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PARTEIEN/166: Die Zeit der Besenstiele ist vorbei (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 156/Juni 2017
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Die Zeit der Besenstiele ist vorbei

Lokaler Kandidatenwettbewerb zeigt die Personalisierung der Politik

von Bernhard Weßels


Kurz gefasst: Neben der Programmatik einer Partei spielen immer stärker die Persönlichkeiten der Kandidatinnen und Kandidaten eine Rolle für den Wahlausgang. Im Rahmen der Deutschen Wahlstudie GLES wurde untersucht, wie sich diese Entwicklung auf den Wahlkampf in den Wahlkreisen auswirkt. Es zeigt sich: Wo der Wettbewerb um die parteiinterne Nominierung stark ist, richten Kandidaten ihren Wahlkampf strategisch verstärkt auf ihre Person aus. Dasselbe gilt für die zweite, entscheidende Runde, den Kampf um die Wählerstimmen. Auch hier nimmt die Personalisierung mit stärker werdendem Wettbewerb zu.


"Hier im konservativen Teil von Baden könnte die CDU den sprichwörtlichen Besenstiel aufstellen, und er würde gewählt." Das war in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 14. September 2012 zu lesen, in einem Geburtstagsglückwunsch für Wolfgang Schäuble. Ein Aufruf zur Demut für den Jubilar, denn dahinter stand die These, dass die Wählerinnen und Wähler in ihrem jeweiligen Wahlkreis nach Parteien abstimmen, dass also die persönlichen Eigenschaften und Qualitäten von Kandidatinnen und Kandidaten kaum einen Unterschied machen.

Diese These galt unter Deutschlands Wahlanalysten über lange Zeit. Nun lehrt heute jeder Blick in Zeitungen, Fernsehen oder ins Internet, dass Personen in der Politik immer wichtiger werden. Wahlen, so scheint es, werden nicht von Programmen, sondern von Spitzenkandidatinnen gewonnen. Allerdings wählt das Volk in parlamentarischen Demokratien, anders als in präsidentiellen Systemen, nicht Regierungs- oder Staatsoberhäupter an die Spitze, sondern Parteien ins Parlament. Deutschland hat aber ein gemischtes Wahlsystem, das eben nicht nur die Wahl für eine Parteiliste, sondern auch die Wahl einer Person in einem Wahlkreis erlaubt: die personalisierte Verhältniswahl, in der letztendlich die Mandate proportional zu den Zweit-, also den Parteilistenstimmen verteilt werden. Angesichts der massenmedialen Aufmerksamkeit für Personen in der Politik haben wir die Frage gestellt, welche Rolle die individuellen Kandidaten bei Wahlen in Deutschland spielen. Kurz gesagt: Wir haben die Besenstielthese überprüft.

Im Rahmen der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft als Langfristprojekt gefördert deutschen Wahlstudie GLES (German Longitudinal Election Study), die die Bundestagswahlen 2009 bis 2017 untersucht, wird dieser Frage mit der Deutschen Kandidatenstudie nachgegangen. In diesem Studienteil werden zu den Bundestagswahlen die Kandidaten aller relevanten Parteien befragt. Das sind jene Parteien, die vor der Wahl 2013 im Bundestag vertreten waren: SPD, CDU, CSU, Bündnis 90/Die Grünen, FDP und Die Linke, sowie die beiden nach Umfragen im Vorfeld der Bundestagswahl größten nicht im Parlament vertretenen Parteien: die Piratenpartei und die AfD. Diese Auswahlgesamtheit umfasste 2.776 Kandidatinnen und Kandidaten. Alle waren eingeladen, an der Befragung teilzunehmen. Teilgenommen haben 1.137, von denen 232 bei der Bundestagswahl 2013 auch gewählt wurden. Das entspricht insgesamt einer Ausschöpfung von 41 Prozent, unter den gewählten Kandidatinnen von knapp 37 Prozent.

