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PARTEIEN/184: Die SPD im Wandel - Klassenpartei, Kompromisspartei, Wertepartei (spw)


spw - Ausgabe 5/2019 - Heft 234
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Analyse & Strategie
Die SPD im Wandel: Klassenpartei, Kompromisspartei, Wertepartei

von Sebastian Jobelius und Konstantin Vössing[1]


Wir stellen in diesem Artikel dar, warum und wie sich die SPD zu einer Wertepartei entwickeln muss, um weiterhin Volkspartei zu bleiben.

Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert hat sich die Sozialdemokratie als Klassenpartei für die Arbeiter aufgestellt. Dies war für die deutschen Sozialdemokraten im politischen Kontext des Kaiserreichs die richtige Entscheidung. Durch intensive Mobilisierung und Solidarisierung gelang es, die große Gruppe der politisch und ökonomisch ausgeschlossenen Arbeiter unter repressiven Bedingungen erfolgreich zu vertreten und zu einem relevanten politischen Akteur zu machen (Vössing 2017).

Aufgrund von deutlich verbesserten ökonomischen Bedingungen, weniger ausgeprägten Klassengegensätzen und neuen demokratischen Gestaltungsmöglichkeiten war die Klassenpartei in der Nachkriegszeit keine Erfolgsformel mehr. Die SPD hat daher die richtige Entscheidung getroffen, als sie sich 1959 mit dem Godesberger Programm endgültig von der Klassenpartei zur Kompromisspartei weiterentwickelt hat. An die Stelle der Interessenvertretung von Arbeitern trat der Ansatz, als Volkspartei mit einem breit angelegten politischen Programm verschiedene soziale Gruppen anzusprechen und den sozialen Kompromiss zwischen diesen Gruppen politisch zu verkörpern.[2] Die Weiterentwicklung zur Partei des Sozialkompromisses ermöglichte es der SPD nicht nur, neue Zielgruppen zu erreichen. Es war auch ein notwendiger Schritt, um die eigene Kernanhängerschaft wieder erfolgreich zu mobilisieren.

Im Folgenden zeigen wir, warum heute der Ansatz der Sozialkompromisspartei an seine Grenzen stößt, warum die SPD sich zu einer Wertepartei weiterentwickeln sollte, und wie das in der politischen Praxis gelingen kann.[3]

Die aktuelle Debatte zur Neuausrichtung der SPD

Die Beiträge zur aktuellen Erneuerungsdebatte stehen für unterschiedliche politische Richtungen, orientieren sich aber weiterhin ganz überwiegend am Modell der Sozialkompromisspartei. Sie empfehlen der SPD, einen Kompromiss gesellschaftlicher Gruppen zu schmieden und in der Politik zu repräsentieren. Politische Vorlieben von Bürgerinnen und Bürgern entstehen nach Ansicht dieses Ansatzes aus der Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Gruppen, die entweder als Klassen, Schichten, Milieus oder Berufsgruppen beschrieben werden. Geringqualifizierte Arbeiter wollen demnach "robuste" Migrationspolitik, um ihren bedrohten Status gegenüber Neuankömmlingen zu behaupten; der urbane Kreativarbeiter möchte größtmögliche ökonomische und gesellschaftliche Offenheit; und die "neue" wie auch die "leistungsbereite" Mitte will eine Mischung aus moderater Sozialpolitik und progressiver Gesellschaftspolitik.

