährigen gibt es heute noch 30%, denen die christliche Orientierung einer Partei wichtig ist, bei den 16- bis 25-Jährigen sind das weit unter 10%. Jeder dritte Deutsche ist mittlerweile sowieso konfessionslos. Im europäischen Religionsvergleich liegt Deutschland im Jahr 2008 ganz hinten. In Bundesländern wie Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt bezeichnen sich nicht einmal mehr 5% der repräsentativ befragten Bürger als "gottesgläubig". Insofern muss die CDU auf Gebote und Mahnungen des institutionalisierten Christentums nicht mehr besonders viel Rücksicht nehmen - und sie tut es auch nicht.

Eine solche Liberalisierung der Partei mag fällig gewesen sein. Doch sie hat zu einer spirituellen Leere geführt. In der modernen CDU herrscht normativ gewissermaßen eine Kantinenmentalität: Jeder nimmt sich aus den Vitrinen, was ihm kulinarisch gerade gefällt. Deshalb aber scheut die CDU eine entscheidungsorientierte Diskussion über die konstitutiven und hochumstrittenen Wertefragen von Politik und Gesellschaft. Sie fürchtet die Sprengkraft, wenn sich Konservative und Liberale, Traditionalisten und Modernisierer, Globalisierer und Heimatmenschen, Verlierer und Gewinner im Klein- und Großbürgertum über Normen und Ethiken des künftigen Zusammenlebens, also gleichsam auf ein gemeinsames Sinnmenü, einigen müssten. Denn zu einer solchen Werteintegration ist das mehrheitlich verweltlichte und individualisierte Bürgertum in Deutschland kaum mehr in der Lage.


Die Grundlagen sind porös geworden

Die bemerkenswert geschmeidige Elastizität des früheren christdemokratischen Erfolgmodells war immer abhängig von den festen Wurzeln, die es in den katholischen und konservativen Lebenswelten besaß. Die Loyalität der Basis sicherte den politischen Spielraum der christdemokratischen Führungsmannschaften ab. Die Autorität der Kirche war die Quelle für diese Loyalität. Der gemeinsame Glaube wiederum verband verschiedene soziale Schichten und Generationen. Die Traditionsstoffe hatten also die gesellschaftliche Integration ermöglicht, von der die Volkspartei nur zehrte, die sie aber nicht selbst herstellt und als säkularisierte liberale Zweckgemeinschaft auch nicht herzustellen vermag.

Dabei wird die Integration nicht leicht fallen. Die inneren Spannungen sind evident. Zum christdemokratischen Terrain gehört die Gruppe der "selbstgenügsamen Traditionalisten", wie es im Vokabular der Werteforscher heißt. Die meisten in diesem Milieu sind über 60 Jahre; darunter etliche Witwen, die sich in ihren eigenen vier Wänden am wohlsten und sichersten fühlen. Radikale Deregulierer und forsche Wettbewerbsapostel findet man dort selbstverständlich nicht. Stattdessen ist man für einen fürsorgenden Staat, der eingreift - und ungemütliche Reformen zunächst einmal unterlässt.

Außerdem haben die Sozialforscher noch das Segment der "autoritätsorientierten Geringqualifizierten" entdeckt. In diesem Milieu überwiegen ebenfalls die Rentner. Die materielle Situation ist denkbar fragil. Die Sorgen um den Erhalt des Lebensstandards sowie die Furcht vor Altersarmut sind überdurchschnittlich groß. Von weiteren Sozialreformen will man dort nichts wissen. Traditionell wird die CDU bevorzugt - doch gewiss nicht jene, die vor einigen Jahren noch die alte Wohlstands- und Konsensrepublik gründlich durchschütteln wollte.

Das Problem allerdings ist: Es existieren daneben natürlich einige konstitutive bürgerliche Lebenswelten, die ganz anders disponiert sind, aufgrund ihrer sozialen Privilegierung und beruflichen Zwänge auch anders denken und handeln können, ja müssen. Die Zugehörigen zu den Lebenskreisen der von den Lebensweltforschern so genannten "Leistungsindividualisten" und "etablierten Leistungsträger" empfinden wenig bis gar keine Sympathien für einen sozial intervenierenden Staat. Und marktwirtschaftliche Reformen können den meisten von ihnen gar nicht schnell und energisch genug in Gang gesetzt werden. Es war kein Zufall, dass die integrationsschwache CDU des Bundestagswahljahres 2005 auf beiden Seiten gravierend verlor, bei den "kleinen Leuten" mit Traditionsorientierung hier, im ungeduldigen Bürgertum der neuen Generation dort.

Über eine den neuen Umständen angemessene Integrationsidee verfügt auch und gerade die Bundeskanzlerin nicht. Angela Merkel ist bekanntlich "kohlistisch" im Umgang mit der Macht. Soll heißen: Sie schmiegt sich den jeweiligen Beweglichkeiten der Zeit an; sie prägt nicht. Verbittert waren daher über mehrere Monate des Jahres 2009 die Wirtschaftsliberalen in ihrer Partei, die ordnungspolitische Verlässlichkeit im zunehmend etatistischen Regierungshandeln vermissten und besorgt den rasanten Abfluss vieler früherer christdemokratischer Wähler aus dem gewerblichen Bürgertum Richtung FDP konstatierten. Die Union befindet sich auch weiterhin dadurch in einer historisch-politischen Zwickmühle. Die Partei lebte lange von einer katholisch geprägten bundesrepublikanischen Sozialstaatlichkeit, die nach wie vor in breiten Schichten der Bevölkerung hartnäckig geschätzt, von der Mitte der gewerblichen Bürger aber zunehmend weniger akzeptiert wird. Der Neo-Etatismus der Kanzlerin-CDU in der Großen Koalition über das Frühjahr 2009 hinweg hat diesen Graben innerhalb des eigenen Lagers geöffnet. Nicht zuletzt das hat dazu geführt, dass die CDU/CSU bei den Eoropawahlen 2009 fast elf Prozentpunkte weniger erreichte als noch zehn Jahre zuvor. Die Erosion ist unverkennbar und markant. Nicht nur die Sozialdemokraten haben Mühe, realistische Bilder der Hoffnung für postsozialistische und postkapitalistische Zeiten zu entwerfen. Auch die Christdemokraten in Deutschland sind ohne tragfähiges Modell. Ihnen fehlt ein einleuchtendes Paradigma, den klassischen katholischen Solidarismus und die neuerdings schwer verunsicherte protestantisch-säkularisierte Bürgerlichkeit in der Großkrise von Wirtschaft und Gesellschaft noch zur Synthese zu verknüpfen. Eine christdemokratische Renaissance steht nicht an.


Franz Walter (* 1956) ist Professor für Parteienforschung an der Universität Göttingen. Zuletzt erschienen bei Suhrkamp: Baustelle Deutschland, Politik ohne Lagerbindung.
fwalterl@gwdg.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2009, S. 46/49
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. August 2009