Einige Entwicklungen sprechen dafür, dass Wählerinnen und Wähler bei der Stimmabgabe im Wahlkreis nicht nur die Parteizugehörigkeit der Kandidatinnen und Kandidaten im Blick haben. So ist das Stimmensplitting, also die Wahl unterschiedlicher Parteien bei Erst- und Zeitstimme - von 1957 bis 2009 fast kontinuierlich von 6,4 Prozent auf 26,4 Prozent angestiegen; 2013 lag es bei 23,0 Prozent. Es spricht einiges dafür, hinter den Motiven für das Splitting nicht nur strategische Motive zu sehen, sondern auch die Beurteilung von Personen als Gründe anzunehmen.

In den letzten Jahrzehnten hat sich im Durchschnitt der Wettbewerb zwischen den erfolgreichsten Kandidatinnen und Kandidaten im Wahlkreis verstärkt. In den 1960er Jahren lag der mittlere Abstand im Stimmenanteil zwischen Wahlkreisgewinner und zweithöchstem Stimmenanteil noch bei 17 Prozentpunkten, in den 1980er Jahren dann bei knapp 16 Prozentpunkten und seit der deutschen Vereinigung 1990 im Schnitt bei etwas mehr als 14 Prozentpunkten. Mögen die Veränderungen der Durchschnittswerte auch nicht besonders groß erscheinen, so drücken sie doch einen deutlichen Anstieg des Wettbewerbs aus. Der Anteil der Wahlkreise, in denen der Abstand zwischen bestem und zweitbestem Wahlergebnis nur 5 Prozentpunkte oder weniger beträgt, lag zum Beispiel 1969 bei 14,9 Prozent, 1987 bei 21,8 und 2009 bei 26,8 Prozent. Der Wettbewerb auf der Wahlkreisebene nimmt also zu.

Der politische Wettbewerb spielt sich im Wahlkreis auf zwei Ebenen ab, die zeitlich hintereinanderliegen: Die erste Ebene ist der innerparteiliche Wettbewerb um die Nominierung. Werden die Anteile derjenigen befragten Kandidatinnen und Kandidaten, die 2013 angegeben haben, ihre Nominierung im Wahlkreis sei umkämpft gewesen, mit den Ergebnissen früherer Studien z.B. zur Bundestagswahl 1965, 2002 oder 2009 verglichen, zeigt sich ein deutlicher Anstieg: 1965 waren lediglich 16 Prozent der Nominierungen bei CDU/CSU und SPD (den Parteien, die Wahlkreise gewannen) umstritten, bei der Bundestagswahl 2002 etwa 29 Prozent und bei der Bundestagswahl 2009 schließlich etwa 40 Prozent der Wahlkreisnominierungen.

Die zweite und zeitlich nach der Nominierung liegende Ebene des Wettbewerbs ist der Kampf um Stimmen der Wählerinnen und Wähler. Für die Motivation und das Handeln der Kandidatinnen und Kandidaten ist entscheidend, wie sie die Situation für sich wahrnehmen. Daher wurden sie danach gefragt, wie sie ihre Chancen zu Beginn des Wahlkampfes und am Ende des Wahlkampfes eingeschätzt haben, im Wahlkreis ein Mandat gewinnen zu können.

Realistisch gingen mehr als 60 Prozent der Kandidatinnen und Kandidaten davon aus, keine Chance auf ein Mandat zu haben, und etwa 12 Prozent davon, dass sie wahrscheinlich oder sogar auf jeden Fall ein Mandat erringen könnten. Die Einschätzungen zu Beginn und am Ende des Wahlkampfes unterscheiden sich kaum voneinander. Wenig überraschend, dass kurz vor der Wahl die Erwartung eines sicheren Mandatsgewinns mit 38,5 Prozent bei der CDU und 72,7 Prozent bei der CSU sehr weit verbreitet ist. Bei der SPD rechnen noch 10 Prozent damit, das Mandat auf jeden Fall zu gewinnen, bei der FDP, den Piraten und der AfD tut das niemand, bei den Grünen und der Linken 2,2 bzw. 1,4 Prozent.