Der Kompromiss, der fiktive Koalitionen zwischen verschiedenen sozialen Gruppen zusammenhalten soll, besteht darin, politische Positionen miteinander zu kombinieren, von denen erwartet wird, dass sie alle beteiligten Gruppen jeweils politisch zufriedenstellen und zur Unterstützung der SPD anregen. Das in die deutsche Debatte eingebrachte "dänische Modell" zum Beispiel schlägt eine "robuste" Einwanderungspolitik gepaart mit "wirtschaftlichem Sachverstand" vor. Es zielt auf eine soziale Koalition von Globalisierungsverlierern und bestandswahrender Mittelschicht ab. Das Modell der umfassenden Linkswende hat den ambitionierten Anspruch, progressive junge Urbane und abgehängte Globalisierungsverlierer zu einer weltoffenen Linkskoalition zu vereinen. Das "Macron-Modell" aus progressiver Gesellschaftspolitik, moderater Sozialpolitik und internationaler Orientierung ist eine Fortsetzung der Strategie der "neuen Mitte" aus den neunziger Jahren. Es versucht die liberalen und "leistungsorientierten" Mittelschichtmilieus zu gewinnen ohne klassische Arbeiter- und einfache Angestelltenmilieus zu verprellen. Das entgegengesetzte Modell der Renationalisierung von Politik kombiniert mit massiver Umverteilung verfolgt die Idee der "Rückgewinnung der Arbeiterklasse".

Die SPD hat sich nie das eine oder andere Modell offiziell zu eigen gemacht. Ihre Programmatik und Politik sind aber stets von dem Bemühen geprägt, es der einen Gruppe recht zu machen und dabei die andere Gruppe zumindest nicht zu vergraulen. Die Wahlergebnisse der letzten Jahre zeigen, dass diese Versuche zunehmend scheitern. Die Bundestagswahlen 1998 und bereits mit starken Abstrichen 2002 waren die letzten Wahlen, bei denen die SPD mit einer Kombination politischer Angebote (Innovation und Gerechtigkeit) tatsächlich eine angestrebte Koalition verschiedener Wählergruppen schmieden konnte. Manche machen als Ursache dafür einen Verlust an politischen Sekundärtugenden aus. Es fehle an Standhaftigkeit, Anstand und Haltung. Teilweise wird behauptet, es gebe eine machtversessene Elite in der SPD, der es nicht um die Sache gehe und die zum reinen Machterhalt ständig "faule" Kompromisse schließe. Wenn wieder wahre, unverbogene und standhafte Sozialdemokraten das Sagen bekämen, würde die SPD auch wieder "ihre" Wählergruppen mobilisieren können.

Wir argumentieren dagegen, dass die Ursachen für die immer weiter abnehmende Wirkungsmacht des Sozialkompromissansatzes woanders liegen. Sie haben mit einem tiefgreifenden gesellschaftlichen und ökonomischen Strukturwandel zu tun, der die politische Meinungsbildung und Erwartungshaltungen verändert.

Zum einen haben die ökonomischen Veränderungen dazu geführt, dass die klassische Politik des nationalstaatlichen Sozialkompromisses auch gemessen an ihren Ergebnissen an Wirkungs- und Überzeugungskraft verloren hat. Globalisierung und Digitalisierung reduzieren ganz massiv die Effektivität des bisherigen Maßnahmenkatalogs des sozialen Ausgleichs, mit dem sich zuvor im nationalen Rahmen ein Sozialkompromiss umsetzen ließ. Die sozialdemokratische Interessensvertretungs- und Maßnahmenrhetorik wirkt deshalb an vielen Stellen hohl, weil die Welt heute für alle spürbar komplexer ist als das althergebrachte politische Weltbild.

Zum anderen haben die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse zum Ergebnis, dass sich die politischen Präferenzen der Bürgerinnen und Bürger immer weniger aus ihrer soziodemografischen Lage heraus ableiten lassen. Sozialstrukturelle Zugehörigkeiten waren schon immer nur eine von vielen Determinanten des Wahlverhaltens, und ihr Einfluss sinkt stetig weiter. Studien über den Zusammenhang zwischen sozialen Milieus und der Wahlentscheidung bei der Bundestagswahl 2017 zeigen, dass es in keinem einzigen (!) sozialen Milieu eine dominante Partei gibt, und dass die SPD in keinem Milieu (!) mehr als 25 Prozent Zustimmung erzielt (Vehrkamp und Wegscheider 2017, S. 33; Müller-Hilmer und Gagné 2018, S. 19). Politisch homogene Einheiten sind diese Milieus also nachweislich nicht. Die Schlussfolgerung bleibt die gleiche, wenn statt Milieus Klassen oder Schichten zugrunde gelegt werden. Klassen- und schichtbasiertes Wählen ist massiv zurückgegangen und kann nur noch einen kleinen Teil der Wahlentscheidung für eine stetig sinkende Anzahl von Wählerinnen und Wählern erklären (Franklin et al. 2009, Evans 1999, Evans und de Graaf 2013).

In einer Gesellschaft ohne stabil sozial verankerte politische Vorlieben gewinnen daher individuelle Wertvorstellungen als Ansatzpunkt zur Ansprache von Wählerinnen und Wählern an Bedeutung. Werte sind das Ergebnis von Erziehung, charakterlichen Eigenschaften, individueller Lebensführung, gesellschaftlichen Erfahrungen sowie der materiellen Lebenslage und der sozialstrukturellen Zugehörigkeit. Werte stellen somit am Ende eines Trichters der politischen Meinungsbildung die einflussreichste Ursache für das Wahlverhalten dar.[4] Aktuell zeigt sich das zum Beispiel an der Wahlentscheidung für rechtspopulistische Parteien. Hier haben Werte und Einstellungen einen viel größeren Einfluss als sozialstrukturelle Faktoren und materielle Lebenslagen (Giebler und Regel 2018, Gidron und Hall 2017).

Die SPD muss deshalb aufhören, sich als Vertreterin von abstrakten Gruppen zu definieren. Sie muss stattdessen ihre Politik wertebasiert herleiten und begründen. Schon heute versucht die Partei das an vielen Stellen, zum Beispiel bei der Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns, bei der Grundrente oder bei der Vorstellung ihres neuen Sozialstaatskonzepts.[5] Es fehlt aber eine systematische und nachhaltige Orientierung an Werten als alternativer strategischer Ansatz. Im politischen Alltag fällt die Partei deswegen immer wieder auf die Heuristik des Sozialkompromisses und die dahinterstehenden Annahmen über die Einstellungsmuster bestimmter sozialer Gruppen zurück. Auch die aktuelle Festlegung auf "Zusammenhalt" als oberster Orientierungspunkt der SPD ist nach unserer Auffassung Ausdruck eines Formelkompromisses. Zusammenhalt beschreibt auf treffende Weise, wie die SPD das Bilden und Zusammenhalten sozialer Allianzen als Wert an sich betrachtet. So richtig das Ziel ist, so klar ist auch, dass entscheidend für die Mobilisierung von Wählerinnen und Wählern die Frage ist, entlang welcher Werte und mit welchen Maßnahmen Zusammenhalt hergestellt werden soll.

Der Wandel zur Partei der Werte

Wir argumentieren daher, dass die SPD sich nach ihrem Wandel von der Klassenpartei zur Sozialkompromisspartei heute zu einer Wertepartei weiterentwickeln soll. Damit würde die SPD dem Wandel ihrer Mitgliederstruktur, Anhängerschaft und Wählerschaft sowie den veränderten politischen Meinungsbildungsprozessen in der Bevölkerung in richtiger Weise Rechnung tragen. Die Partei würde so ihre eigenen gesellschaftspolitischen Erfolge auch in ihrer parteipolitischen Strategie anerkennen und daraus die richtigen Schlussfolgerungen ziehen. Die SPD hat nämlich mit ihrer erfolgreichen Politik selbst dafür gesorgt, dass in Deutschland mittlerweile viele Bürgerinnen und Bürger aus unterschiedlichsten Schichten und Milieus sozialdemokratisch denken und handeln.[6]

Der ausdrücklich solidarisch eingestellte Teil der Bürgerinnen und Bürger, mit einem ausgeprägten Sinn für soziale Gerechtigkeit, ist heute die potenzielle Stammwählerschaft der SPD. Sie anzusprechen und zu mobilisieren ist die wichtigste Aufgabe der Partei.