Dass die große Mehrheit der Kandidatinnen und Kandidaten ihre jeweiligen Chancen ziemlich realistisch einschätzen konnte, zeigt sich, wenn man die durchschnittlich erzielten Erststimmenanteile und die Anteile derjenigen, die das Mandat errungen haben, betrachtet. Unter denjenigen, die einschätzten, kein Mandat erringen zu können, lag der mittlere Erststimmenanteil bei 5,3 Prozent, der Anteil derjenigen, die ein Mandat errungen hatten, bei 0,2 Prozent. Bei denjenigen, die davon ausgingen, auf jeden Fall ein Mandat zu gewinnen, lag der durchschnittliche Erststimmenanteil bei 43,7 Prozent und der Anteil derjenigen, die ein Mandat erzielten, bei 75 Prozent.

Setzen die Kandidatinnen und Kandidaten die Zunahme des politischen Wettbewerbs in entsprechendes Handeln im Wahlkampf um? Die Signale, die von zunehmendem Stimmensplitting und zunehmendem Stimmenwettbewerb ausgehen, wie auch die zunehmende Konkurrenz bei der Nominierung verweisen darauf, dass es zunehmend nicht mehr nur um Parteien und Parteizugehörigkeit, sondern auch um Personen zu gehen scheint. Ob die Kandidatinnen und Kandidaten auf diese Herausforderung reagieren, kann durch die Analyse zweier Handlungsweisen geprüft werden. Zum einen wurden die Kandidatinnen und Kandidaten danach gefragt, ob sie in ihrem Wahlkampf ihre Strategie darauf ausrichten, "möglichst viel Aufmerksamkeit für sich als Kandidatin/Kandidaten zu gewinnen" oder "möglichst viel Aufmerksamkeit für ihre Partei zu gewinnen". Eine zweite Frage zielt auf die konkrete Wahlkampfaktivität und bestimmt, wie stark die Kandidatinnen und Kandidaten in ihrem Wahlkampf als Thema ihre persönlichen Eigenschaften und ihren persönlichen Hintergrund betont haben (vgl. hierzu die Abbildung).


Diagramm: Wettbewerb im Wahlkreis und personalisierter Wahlkampf - © WZB

Personalisierung als Strategie: Wo würden Sie Ihren Wahlkampf auf einer Skala von 1 bis 11 einordnen, auf der 1 bedeutet "möglichst viel Aufmerksamkeit für mich als Kandidatin/Kandidaten gewinnen" und 11 bedeutet "möglichst viel Aufmerksamkeit für meine Partei gewinnen"?
Thema: Wie sehr haben Sie Folgendes in Ihrem Wahlkampf betont? (1) sehr stark, (2) stark, (3) mittelmäßig, (4) weniger stark, (5) überhaupt nicht? Item (H): meine persönlichen Eigenschaften und meinen persönlichen Hintergrund, Anteil "sehr stark".
Abstand zum Konkurrenten: Differenz der jeweiligen Kandidatin bzw. des jeweiligen Kandidaten zur Gewinnerin bzw. zum Gewinner im Wahlkreis. Niedriger Abstand: 0 (= Gewinner) bis zu 10 Prozentpunkte; hoher Abstand: mehr als 10 Prozentpunkte Differenz zum höchsten Stimmenanteil.
© WZB

Wenn die Entscheidung für eine personenbezogene Wahlkampfstrategie im Zusammenhang steht mit dem Wettbewerbsdruck, den die Kandidatinnen und Kandidaten wahrnehmen, sollte sich das zunächst am Nominierungswettbewerb zeigen. Je stärker umstritten die Nominierung, desto stärker sollten Kandidatinnen und Kandidaten ihren Wahlkampffokus und ihr Wahlkampfthema auf sich als Person ausgerichtet haben. Genau das zeigt sich empirisch. Dort, wo der Nominierungswettbewerb hoch war, berichten 40 Prozent der Kandidatinnen und Kandidaten, dass sie den Fokus ihres Wahlkampfes auf möglichst viel Aufmerksamkeit für sich als Person gelegt haben, bei geringem Nominierungswettbewerb waren es lediglich 16 Prozent. Nicht ganz so deutlich fällt der Unterschied hinsichtlich der Thematisierung der eigenen Person aus. Bei niedrigem Nominierungswettbewerb geben 20 Prozent der Kandidatinnen und Kandidaten an, ihre Person zu thematisieren, bei hohem Wettbewerb sind es 27 Prozent.