Natürlich sind Werte für die SPD nichts Neues. Sie ist immer schon eine Partei mit Werten gewesen. Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität sind die Grundwerte der SPD. Die Anhänger und Mitglieder der Partei definieren sich in vielerlei Hinsicht über diese geteilten Werte. In der politischen Arbeit und Kommunikation wird der Wertebezug der eigenen Politik aber häufig von anderen Motiven und Begründungen überlagert.[7] Aus diesem Grund sagen viele Menschen, sie wüssten nicht wofür die SPD eigentlich steht. Hier muss die SPD ansetzen: Es geht für die Partei darum, ihre Werte in den Mittelpunkt ihrer Politik zu rücken und sie zur Maxime ihres Handelns zu machen.

Der Fokus auf Werte erlaubt es der Partei, das formelhafte Diskutieren von Positionen ("nach links rücken", "robuste Migrationspolitik", "Kollektivierung", "Vermögenssteuer jetzt") und Zielgruppen ("wir müssen Politik machen für die Krankenschwester/die Abgehängten/urbane Kreative etc.") hinter sich zu lassen und stattdessen wieder echte Wählerbindungen aufzubauen. Das ist der SPD nämlich nicht mehr gelungen - obwohl sie seit der Einführung der Rente mit 67 vor 14 Jahren ausnahmslos Politik umgesetzt hat, mit der die materiellen Lebensbedingungen von Arbeitnehmern eindeutig und spezifisch verbessert wurden.

Die Hoffnung auf eine wertebasierte Politik hat auch während des sogenannten Schulz-Hypes viele Wählerinnen und Wähler kurzfristig wieder zur SPD geführt. Die kurze Episode zeigt, dass es der SPD gelingen kann, neue Wählerbindungen aufzubauen. Das Abflauen von Parteibindungen ist nämlich keine unveränderliche Konsequenz eines gesellschaftlichen Individualisierungsprozesses, sondern das Resultat des fehlenden systematischen Wertebezugs der Partei.[8] Die Schulz-Episode zeigt auch, dass eine Wertepartei ihre Werte mit passenden politischen Maßnahmen unterfüttern muss. Der Verzicht auf diesen Schritt war der entscheidende Grund für das abrupte Nachlassen der kurzzeitigen Begeisterung für die SPD.

Die SPD als Wertepartei aufzustellen bedeutet nicht, die materiellen Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus dem Blick zu verlieren. Im Gegenteil. Die Werte, durch die sich die SPD definiert, schließen ganz grundlegend materielle Erwartungen und Bedürfnisse mit ein. Die Orientierung an Werten erlaubt es der SPD zudem, wieder als politischer statt als taktischer Akteur wahrgenommen zu werden. Denn eine Partei der Werte muss formulieren was sie will anstatt zu definieren wem sie es recht machen will. Der Fokus auf Werte nimmt dabei die Menschen in der Gesamtheit ihrer Wünsche und Vorlieben ernst, anstatt sie auf ihre sozialstrukturelle Lage zu reduzieren. Niemand ist und niemand will nur Chemielaborant, Bankdirektorin oder Webdesigner sein. Jeder will seine politischen Überzeugungen als Teil seiner gesamten Persönlichkeit und Menschlichkeit verstanden sehen.

Die Weiterentwicklung zu einer Wertepartei mitsamt den dazugehörigen Instrumenten wäre also der Versuch, eine neue Bindung aufzubauen zwischen den heutigen Anhängerinnen und Anhängern des sozialdemokratischen Gedankens und der SPD als Partei, die für sich in Anspruch nimmt, diesen Gedanken politisch zu vertreten. Im Folgenden beschreiben wir entlang von vier Säulen, wie eine solche Weiterentwicklung der SPD in der politischen Praxis umgesetzt werden kann.

Die vier Säulen einer SPD der Werte
Erste Säule: Die SPD als meinungsprägende, zuhörende und responsive Partei

Als Wertepartei muss die SPD eine meinungsprägende Partei sein. Sie muss deutlich machen, was ihre Werte sind und sie muss den Willen haben, die Menschen von ihren Werten und ihrem Programm zu überzeugen. Es kann allerdings nur gelingen, Meinungen zu prägen, wenn die Partei nicht nur Botschaften senden, sondern auch zuhören und Rückmeldung geben kann. Hier fehlen der SPD jedoch mittlerweile häufig schlicht die Zugänge. Politische Einstellungen und Meinungen werden heute immer weniger über soziale Strukturen und Organisationen vermittelt, und mit der Auflösung klassischer Unterstützermilieus geht der Partei ein direkter Draht zu den Wählerinnen und Wählern verloren. Die sozialwissenschaftliche Analyse sozialstruktureller Merkmale und politischer Positionen kann diesen fehlenden Draht nicht ersetzen.

Für die SPD geht es daher darum, neue Kanäle des Zuhörens und des Dialogs zu eröffnen. Auf der kommunalen Ebene gelingt dies der Partei oft sehr gut. Bei bundespolitischen Themen gelingt es kaum. Wir schlagen deshalb vor, dass sich die SPD mit einer Vielzahl von ineinandergreifenden Instrumenten - direkte Gespräche, partizipative Dialogformate, ein professionalisierter innerparteilicher Austausch, die nachhaltigere Nutzung sozialer Medien und der verbesserte Einsatz wissenschaftlicher Methoden - zu einer werteorientierten, zuhörenden und kommunikationsfähigen Partei entwickelt. Gerade die politik- und sozialwissenschaftliche Analyse darf dabei nicht auf die - häufig wirkungslose - technische Feinjustierung der Wähleransprache in Wahlkämpfen reduziert werden. Sie wird zu einem dringend benötigten Instrument des Zuhörens, wenn sie darauf ausgerichtet ist, mit den richtigen Methoden etwas über die Werte der Menschen sowie ihre Erwartungen an wertebasierte Politik und Argumente zu lernen, und wenn diese Eindrücke dann in einer offenen aber zielführenden Debatte über das Programm der Partei berücksichtigt werden.

Zweite Säule: Dauerhafte und offene Wertedebatte in der gesamten Partei

Die SPD hat eine Grundwertekommission, und als eine Partei mit Werten hat sie in ihrer Geschichte immer wieder Wertedebatten geführt. Die Reichweite dieser Debatten war jedoch begrenzt. Wir schlagen daher auf der Grundlage einer kritischen Reflektion vorheriger Wertedebatten - von der frühen Arbeiterbewegung über Godesberg bis hin zum Berliner Programm - eine partizipative, dialogorientierte und auf Dauer angelegte Wertedebatte in der SPD vor.

Die Wertedebatte der SPD darf nicht abstrakt und akademisch sein. Sie soll konkret die Widersprüche aufgreifen, mit denen solidarisch eingestellte Menschen heute konfrontiert sind. Wo werden eigentlich die verfestigten sozialen Ungleichheiten in unserem Alltag sichtbar, wie werden sie von den Betroffenen wahrgenommen und verarbeitet, und wie können sie jenseits von abstrakten Umverteilungsdebatten zum Gegenstand des Gesprächs und gesellschaftlicher Diskussionen werden?

Ist die akademisch gebildete Mittelschicht bereit, Privilegien für sich und die eigenen Kinder abzubauen, um die Gesellschaft durchlässiger zu machen? Welche Lösungen kann Politik anbieten, um den Widerspruch zwischen Durchlässigkeit und Statuserhalt aufzulösen? Das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit sehen viele Bürgerinnen und Bürger in der Arbeitswelt und im Sozialstaat fundamental verletzt. Das Prinzip der Bedarfsgerechtigkeit finden viele grundsätzlich richtig, können es aber nicht in der Systematik unserer Arbeitsund Sozialordnung verorten. Wie kann diesen beiden zentralen Gerechtigkeitsmaßstäben Geltung verschafft werden, und wie können sie miteinander in Übereinstimmung gebracht werden? Was macht heute einen gerechten Sozialstaat aus?