Ein ähnliches Bild ergibt sich bezogen auf die Einschätzung der Chance, gewählt zu werden. Dort, wo sie als hoch eingeschätzt wird, wird auch stärker eine Strategie der Personalisierung angestrebt und konkret die Person thematisiert: 48 Prozent geben an, als Strategie die Fokussierung auf sich als Person zu verfolgen, 30 Prozent thematisieren in der lokalen Themensetzung im Wahlkampf sich selbst als Person. Bei denjenigen ohne Wahlchance liegen die Anteile mit 16 bzw. 19 Prozent deutlich niedriger.

Die Wahrnehmung, eine Chance zu haben gewählt zu werden, spricht auf den ersten Blick nicht für einen starken Wettbewerb. Häufig ist die Situation aber die, dass Kandidatinnen und Kandidaten, die eine Chance haben, auch Konkurrenz durch jemanden haben, die oder der auch nicht aussichtslos ist. Bei etwa einem Viertel der Gewählten betrug der Abstand zur zweiten Position im Wahlkreis 5 Prozentpunkte oder weniger, die Rennen waren also durchaus eng.

Dass es engere Wahlausgänge sind, die zu einer Strategie eines personenorientierten Wahlkampfs führen, zeigen die Ergebnisse für Kandidatinnen und Kandidaten, bei denen der Abstand zum Gewinner kleiner als 10 Prozentpunkte ist: 57 Prozent von diesen Kandidatinnen und Kandidaten wählen einen strategischen Personenfokus, und 33 Prozent unter ihnen sich selbst als Wahlkampfthema. Dort, wo die Abstände größer sind, also eher keine Wahlchance besteht, richten nur 12 Prozent ihren Fokus auf die Person, und nur 19 Prozent thematisieren die persönlichen Eigenschaften und den eigenen Hintergrund.

Ist diese Entscheidung für einen personenzentrierten Wahlkampf bei stärkerem Wettbewerb eine Erfolg versprechende Strategie? Ganz einfach zu beantworten ist diese Frage nicht, weil viele Faktoren Auswirkungen auf den Wahlerfolg haben. Beschreibend lässt sich feststellen, dass der Anteil derjenigen, die eine Strategie der Personalisierung ihres Wahlkampfes verfolgen, unter denjenigen, die ein Mandat gewonnen haben, 55 Prozent beträgt, während er unter denjenigen, die kein Mandat gewonnen haben, nur 19 Prozent beträgt. Die personenbezogene Strategie macht also einen Unterschied.

Dieser Befund gilt auch, wenn viele weitere Faktoren mit betrachtet werden, wie Ressourcen- und Personaleinsatz im Wahlkampf und anderes mehr. Unsere Analysen zeigen, dass eine personenbezogene Strategie neben im Wahlkampf eingesetzten finanziellen Ressourcen und dem Amtsinhaberbonus einen statistisch signifikanten positiven Effekt auf den Stimmenanteil im Wahlkreis haben. Personalisierung im Wahlkreis bringt Wählerstimmen.


Bernhard Weßels ist stellvertretender Direktor der Abteilung Demokratie und Demokratisierung und Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Interessen gelten vor allem der Wahlforschung sowie der Interessenvermittlung und politischen Repräsentation.
bernhard.wessels@wzb.eu


Literatur

Giebler, Heiko; Weßels, Bernhard. 2013. Campaign Foci in European Parliamentary Elections: Determinants and Consequences. Journal of Political Marketing 12, S. 53-76.

Giebler, Heiko; Weßels, Bernhard. 2016. If You Don't Know Me by Now: Explaining Local Candidate Recognition. German Politics Published online: 15 Jun 2016, S. 1-21.

Giebler, Heiko; Weßels, Bernhard; Wüst, Andreas. 2014. Does Personal Campaigning Make a Difference? In: Weßels, Bernhard; Rattinger, Hans; Roßteutscher, Sigrid; et al. (Eds.). Voters on the Move or on the Run? Oxford/New York: Oxford University Press, S. 139-163.

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 156, Juni 2017, Seite 10-13
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. August 2017

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