Um Sicherheit, Rechtsstaat und individuelle Freiheitsrechte unabhängig vom Geldbeutel durchzusetzen, brauchen wir einen handlungsfähigen und Grenzen setzenden aber auch transparenten und regelgebundenen Staat. Welche Werte wollen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in einem modernen Rechtsstaat verwirklicht sehen? Wie praktizieren wir Solidarität in einer Welt, in der die klassischen nationalstaatlichen Institutionen dies immer weniger leisten können, während supranationale Institutionen (noch) nicht dazu in der Lage sind, diese Aufgabe zu übernehmen? Eine entlang derartiger Fragen geführte Wertedebatte wäre der bislang nicht erkennbare rote Faden des Erneuerungsprozesses der SPD. Es müsste in diesem Prozess darum gehen, aktuelle Fragen wertebezogen zu diskutieren, zuzuhören, Positionen zu entwickeln und weiterzuentwickeln, und diese Positionen zu einem gleichermaßen wertegeleiteten und zeitgemäßen politischen Programm zu verdichten.

Dritte Säule: Wertebasierte Entwicklung und Kommunikation von Politik

Um zu einer Wertepartei zu werden, muss die SPD politische Maßnahmen entwerfen, übernehmen, einfordern und verfolgen, die gleichzeitig objektiv Werte voranbringen und subjektiv als wertefördernd wahrgenommen werden. Dazu muss sich die SPD von ihrem Maßnahmenfetisch lösen. Darunter verstehen wir das Verabsolutieren von bestimmten Maßnahmen, die unabhängig von ihrer objektiven und subjektiven Wirkung in den Rang des Unantastbaren gehoben oder als symbolischer Fingerzeig für Manöver nach links oder rechts im politischen Raum genutzt werden. Modernes Regieren sollte ausgehend von einem klaren Wertebezug, der für die Wählerinnen und Wähler Berechenbarkeit und Vertrauen schafft, Offenheit gegenüber den verfügbaren Instrumenten an den Tag legen und dabei die öffentliche Wirkung stets im Blick haben. Dazu ist ein verstärkter Austausch mit Experten, NGOs, Wissenschaft und Zivilgesellschaft sowohl bei der Problemanalyse als auch bei der Entwicklung von Maßnahmen erforderlich.

Vierte Säule: Kampagnenfähigkeit zum Erreichen einer solidarischen Mehrheit entwickeln

Ziel der SPD muss es sein, Regierungsmehrheiten für eine solidarische Politik zu erlangen. Dazu braucht sie eigene Stärke, die sich aus Wahlerfolgen speist. Maßgeblich für einen Wahlerfolg ist das Ausmaß, in dem es gelingt, auf der Grundlage eines stabilen Wertegerüsts durch agile Themensetzung die Wählerinnen und Wähler mit ausgeprägt sozialdemokratischen Werten zu mobilisieren und gleichzeitig schwankende Wählerinnen und Wähler auf seine Seite zu ziehen - das solidarisch wählende Lager in der Wählerschaft also zu vergrößern. Um mit werteorientierter Politik Mehrheiten zu bilden, muss die SPD Themen mithilfe eines systematischen Instrumentariums strategisch auswählen und offensiv platzieren. Dieser Ansatz stellt eine Alternative dar sowohl zum erratischen Springen zwischen tagesaktuell auftauchenden Themen als auch zu einer Parteistrategie, die sich dem Sozialkompromissdenken entsprechend auf bestimmte symbolhafte Positionen konzentriert.[9]

Fazit

Die in den vier Säulen beschriebene Vorgehensweise würde dazu beitragen, auf diskursivem Wege eine schrittweise Fokussierung der SPD auf ihre Werte und die daraus neu zu bestimmenden konkreten Ziele, Maßnahmen und Prioritäten zu erreichen. Ein gutes Beispiel dafür, wie dieser Ansatz in der politischen Praxis funktionieren kann, ist aus unserer Sicht das Eintreten der SPD für eine bedingungslose Grundrente für alle Bürgerinnen und Bürger, die länger als 35 Jahre gearbeitet, Kinder erzogen oder Angehörige gepflegt haben. Ausgangspunkt dieser Forderung sind klare sozialdemokratische Kernwerte. Die Grundrente löst sich von anderen Maßstäben der Sozialpolitik (insbesondere die Betonung des Äquivalenzprinzips und die Fokussierung auf Beitragsstabilität), die die SPD über Jahre davon abgehalten haben, diese Forderung zu erheben. Sie greift einen Missstand auf, der das Gerechtigkeitsempfinden und das Vertrauen der Menschen in den Sozialstaat immer mehr erschüttert hat.

Ganz entscheidend für eine erfolgreiche wertebasierte Kommunikation ist der enge Zusammenhang zwischen der Grundrente und den sozialdemokratischen Kernwerten Gerechtigkeit und Solidarität. Dies erlaubt es der SPD, klar und deutlich zu kommunizieren, dass die Grundrente spürbar zur Verwirklichung dieser Werte beiträgt. Selbst Bürgerinnen und Bürger, die einer Expansion des Sozialstaats ansonsten kritisch gegenüberstehen, sehen die Forderung nach einer Grundrente eindeutig positiv. Diese Forderung, richtig in den Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung gerückt, kann also das solidarisch wählende Lager in der Wählerschaft im oben beschriebenen Sinne vergrößern.

Wenn die SPD diesen Ansatz einer Stärkung sozialer Rechte weiterverfolgt, sollte es der Partei gelingen, die notwendigen politischen Kompromisse als Etappenschritte und politische Erfolge zu verbuchen. Auch das Sozialstaatskonzept der SPD bietet eine gute Grundlage für ein wertebasiertes politisches Handeln; es braucht aber ähnliche Konkretisierungen wie dies bei der Grundrente bereits gelungen ist.

Mit der gleichen Konsequenz und Klarheit wären dann Debatten und Zuspitzungen im Bereich der Bildungspolitik, der Arbeitsmarktpolitik, der Wirtschaftspolitik, der Steuerpolitik oder der Strukturpolitik erforderlich (Stichwort gleichwertige Lebensverhältnisse). Aus historischer Perspektive betrachtet kann es der SPD durch den Wandel zu einer Partei der Werte gelingen, nach über 150 Jahren als Klassenpartei und Sozialkompromisspartei zum Kern ihrer Tradition vorzudringen.


Anmerkungen

[1] Sebastian Jobelius ist Mitglied der spw-Redaktion. Konstantin Vössing ist Politikwissenschaftler.

[2] Wir meinen also mit Kompromisspartei eine Sozialkompromisspartei. Ursprünglich war der Sozialkompromiss ein Klassenkompromiss: siehe zum Beispiel Przeworski und Sprague (1986) für eine umfassende Untersuchung des Wandels sozialdemokratischer Parteien von Klassenparteien zu Klassenkompromissparteien seit dem frühen 20. Jahrhundert. Heute sprechen die meisten von (Sozial-)kompromissen zwischen Berufsgruppen, sozialen Milieus oder Schichten.

[3] Wir stellen also nicht die Notwendigkeit von Kompromissen in der Demokratie in Frage. Wir argumentieren, dass die SPD als Wertepartei und nicht als Sozialkompromisspartei in den unverzichtbaren Prozess politischer Kompromissfindung einsteigen soll.

[4] Selbst sozialwissenschaftliche Modelle, die politisches Handeln in sozialen Strukturen verorten, teilen die Annahme, dass soziale Strukturen politische Überzeugungen nur teilweise beeinflussen, und dass politische Überzeugungen einen direkteren und größeren Einfluss auf das politische Handeln ausüben als soziale Strukturen. Vester et al. (2015) zeigen dies konkret für soziale Milieus und die dominanten politischen Überzeugungen in verschiedenen politisch-ideologischen Lagern.

[5] Siehe SPD-Parteivorstand (2019).

[6] Die insgesamt hohe Zustimmung zu sozialdemokratischen Werten lässt sich durch Umfragen sehr deutlich belegen (siehe z.B. Müller-Hilmer und Gagné 2018, S. 8). Es bedarf aber zusätzlicher empirischer Forschung, um herauszufinden, wie ausgeprägt und belastbar diese Wertehaltungen sind, zum Beispiel wenn Menschen sich zwischen konkurrierenden Werten entscheiden müssen. Empirische Grundlagen für die verwandte Frage nach Unterschieden in der Interpretation allgemeiner Werte finden sich zum Beispiel in der Darstellung verschiedener Ideen über soziale Gerechtigkeit in unterschiedlichen politisch-ideologischen Lagern bei Vester et al. (2015).

[7] Krell und Woyke (2015) zeigen dies in einer umfassenden Untersuchung über die Rolle von Wertedebatten in der historischen Entwicklung der SPD.

[8] Reinhardt und Stache (2015) zeigen, dass über Parteibindungen hinaus auch andere Formen kollektiven politischen Handelns weiterhin möglich sind und vielfach praktiziert werden.

[9] Zur systematischen Auswahl von Themen, die gleichzeitig eigene Anhänger mobilisieren und Anziehungskraft in andere politische Lager entfalten, eignet sich zum Beispiel der von de Sio und Weber (2014) entwickelte Indikator für Themenrendite (issue yield).


Literatur

De Sio, Lorenzo und Till Weber (2014) Issue Yield: A Model of Party Strategy in Multidimensional Space. American Political Science Review 108 (4): 870-885.

Evans, Geoffrey (1999) The end of class politics? Class voting in comparative context. Oxford: Oxford University Press.

Evans, Geoffrey und Nan Dirk de Graaf (2013) Political choice matters. Explaining the strength of class and religious cleavages in cross-national perspective. Oxford: Oxford University Press.

Franklin, Mark; Thomas Mackie und Henry Valen (2009) Electoral change. Responses to evolving social and attitudinal structures in Western countries (revidierte und erweiterte Fassung des Originals aus dem Jahr 1992). Colchester: ECPR Press.

Gidron, Noam und Peter Hall (2017) The politics of social status: economic and cultural roots of the populist right. British Journal of Sociology 68: S1: 57-84.

Giebler, Heiko und Sven Regel (2018) Who Votes Right-Wing Populist? Geographical and Individual Factors in Seven German State Elections. Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung.

Krell, Christian und Meik Woyke (2015) Die Grundwerte der Sozialdemokratie. In Christian Krell und Tobias Mörschel (Hg.) Politik und Werte. Wiesbaden: Springer; S. 93-137.

Müller-Hilmer, Rita und Jérémie Gagné (2018) Was verbindet, was trennt die Deutschen? Werte und Konfliktlinien in der deutschen Wählerschaft im Jahr 2017. Düsseldorf: Hans-Böckler-Stiftung.

Przeworski, Adam und John Sprague (1986) Paper Stones: a history of electoral socialism. Chicago: University of Chicago Press.

Reinhardt, Max und Stefan Stache (2015) Krisenerfahrungen zwischen solidarischen, individualistischen und autoritären Verarbeitungsformen. spw 215: 13-20.

SPD Parteivorstand (2019) Ein neuer Sozialstaat für eine neue Zeit.
https://www.spd.de/aktuelles/ein-neuer-sozialstaat-fuer-eine-neue-zeit/

Vehrkamp, Robert und Klaudia Wegschaider (2017) Populäre Wahlen. Mobilisierung und Gegenmobilisierung der sozialen Milieus bei der Bundestagswahl 2017. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung.

Vester, Michael; Peter von Oertzen, Heiko Geiling, Thomas Hermann und Dagmar Müller (2015). Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel - Zwischen Integration und Ausgrenzung. Berlin: Suhrkamp.

Vössing, Konstantin (2017) How leaders mobilize workers: social democracy, revolution, and moderate syndicalism. New York: Cambridge University Press.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 5/2019, Heft 234, Seite 70-76
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. November 2019

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